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Es war der Kellner, der die Getränke brachte. Da waren verschiedene Sorten Flaschen und Gläser, Eis und Mixgefäße. Krag bereitete die Getränke wie ein geübter Barmeister. Der Abbé saß unbeweglich dabei und sah zu. Nur das Klirren der Gläser war im Zimmer zu hören. Als aber die Mischung fertig war, erklang ein Seufzer. Es war der Abbé, der seufzte. Aber es war ein Seufzer der Erleichterung, und der Abbé ergriff das Glas.
Er ließ sich nicht die Zeit, mit den anderen anzustoßen und trank es mit einem Zuge leer. Es schien eine hochfeine Mischung zu sein, denn sein Gesicht klärte sich plötzlich auf und ein einnehmendes Lächeln spielte um seinen Mund.
»Sie sind ein Meister,« sagte er zu Krag, »was haben Sie für ein Geschäft?«
»Ich bin Arzt,« antwortete der Detektiv, »und der Herr dort ist mein Assistent.«
»Ah, man könnte eher glauben, daß Sie Apotheker seien.«
Das Glas wurde von neuem gefüllt, und er führte es an seine Lippen.
Es war, als ob seine schlummernden Seelenkräfte mit Hilfe dieses Nektartrankes zurückkehrten, oder als ob er von jenen unerforschlichen Höhen, wo seine Seele sonst schwebte, zu irdischer Alltäglichkeit zurückgekehrt sei.
»Was wollen Sie von mir?« fragte er.
»Mein Beruf als Arzt erklärt alles,« antwortete Krag. »Wie Sie sich wohl denken können, hat Ihr Verschwinden großes Aufsehen erregt.«
Der Abbé wurde wieder nachdenklich.
»Bin ich verschwunden?« fragte er erschrocken.
»Ja,« antwortete Krag. »Sie sind heute nacht um drei Uhr auf rätselhafte Weise verschwunden. Zur selben Zeit ist in Ihrer Wohnung eingebrochen und Ihre ganze Bibliothek geplündert worden.«
Der Abbé runzelte die Stirn.
»Das ist eine verfluchte Lüge!« rief er. »Davon weiß ich nichts.«
Keller fuhr auf. Dieser ausgezeichnete und solide Polizeibeamte hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, sich in höherer Priestergesellschaft zu bewegen, darum kannte er ihre Sitten nicht. Dennoch hatte er eine schwache Vorstellung davon, daß eine Sprache, wie der Abbé sie führte, für jene Kreise recht ungewöhnlich war, ebenfalls sein eingehendes Verständnis für Cocktail. Krag aber fühlte sich von dem Ausruf des Abbés nicht im geringsten aus der Fassung gebracht. Keller stellte fest, daß sein Kollege in diesem Augenblick wirklich einem Arzt glich, einem interessierten und geduldigen Arzt, der einen beschwerlichen Patienten ausfragt.
Krag sagte:
»Dennoch stimmt meine Behauptung mit der Wahrheit überein. Ich habe Verbindungen mit der Polizei und weiß daher aus sicherer Quelle, daß die Polizei der Auffassung zuneigt, daß Abbé Montrose, also Sie, ermordet worden sind.«
»Ha!« rief der Abbé und trank, » von wem,« fügte er hinzu und sah den Detektiv streng an.
»Von niemandem natürlich,« antwortete der Detektiv, mit einer verbindlichen Handbewegung, »von niemandem natürlich, da Sie ja am Leben sind. Ich sage es auch nur, um festzustellen, wie gründlich die Polizei sich irren kann. Die Polizei steht hier einem merkwürdigen Fall gegenüber und weiß weder ein noch aus. Dieser eigentümliche Fall hat mich indessen als Arzt und Psychiater nicht in Erstaunen gesetzt, denn in meiner Praxis sind schon mehrere ähnliche Fälle vorgekommen. Lieber Herr Abbé, das Resultat Ihrer umfassenden wissenschaftlichen Arbeiten zeigt, daß Ihr Leben von intensiver geistiger Arbeit erfüllt gewesen ist. Dadurch ist Ihr Gehirn nach und nach in ein hochgespanntes Stadium eingetreten, ebenso wie eine Maschine, deren Kräfte aufs äußerste ausgenutzt, in Gefahr ist, gesprengt zu werden. Ein erschütterndes Ereignis hat den Anstoß zu einem zufälligen Zusammensturz gegeben, kein Niederbruch, sondern nur eine vorübergehende Störung. Das erschütternde Ereignis war der Einbruch in Ihre Bibliothek, Sie haben einen Nervenchock bekommen, Herr Abbé, und von dem Augenblick an, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Gleichgewicht Ihres Seelenzustandes verloren.«
Der Abbé hörte Asbjörn Krags Erklärung mit fast fanatischem Interesse zu, man sah ihm deutlich an, daß sein Gehirn arbeitete, um den Sinn festzuhalten, er starrte den Detektiv die ganze Zeit an und blinzelte mit den Augen.
Dann zeigte er mit seinem Zeigefinger auf die Brust und sagte: » Ich, ich bin Abbé Montrose.«
»Daran zweifelt kein Mensch,« antwortete Krag leichthin. »Überhaupt kann niemand, der Ihr wahrhaft priesterliches Gesicht, Ihre reinen, edlen Züge sieht, daran zweifeln, daß Sie von Geburt an für die Wissenschaft und den Priesterstand bestimmt waren.«
(Ist das wirklich mein Freund Krag, dachte Keller, der sich in so banalen Sätzen ausdrückt, wie ein junges Mädchen, das schlechte Romane gelesen hat?)
Der Abbé war entzückt von Krags Worten, und sein Entzücken äußerte sich dadurch, daß er sich langsam erhob, eine posierende Stellung einnahm, und seinen Blick schwärmerisch über eine eingebildete Versammlung schweifen ließ. Gleich darauf aber erschlaffte er wieder und fing von neuem an mit den Augen zu blinzeln, als ob er sich bemühte, eine Vorstellung festzuhalten. Darauf ließ er sich schwerfällig auf den Stuhl fallen und sagte überwältigt:
»Tod und Teufel!«
Dann streckte er dem Detektiv seine Hand entgegen, die dieser lange und warm drückte.
»Und sollte jemand,« sagte Krag, »sich erdreisten, daran zu zweifeln, daß Sie wirklich Abbé Montrose sind – ich meine, daran zweifeln, während Ihr Gleichgewicht gestört ist, so haben Sie sicher Beweise in Händen, daß Sie der aristokratische und vornehme Gelehrte sind, wofür Sie sich ausgeben.«
Keller begann jetzt zu verstehen, wo Krag hinwollte. Und er hörte seinem seltsamen Geschwätz mit größerem Interesse zu.
Der Abbé tastete auf seiner Brust nach einem kleinen Medaillon, das an einer dünnen Goldkette befestigt war, die auf dem schwarzen Tuch blitzte.
Er zeigte Krag das Medaillon.
Die Buchstaben A. M. waren eingraviert.
»Armand Montrose,« flüsterte der Abbé geheimnisvoll, »das bin ich.«
Krag öffnete das Medaillon. Es war leer.
Der Abbé nickte.
»Können Sie sehen, daß es leer ist,« flüsterte er, als ob diese Tatsache eine wertvolle Aufklärung enthielte. »Aber ich habe noch andere Dinge,« fügte er hinzu, »ich weiß, wo alles liegt.«
»Wo was liegt?«
Die Antwort des Abbé verriet, daß es gewisse Worte gibt, auf die ein Mensch, der nicht im Besitz seines geistigen Gleichgewichts ist, sich lieber nicht einlassen sollte. Er sagte:
»Die Kospenz.«
Da er aber selbst merkte, daß dieses Wort allerhand an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ, wiederholte er langsam, mit Nachdruck auf jedem Wort – als wenn ein Mensch nach einem Beinbruch zum ersten Male vorsichtig eine Treppe hinuntergeht –:
»Die Korrespondenz.«
»Aha, Sie haben Briefe, darf ich sie sehen?« sagte Krag und streckte die Hand aus.
Der Abbé erhob sich.
»Nicht hier,« sagte er, »ich werde sie holen, sie sind auf Nummer 333, –«
Wie er die Nummer aussprach, schien sie mindestens drei Millionen und mehrere Hunderttausende zu enthalten.
»Ich werde Sie begleiten,« sagte Krag.
Da aber machte der Abbé eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Das wollte er nicht. Indessen würde er gleich zurückkommen. Das Zimmer läge ja nur drei Türen von hier entfernt, nur drei Türen. Damit verschwand er.
Als die beiden Detektive allein geblieben waren, beugte Krag den Kopf und lachte.
»Glauben Sie, daß er zurückfindet?« fragte Keller.
Krag lauschte in dem offenen Türspalt.
»Ich höre, daß er jetzt in sein Zimmer gegangen ist,« sagte er, »aber es wird wohl eine Weile dauern, bis er die Briefe gefunden hat.«
»Was meinten Sie damit, daß seine Seele nicht im Gleichgewicht ist,« fragte Keller. »Mich dünkt, daß ist ein sehr milder Ausdruck.«
»Viel zu milde,« antwortete Krag, »er ist ganz einfach betrunken, total betrunken.«
Keller schüttelte bedenklich den Kopf.
»Ein merkwürdiger Abbé,« sagte er, »ein äußerst seltsamer Mann Gottes.«
»Nannten Sie ihn Abbé?« fragte Krag und lachte wieder.
»Sollte es vielleicht gar nicht Abbé Montrose gewesen sein!«
»Nein, sicher nicht.«
»Zum Teufel, wer ist es aber dann gewesen?«
»Das werden wir gleich erfahren,« antwortete Krag und öffnete die Tür ganz. »Er bleibt übrigens lange fort, wir wollen ihn lieber aufsuchen.«
In dem Augenblick, als die beiden Polizeibeamten aus der Tür traten, ging ein Mann auf dem Korridor an ihnen vorbei.
Es war der Mann mit dem Gefängnisgesicht.
Er ging über den Teppich mit jenem eigentümlichen, regelmäßigen, schleichenden Gang, der Gefangene kennzeichnet, die lange im Gefängnis gesessen haben und deren einzige Bewegung der Spaziergang auf dem Gefängnishof und das Hin- und Hertraben in ihrer engen Zelle gewesen ist.
Der Teppich aber dämpfte seine Schritte, und sein plötzliches Erscheinen, sein bleiches Gesicht mit den kalten, in sich gekehrten Augen, machte solch unheimlichen Eindruck, daß Keller ein Hu! nicht unterdrücken konnte.
Das hörte der Mann. Er drehte sich um und sah sie an. Die ungewöhnliche Blässe seines Gesichtes schien die Dimensionen desselben gleichsam zu erweitern, so daß es in dem dunklen Korridor unnatürlich groß erschien. Er sagte aber nichts, sah sie nur an und ging auf dieselbe schleichende Weise weiter, bis er in der Dunkelheit des Korridors verschwand.
Sein Auftauchen hatte nicht allein einen Eindruck von Grauen, sondern auch von Gefahr hinterlassen. Die beiden Polizeibeamten eilten auf Nummer 333 zu und klopften an. Als keine Antwort erfolgte, rissen sie die Tür auf. Drinnen im Zimmer saß der Abbé tot in einem Stuhl.