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Das Motto zu Kapitel 20:
A child forsaken, waking suddenly,
Whose gaze afeard on all things round doth rove,
And seeth only that it cannot see
The meeting eyes of love.
Zwei Stunden später saß Dorothea in einem inneren Gemach oder Boudoir eines schönen Apartements in der Via Sistina.
Leider muß ich hinzufügen, daß sie ihrem gepreßten Herzen durch bittere Thränen Luft machte, wie eine Frau, deren Stolz und Rücksicht auf Andere ihr gewöhnlich die Kraft der Selbstbeherrschung verleihen, sie sich wohl einmal gestattet, wenn sie sich völlig allein weiß. In diesem Augenblicke war sie sicher, daß Casaubon noch nicht sobald aus dem Vatikan zurückkehren werde.
Und doch hatte Dorothea keinen besondern Kummer, von welchem sie sich selbst deutliche Rechenschaft hätte geben können, und das dunkle Bewußtsein, welches inmitten ihrer verwirrten Gedanken und leidenschaftlichen Gefühle in ihr nach Klarheit rang, war ein Schrei der Selbstanklage, daß die Armuth ihrer Seele daran schuld sei, wenn sie sich vereinsamt fühle.
Sie hatte den Mann ihrer Wahl geheirathet und war gegen die meisten jungen Frauen darin im Vortheil, daß sie ihre Ehe von Anfang an aus dem Gesichtspunkte der Uebernahme neuer Pflichten betrachtet hatte. Auch hatte sie vom ersten Momente ihrer Bekanntschaft mit Casaubon an seinen Geist dem ihrigen für so weit überlegen angesehen, daß sie sich darauf gefaßt gemacht hatte, ihn oft durch Studien in Anspruch genommen zu sehen, an welchen sie sich nicht vollständig würde betheiligen können; und endlich war es ihr nach den kurzen beschränkten Erfahrungen ihrer Mädchenjahre vergönnt Rom zu sehen, diesen Ort der sichtbaren Geschichte, wo die Vergangenheit einer ganzen Welt gleichsam wie ein Leichenzug mit merkwürdigen Bildnissen der Vorfahren und mit aus den fernsten Gegenden gesammelten Trophäen an uns vorüberzuziehen scheint.
Aber gerade das Gewaltige dieser Fragmente der Vergangenheit war nur geeignet, das traumartig Ungewohnte ihres jungen ehelichen Lebens noch zu steigern. Dorothea war nun seit fünf Wochen in Rom; während dieser Zeit war sie in den freundlichen Morgenstunden, wo Herbst und Winter Hand in Hand wie ein Paar glückliche Alte – von welchen der Eine bald den Andern in kalter Einsamkeit zurücklassen wird –, einherzugehen scheinen, anfänglich mit Herrn Casaubon, seit Kurzem aber meistens mit Tantripp und ihrem erfahrenen Courier umhergefahren. Man hatte sie durch die schönsten Gallerien geführt, hatte ihr die herrlichsten Aussichtspunkte, die grandiosesten Ruinen und die prachtvollsten Kirchen gezeigt, und sie war schließlich dahin gelangt, sich am liebsten in die Campagna fahren zu lassen, wo sie mit Himmel und Erde allein sein konnte und sich fern von der bedrückenden Maskerade der Jahrhunderte fühlte, in welcher ihr auch ihr eigenes Leben zu einer räthselhaften Maske zu werden schien.
Für diejenigen, welche Rom mit der belebenden Kraft eines Wissens sehen, welches allen geschichtlichen Gestalten eine Seele einzuhauchen und durch Wiederherstellung der verlorenen Mittelglieder die Contraste aufzuheben weiß, mag Rom noch heute als der geistige Mittelpunkt und Dolmetscher der Welt gelten. Aber doch werden auch diese ihr Auge nicht vor dem frappanten historischen Gegensatze verschließen wollen, welcher darin lag, daß die riesigen trümmerhaften Offenbarungen dieser Stadt der Kaiser und der Päpste plötzlich in den Vorstellungskreis eines Mädchens hereinbrachen, welches in englischem und schweizerischem Puritanismus erzogen, mit mageren protestantischen Geschichten und einer wesentlich dem Genre der Lichtschirmbilder angehörenden Kunst genährt worden war, eines Mädchens, welches all ihr Bischen bescheidenes Wissen in Grundsätze verwandelte und ihre Handlungen nach diesen Grundsätzen modelte und welches in seiner erregbaren Natur die abstractesten Begriffe nur aus dem Gesichtspunkte freudiger oder schmerzlicher Gefühle zu fassen vermochte, – eines Mädchens, welches kürzlich zur Frau geworden war und sich nun aus der Höhe ihrer reinen Begeisterung für die Erfüllung noch unerprobter Pflichten in einen Tumult von Empfindungen über ihr eigenes Loos gestürzt sah.
Die Gewalt der Eindrücke, mit welchen dieses Rom auf den Uneingeweihten einstürmt, mochte als eine leichte Last von den eleganten und reizenden Frauen der großen Welt empfunden werden, für welche Alles einen interessanten Hintergrund bei dem hier stattfindenden glänzenden Zusammenfluß von Ausländern bildete; aber Dorotheen fehlte es an einem solchen Ableiter tiefer Eindrücke. Ruinen und Basiliken, Paläste und Colosse inmitten einer schmutzigen Gegenwart, in welcher das lebende Geschlecht in die tiefste Entartung eines von ächter Frömmigkeit ganz entblößten Aberglaubens versunken schien; das schwächere, aber doch noch gewaltige titanische Leben, welches den Beschauer von Wänden und Decken herab ringend anstarrt, die langen Reihen weißer Gestalten, aus deren marmornen Augen das eintönige Licht einer fremden Welt zu leuchten schien, – diese ganze riesige Ruine ehrgeiziger, sinnlicher und geistiger Ideale in ihrer wüsten Mischung mit den Symptomen lebender Verkommenheit wirkte im ersten Augenblick auf Dorothea wie ein elektrischer Schlag und verursachte ihr in der Folge jenen Schmerz der Uebersättigung mit verwirrten Ideen, welche den Strom der Empfindung hemmt.
Bleiche und doch glühende Gestalten bemächtigten sich ihrer jungen Sinne, traten ihr vor die Seele, selbst wenn sie nicht an sie dachte, und riefen noch in späteren Jahren wunderliche Ideenassociationen in ihr hervor. Unsere wechselnden Stimmungen führen uns Bilder vor die Seele, welche sich einander ablösen wie die Bilder einer Zauberlaterne; so sah Dorothea ihr Lebelang in gewissen Zuständen stumpfer Selbstvergessenheit vor ihrem innern Auge die colossalen Räume von St. Peter, den riesigen broncenen Baldachin, die Gewänder und leidenschaftlichen Bewegungen der Propheten und Evangelisten auf den Mosaiken und die rothen Draperien, mit welchen zu Weihnacht die Wände der Kirche verhängt werden und welche dem Auge des Beschauers Schmerzen verursachen.
Uebrigens war diese innere Fassungslosigkeit Dorotheen's eine durchaus nicht exceptionelle Erscheinung; viele jugendliche Seelen werden unbewehrt hinausgestoßen in eine Welt voll widerspruchsvoller Erscheinungen und müssen sich darin, so gut es gehen will, zurechtfinden, während die älteren Leute rings umher ruhig ihren Geschäften nachgehen. Auch erwarte ich nicht, daß man die Situation, in welcher wir Frau Casaubon sechs Wochen nach ihrer Hochzeit weinend erblicken, tragisch finden wird. Eine gewisse Entmuthigung, gewisse kummervolle Empfindungen in dem Augenblick, wo die wirkliche Zukunft an die Stelle der eingebildeten tritt, sind nichts Ungewöhnliches, und wir dürfen nicht erwarten, daß die Leute sich von etwas nicht Ungewöhnlichem tief ergriffen fühlen.
Das tragische Element, welches in der bloßen Thatsache des häufigen Vorkommens gewisser Dinge liegt, ist noch kein Bestandtheil des allgemeinen Empfindens der Menschheit geworden, und vielleicht würden auch unsere Nerven nicht viel davon ertragen. Wenn uns das gewöhnliche menschliche Leben in seiner ganzen Bedeutung immer gegenwärtig wäre, so würde das für uns sein, wie wenn wir das Gras wachsen und das Herz des Eichhörnchens schlagen hörten, und wir würden an dem dumpfen Getöse, das wir vernehmen müßten, wo uns jetzt Schweigen umgiebt, zu Grunde gehen. Jetzt gehen die Feinfühlendsten wie mit wattirtem Stumpfsinn bekleidet umher.
Indessen Dorothea weinte, und wenn man sie aufgefordert hätte, die Ursache ihrer Thränen anzugeben, so würde sie das nicht anders als in einigen der von mir angeführten allgemeinen Ausdrücke haben thun können. Wenn man sie gedrängt hätte, sich eingehender auszusprechen, so würde ihr das erschienen sein wie die Zumuthung, eine Geschichte des Lichtes und des Schattens zu geben. Denn die wirkliche Zukunft, welche für sie jetzt eben an die Stelle der eingebildeten zu treten anfing, setzte sich aus einer Fülle kleiner Momente zusammen, durch welche ihre Vorstellungen von Casaubon und ihr Verhältniß zu ihm seit ihrer Verheirathung ganz allmälig wie mit der geheimen Bewegung eines Zeigers ihre von dem Mädchen geträumte Gestalt veränderten.
Es war noch zu früh, als daß sie die Veränderung in ihrem vollen Umfange hätte ermessen oder doch sich zugestehen sollen, und noch viel zu früh, um sie das Bedürfniß empfinden zu lassen, sich wieder ganz mit der Ergebung zu erfüllen, welche einen so nothwendigen Bestandtheil ihres geistigen Lebens bildete, daß sie fast sicher war, dieselbe früher oder später wiederzuerlangen. Ein Zustand beständiger Auflehnung, ein Leben ohne Liebe und Ehrfurcht waren für sie undenkbar, aber augenblicklich befand sie sich in einem Zwischenstadium, in welchem gerade die Kraft ihrer Natur ihre Verwirrung steigerte. Auf diese Weise sind die ersten Monate der Ehe oft Zeiten eines kritischen Sturmes, bald in einem Teiche, bald in tieferen Gewässern, welcher sich später wieder legt und einer heiteren Ruhe Platz macht.
Aber war nicht Casaubon noch ebenso gelehrt wie früher? Hatte sich seine Ausdrucksweise geändert, oder waren seine Gesinnungen weniger löblich geworden? O über die weibliche Launenhaftigkeit! Versagte ihm sein chronologisches Gedächtniß oder seine Fähigkeit, eine Theorie nicht nur zu entwickeln, sondern auch die Urheber derselben zu nennen und über die entscheidenden Punkte jeder Frage auf Verlangen Auskunft zu geben? Und war nicht Rom mehr als irgend ein anderer Ort in der Welt dazu gemacht, solchen Fähigkeiten Gelegenheit zu ihrer freiesten Entfaltung zu bieten? Ueberdies, hatte nicht Dorotheen's Enthusiasmus mit besonderer Vorliebe bei der Aussicht verweilt, die Last und vielleicht die trübe Stimmung zu erleichtern, mit welchen große Aufgaben den drücken, der sie zu lösen hat? Und daß Casaubon sich von einer solchen Last bedrückt fühlte, war jetzt nur noch klarer als früher.
Das alles waren vernichtende Fragen, aber, wenn auch die Gegenstände dieselben waren, so hatte sich doch ihre Beleuchtung verändert und Niemand kann vom hellen Mittage die Eindrücke der thauichten Morgendämmerung empfangen. So viel steht fest, daß ein Sterblicher, mit dessen Natur wir nur durch die kurzen Begegnungen weniger Wochen eines Phantasielebens, welches wir den Brautstand nennen, bekannt geworden sind, sich während des fortdauernden ehelichen Zusammenlebens leichtlich als ein Besserer oder Schlechterer, sicherlich aber als ein etwas Anderer enthüllen wird, als wir ihn uns vorgestellt hätten. Und wir würden erstaunt darüber sein, wie bald sich dieser Wechsel fühlbar macht, wenn sich uns nicht verwandte Veränderungen zum Vergleich darböten. Der Eintritt unseres politischen Lieblings, welchen wir bis dahin nur als glänzenden Redner bei der Tafel gekannt hatten, in ein Ministerium kann zu einer eben so raschen Veränderung unseres Urtheils führen; auch in solchen Fällen fangen wir damit an von dem Betreffenden wenig zu wissen und viel zu glauben, und hören bisweilen damit auf, das Verhältniß umzukehren.
Und doch wären solche Vergleiche in unserem Falle verleitlich, denn kein Mensch war eines oberflächlichen Scheinthuns weniger fähig als Casaubon; er war ein durchaus echter Charakter und hatte sicherlich mit Bewußtsein nichts dazu beigetragen, illusorische Vorstellungen von seinem Wesen zu erwecken. Wie kam es also, daß Dorothea, seit sie verheirathet war, zwar nicht klar beobachtete, aber mit einer beklemmenden Niedergeschlagenheit empfand, daß da, wo sie in dem Geiste ihres Gatten freie von einem belebenden Luftstrom durchwehte Aussichten zu finden geträumt hatte, nur Vorzimmer und enge Corridors ohne Ausgang zu sein schienen?
Ich erkläre es mir daraus, daß im Brautstande Alles als provisorisch und vorläufig betrachtet und in jeder kleinsten Probe einer Tugend oder einer Fähigkeit eine sichere Gewähr für das Vorhandensein köstlicher Vorräthe gefunden wird, welche in der langen Muße der Ehe an den Tag kommen müßten. Aber wenn die Schwelle der Ehe einmal überschritten ist, verwandelt sich alsbald die unbestimmte Hoffnung auf das Zukünftige in eine bestimmte auf die Gegenwart gerichtete Erwartung. Wenn Ihr Euch einmal auf dem Fahrzeuge der Ehe eingeschifft habt, so könnt Ihr nicht umhin, alsbald gewahr zu werden, daß Ihr nicht von der Stelle kommt und daß das Meer gar nicht vor Euch liegt, daß Ihr Euch in Wahrheit nur auf einem engen Bassin hin- und herbewegt.
In ihren Unterhaltungen vor der Ehe hatte Casaubon oft bei Erklärungen zweifelhafter Nebenpunkte verweilt, deren Bedeutung Dorothea nicht begriff; aber dieses unvollkommene Verständniß glaubte sie auf Rechnung ihres nur gelegentlichen Verkehrs mit Casaubon setzen zu müssen, und mit feuriger Geduld hatte sie, von dem Glauben an ihre Zukunft getragen, einer Aufzählung möglicher Einwendungen gegen die ganz neuen Ansichten Casaubon's über den Philistergott Dagon und andere Götzen in der Ueberzeugung zugehört, daß sie später diese Gegenstände, die ihm so sehr am Herzen lagen, aus demselben hohen Gesichtspunkte, welcher ihm dieselben ohne Zweifel so bedeutend erscheinen ließ, anzusehen lernen werde.
Andererseits hatte sich auch seine Art, dasjenige, was sie am tiefsten bewegte, wie etwas Selbstverständliches und keiner weitern Erörterung Werthes zu behandeln, leicht aus der Hast und Preoccupation, an denen sie selbst während ihres Brautstandes litt, erklären lassen. Aber jetzt, seit sie in Rom waren, wo ihr ganzes Gefühlsleben im Tiefsten aufgeregt wurde und wo ihr das Leben durch neue Eindrücke als ein neues Problem erschien, war sie mehr und mehr mit einem gewissen Entsetzen inne geworden, daß ihr Gemüth unaufhörlich zwischen krankhaften Regungen von Zorn oder Widerwillen und einem Zustande matter Selbstvergessenheit schwankte.
Inwiefern der scharfsinnige Hooker oder irgend ein anderer Heros der Gelehrsamkeit in Casaubon's Alter ebenso gewesen sein würde wie er, das wußte sie nicht, so daß sie ihm den Vortheil eines möglicherweise für ihn günstigen Vergleichs nicht zu Gute kommen, lassen konnte; aber die Art ihres Gatten, die sie umgebenden Dinge, von welchen sie so wunderbare Eindrücke empfing, zu commentiren, wirkte nachgrade auf sie wie ein geistiges Frösteln, er hatte vielleicht die beste Absicht, sich seiner Aufgabe als ihr Führer auf würdige Weise zu entledigen, aber auch nur sich derselben zu entledigen. Was für sie neu war, war für ihn etwas Altes, und was durch das allgemeine Leben der Menschheit jemals an Gedanken und Gefühlen in ihm aufgeregt worden war, das war doch nun schon längst zu einer Art von getrocknetem Präparat, zu einer einbalsamirten Wissensmumie geworden.
Wenn er gelegentlich zu ihr sagte: »Interessirt Dich das, Dorothea? Wollen wir noch ein wenig verweilen? Ich bin bereit noch zu bleiben, wenn Du es wünschest,« so war ihr zu Muthe, als wäre Bleiben oder Gehen beides gleich trübselig.
Ein anderes Mal fragte er sie: »Hast Du Lust nach der Farnesina zu gehen, Dorothea? sie enthält berühmte, von Raphael gezeichnete oder gemalte Fresken, welche die meisten Leute der Mühe eines Besuchs für werth halten.«
Dorothea begegnete dieser Frage mit der anderen: »Hältst Du etwas von diesen Fresken?«
Worauf er erwiderte: »Sie werden, glaube ich sehr geschätzt. Einige von ihnen stellen die Fabel von Amor und Psyche vor, welche wahrscheinlich der romantischen Erfindung eines literarischen Zeitalters ihren Ursprung verdankt und, glaube ich, nicht als ein ächtes Erzeugniß des Mythus betrachtet werden kann. Aber wenn Du Geschmack an solchen Wandmalereien findest, so können wir leicht hinfahren und Du wirst dann, glaube ich, die Hauptwerke Raphaels, von welchen bei einem Besuche Roms eines nicht gesehen zu haben schade wäre, kennen gelernt haben. Er ist der Maler, welcher dafür gilt, die vollkommenste Grazie der Form mit Erhabenheit des Ausdrucks zu vereinigen. Das wenigstens ist, soweit ich es habe ermitteln können, die Ansicht der Kenner.«
Diese Art von Antworten, welche er in einem abgemessenen officiellen Ton, wie ein Geistlicher, der seinen Bibeltext verliest, gab, waren nicht geeignet, Dorotheen die Herrlichkeiten der ewigen Stadt genießbarer zu machen oder sie mit der Hoffnung zu erfüllen, daß ihr, wenn sie ein besseres Verständniß jener Werke hätte, die Welt in einem heitreren Lichte erscheinen würde. Es giebt für ein junges feuriges Wesen kaum etwas deprimirenderes, als die Berührung mit einem Geiste, in welchem ein Jahrelang aufgehäuftes Wissen zu einer vollständigen Abwesenheit, jedes Interesses und jeder Sympathie geführt hat.
Mit anderen Gegenständen beschäftigte sich Casaubon allerdings mit einer Beharrlichkeit und einem Eifer, welche gewöhnlich für den Ausfluß einer ächten Begeisterung gelten, und Dorothea war eifrigst bemüht, ihm in der Richtung dieser seiner eigenen Gedanken zu folgen, um nicht fühlen zu müssen, daß sie ihn von denselben abziehe. Aber sie wurde allmälig inne, daß sie auf die früher mit so begeisterter Zuversicht gehegte Erwartung verzichten müsse, da, wo sie ihrem Gatten auf seinem eigensten Gebiete folgte, irgend höhere Gesichtspunkte zu gewinnen.
Der arme Casaubon selbst verirrte sich in einem Labyrinth kleiner Untersuchungen und verlor in der Aufregung eines ihm vermeintlich aufgegangenen trüben Lichtes über die Kabyren Samothrakische Fruchtbarkeitsgötter. – Anm.d.Hrsg. oder in Erörterungen über die unüberlegten Parallelen anderer Mythologen leicht die Zwecke, welche ihn zu diesen Arbeiten veranlaßt hatten, ganz aus den Augen. Mit seiner mattbrennenden Kerze vor sich vergaß er ganz, daß er sich in fensterlosen Räumen bewege, und während er sich bittere Bemerkungen über die falschen Vorstellungen Anderer in Betreff der Sonnengottheiten notirte, war er selbst gegen das Licht der Sonne gleichgültig geworden.
Diese für Casaubon's Wesen höchst charakteristischen Züge würden Dorotheen vielleicht noch länger entgangen sein, wenn sie von ihm ermuthigt worden wäre, die Gefühle, welche sie als Mädchen und junge Frau bewegten, rückhaltlos gegen ihn auszusprechen, wenn er ihre Hände in die seinigen genommen, sich mit zärtlichem, verständnißinnigem Entzücken alle die kleinen Erlebnisse ihrer Vergangenheit von ihr hätte erzählen lassen, und ihr einen ebenso vertraulichen Einblick in seine Vergangenheit gewährt hätte, so daß Beider vergangenes Leben zu einem Bestandtheil ihres beiderseitigen Liebens und Wissens geworden wäre, oder wenn sie ihre Liebe mit jenen kindischen Liebkosungen hätte nähren können, nach welchem es jedes zärtliche Weib verlangt, das ja schon als Kind den harten Schädel seiner kahlen Puppe mit Küssen überschüttet und aus der Fülle seiner Liebe heraus dem Holzklotz eine glückliche Seele eingehaucht hat.
Danach verlangte es auch Dorothea. Bei all ihrer Sehnsucht, in geistige Fernen zu dringen und die ganze Menschheit liebend zu umfassen, war sie doch auch so feuriger Empfindungen für das Nächstliegende fähig, daß sie gern Casaubon's Rockärmel geküßt oder seine Schuhschnallen geliebkost haben würde, wenn er es sich nur ein wenig anders hätte gefallen lassen wollen, als daß er sie bei solchen Gelegenheiten mit seiner nie versagenden Artigkeit, für eine sehr zärtliche und ächt weibliche Natur erklärte, während er gleichzeitig höflich einen Stuhl für sie heranrückte und dadurch zu erkennen gab, daß ihm diese ungestümen Kundgebungen der Zärtlichkeit unbehaglich seien. Nachdem er einmal des Morgens seine geistliche Toilette sorgfältig gemacht hatte, war er nur noch solchen Annehmlichkeiten des Lebens zugänglich, welche sich mit der enganliegenden steifen Halsbinde jener Zeit und mit der Stimmung eines Gemüths vertragen, auf welchem so viel unveröffentlichtes Material lastete.
Und in einem melancholischen Gegensatze erschienen Dorotheen's Ideen und Entschlüsse wie schmelzendes Eis, das in der warmen Fluth, dessen Bestandtheil es nur in einer andern Form bildet, umhertreibt und sich darin verliert. Sie erkannte mit tiefster Beschämung, daß sie ganz von Empfindung beherrscht sei und Alles nur durch dieses Medium in sich aufnehmen könne; ihre ganze Kraft zersplitterte sich in krampfhaften Zuckungen der Aufregung, des Kampfes und der Verzagtheit und dann wieder in Anwandlungen einer noch unbedingteren Resignation, welche ihr alle an sie herantretenden harten Zumuthungen als Pflichten erscheinen ließ.
Die arme Dorothea! sie war gewiß bisweilen lästig – besonders für sich selbst, aber diesen Morgen war sie zum ersten Mal auch Casaubon lästig gewesen. Sie war mit dem festen Entschluß beim Frühstück erschienen, das, was sie für ihre Selbstsucht hielt, abzuschütteln, und hörte ihrem Gatten mit dem Ausdruck der heitersten Aufmerksamkeit zu, als er sagte:
»Liebe Dorothea, wir müssen jetzt Alles, was uns hier noch zu thun übrig bleibt, mit dem Gedanken an unsere bevorstehende Abreise erledigen. Ich wäre gern schon früher abgereist, damit wir zum Weihnachtsfeste wieder in Lowick hätten sein können; aber meine Untersuchungen hier haben sich länger hingezogen, als ich vorausgesehen hatte. Ich hoffe indessen zuversichtlich, daß Du Deine Zeit hier nicht unangenehm zugebracht hast. Unter den Sehenswürdigkeiten Europas hat Rom von jeher für eine der merkwürdigsten und in einigen Beziehungen erhebendsten gegolten. Ich erinnere mich noch sehr wohl, daß ich es als eine Epoche in meinem Leben betrachtete, als ich Rom zum ersten Mal nach dem Sturze Napoleons, einem Ereigniß, welches den Continent wieder für Reisende öffnete, besuchte. Ich glaube, es ist eine von den Städten, auf welche man einen höchst hyperbolischen Ausdruck angewendet hat: ›Rom sehen und sterben!‹ Aber in Deinem Falle möchte ich dieses Wort mit einer durchgreifenden Aenderung anwenden und sagen: Rom als jungverheirathete Frau sehen und dann als glückliches Weib leben.«
Casaubon hielt diese kleine Rede mit der bewußtesten Absicht, indem er dabei ein wenig mit den Augen blinzelte, den Kopf hin und her wiegte und mit einem Lächeln endigte. Er hatte zwar in der Ehe keinen Zustand von überschwänglicher Glückseligkeit gefunden, aber er wußte nicht anders, als daß er ein tadelloser Ehemann sei, der ein reizendes junges Weib so glücklich machen würde, wie sie es zu sein verdiene.
»Ich hoffe Du bist durch unsern Aufenthalt völlig befriedigt, ich meine mit den Ergebnissen desselben für Deine Studien,« sagte Dorothea, indem sie es versuchte, nur an das zu denken, was ihren Gatten am meisten interessirte.
»Ja,« erwiderte Casaubon mit jener eigenen Betonung, welche das Wort zu einer halben Verneinung macht. »Ich bin durch meine Studien weiter geführt worden, als ich vorausgesehen hatte, und verschiedene Gegenstände, die ich, wenn ich ihrer auch nicht gradezu bedarf, doch nicht gut unbenutzt vorübergehen lassen konnte, haben mir neuen Stoff zu Anmerkungen geboten. Die Aufgabe war, trotz der Hülfe meines Amanuensis eine recht mühsame, aber Deine Gesellschaft hat mich glücklicherweise vor jener zu unausgesetzten Gedankenarbeit über die Stunden des Studiums hinaus bewahrt, welcher ich mich in meinem Junggesellenleben nicht zu entziehen vermochte.«
»Es freut mich sehr, daß meine Gegenwart eine Veränderung in Dein Leben gebracht hat,« sagte Dorothea, welcher die lebhafte Erinnerung an manche Abende vorschwebte, wo es ihr vorgekommen war, als ob Casaubon's Geist sich während des Tages zu tief versenkt habe, um wieder an die Oberfläche gelangen zu können. Ich fürchte, ihre Antwort war nicht frei von einem Anfluge von Uebellaune. »Ich hoffe, wenn wir nach Lowick zurückkommen, werde ich mich Dir nützlicher machen und etwas tiefer in das eindringen können, was Dich interessirt.«
»Ohne Zweifel,« sagte Casaubon mit einer leichten Verbeugung. »Die Notizen, welche ich mir hier gemacht habe, werden der Sichtung bedürfen, und Du kannst mir, wenn Du so gut sein willst, unter meiner Leitung einen Auszug aus denselben machen.«
»Und alle Deine Notizen,« sagte Dorothea, deren Herz schon lange so voll von diesem Gegenstande war, daß sie ihrer Zunge jetzt nicht zu wehren vermochte, es auszusprechen, »diese Reihe von Bänden – willst Du jetzt nicht damit thun, was Du als Deine Absicht zu bezeichnen pflegtest? willst Du nicht darüber mit Dir ins Reine kommen, wieviel davon Du benutzen willst, und willst Du nicht anfangen, das Buch zu schreiben, welches Dein reiches Wissen der Welt zu Gute kommen lassen wird? Ich will nach Deinem Dictat schreiben, oder nach Deiner Anweisung copiren und Auszüge machen, etwas Anderes kann ich Dir ja nicht leisten.«
In einer jener unerklärlichen Anwandlungen, die in das dunkle Gebiet der weiblichen Organisation gehören, schloß Dorothea mit einem leichten Seufzer, während ihre Augen sich mit Thränen füllten.
Dieser heftige Gefühlsausbruch würde schon an und für sich Casaubon höchst unangenehm gewesen sein, aber noch andere Gründe machten, daß Dorothea nichts für ihn Verletzenderes und Aufregenderes hätte sagen können. Sie war ebenso blind gegen seine innern Kämpfe, wie er gegen die ihrigen, sie hatte noch nicht jene verborgenen Conflicte im Innern ihres Gatten kennen gelernt, welche unser Mitleid fordern. Sie hatte noch nicht geduldig auf seine Herzschläge gehorcht, sondern nur gefühlt, daß ihr eigenes Herz heftig klopfe.
In Casaubon's Ohr erklang aus Dorotheen's Worten nur eine laute emphatische Wiederholung jener leisen Regungen seines Bewußtseins, welche er sich, so lange sie von ihm nur in seinem Innern vernommen wurden, als reine Grillen, als die Gebilde einer krankhaften Erregbarkeit hatte erklären können, welche er aber jetzt, wie es immer zu geschehen pflegt, wenn die Mahnungen solcher innern Stimmen unzweideutig von Außen her wiederholt werden, widerwillig als grausam und ungerecht aufnahm.
Wir empfinden es schmerzlich, selbst wenn unsere demüthigenden Bekenntnisse ohne Widerspruch angehört werden – wieviel schmerzlicher muß es uns nicht berühren, wenn wir von den Lippen eines uns nahestehenden Beobachters in harten, scharfen Worten hören, was wir bis dahin nur als jenes dumpfe, wirre Gemurmel vernahmen, welches wir krankhaft zu nennen versuchen, und gegen das wir ankämpfen, als ob es der Vorbote der Erstarrung wäre.
Und dieser grausame Ankläger stand jetzt vor ihm in der Gestalt seines eigenen, ihm erst so kürzlich angetrauten Weibes, welches, anstatt seine Unmassen von bekritzeltem Papier mit der unkritischen Ehrfurcht einer eleganten Puppe zu betrachten, sich als einen Spion zu enthüllen schien, welcher Alles mit einer boshaften Fähigkeit der Schlußfolgerung beobachtete.
Hier in Betreff dieses Punktes war Casaubon von einer Reizbarkeit, welche der Dorotheen's nichts nachgab und ebenso geneigt wie sie, hinter einer Thatsache oder einer Aeußerung mehr zu suchen, als sie in Wahrheit bedeutete. Er hatte früher Dorotheen's Fähigkeit, ihre Verehrung würdigen Gegenständen zuzuwenden, beifällig beobachtet, jetzt sah er mit Schrecken voraus, daß diese Fähigkeit sich leicht in Anmaßung, diese Verehrung leicht in das unleidlichste aller kritischen Vermögen, in eine Kritik verwandeln könne, welcher eine große Menge schöner Zwecke unbestimmt vorschweben, ohne daß sie die leiseste Ahnung davon hätte, was es kostet, diese Zwecke zu erreichen. Zum ersten Male, seit sie ihn kennen gelernt hatte, sah Dorothea auf Casaubon's Gesicht eine rasche Zornesröthe aufflammen.
»Liebes Kind,« sagte er mit einer, durch das Gefühl der Schicklichkeit in Zaum gehaltenen Gereiztheit, »Du kannst es mir getrost überlassen zu beurtheilen, wann der rechte Moment für die verschiedenen Stadien eines Werkes gekommen sein wird, dessen Dauer nicht nach den oberflächlichen Vermuthungen unwissender Zuschauer bemessen werden darf. Es würde mir leicht gewesen sein, durch die Spiegelfechterei mit grundlosen Ansichten eine vorübergehende Wirkung zu erzielen; aber jeder gewissenhafte Forscher muß die Aeußerungen höhnischer Ungeduld von Schwätzern über sich ergehen lassen, welche sich selbst nur an die kleinsten Aufgaben wagen, weil sie in der That zu keiner größeren das Zeug haben. Und es wäre gut, wenn alle solche Schwätzer ermahnt werden könnten, Urtheile, deren eigentlicher Gegenstand ihre Fassungskraft weit übersteigt, von solchen Urtheilen zu unterscheiden, deren Elemente mit einem oberflächlichen und beschränkten Ueberblick erfaßt werden können.«
Diese Rede hielt Casaubon in einem bei ihm ganz ungewöhnlich raschen und energischen Tone. Sie war freilich nicht ganz improvisirt, sondern war in inneren Selbstgesprächen gereift und brach jetzt hervor wie die runden Kerne einer Frucht, wenn die Sommerhitze sie zum Platzen bringt. Dorothea war für ihn nicht nur sein Weib, sondern eine Personification jener hohlen Welt, von welcher ein nicht nach Verdienst gewürdigter oder entmuthigter Autor sich immer umgeben sieht.
Auch Dorothea war entrüstet. Hatte sie nicht Alles in sich zurückgedrängt und nur dem einen Wunsche Raum gegeben, an dem Hauptinteresse ihres Gatten einen gewissen Antheil nehmen zu dürfen?
»Mein Urtheil war ein sehr oberflächliches, wie ich es nicht anders zu fällen im Stande bin,« antwortete sie in einem raschen Ausdruck der Empfindlichkeit auf welchen sie sich nicht vorzubereiten nöthig gehabt hatte. »Du hast mir Deine Bände voll Notizen gezeigt, Du hast oft mit mir über dieselben gesprochen, mir oft gesagt, daß sie der Verarbeitung bedürften. Aber ich habe Dich noch nie von der zur Veröffentlichung bestimmten Arbeit reden hören. Das sind sehr einfache Thatsachen, und mein Urtheil ging nicht über dieselben hinaus. Ich bat Dich nur, mich Dir nützlich machen zu dürfen.«
Mit diesen Worten stand Dorothea vom Frühstückstisch auf, und Casaubon erwiderte nichts, sondern nahm einen neben ihm liegenden Brief zur Hand, als wolle er denselben noch einmal durchlesen. Beide waren über ihre gegenseitige Situation betroffen, – Beide empfanden es schmerzlich, sich dem Andern gegenüber erzürnt gezeigt zu haben.
Wären sie in der Heimath, im gewöhnlichen Verlauf des täglichen Lebens, in ihrem Hause in Lowick, von ihren Nachbarn umgeben gewesen, so würde ihnen der Stoß weniger fühlbar geworden sein; aber auf einer Hochzeitsreise, deren ausgesprochener Zweck darin besteht, zwei Leute darauf hin, daß sie für einander die Welt bilden, von der ganzen übrigen Welt zu isoliren, wirkt das Bewußtsein einer Disharmonie auf die Eheleute gelinde gesagt verwirrend und verdummend.
Wenn sich zwei Menschen in eine weit von der Heimath entfernte moralische Einsamkeit versetzt haben und dann finden, daß ihnen die Unterhaltung schwer wird und sie unangenehme Scenen und Momente miteinander erleben, wo Einer dem Andern ein Glas Wasser reicht, ohne ihn anzusehen, so kann das selbst den stumpfsten Gemüthern schwerlich als ein befriedigender Zustand erscheinen.
Dorothea betrachtete in ihrer unerfahrenen Empfindlichkeit die eben stattgehabte Scene als eine für ihre ganze Zukunft verhängnißvolle Katastrophe, und für Casaubon war dieselbe nur ein neuer Schmerz, – für ihn, der sich noch nie in einer so engen Verbindung befunden hatte, die ihm doch nun seine größere Abhängigkeit mit sich zu bringen schien, als er es sich hatte träumen lassen, denn er mußte inne werden, daß diese reizende junge Frau ihm nicht nur sehr viele Rücksichten auferlege, an welchen er es nie hatte fehlen lassen, sondern daß sie auch die unerfreuliche Fähigkeit besitze, ihn in einer Angelegenheit, in welcher er grade sanfter Beschwichtigung bedurft hätte, grausam aufzuregen. Hatte er, anstatt sich in ihr eine sanfte Abwehr gegen die kalte, schattenhafte, beifallskarge Zuhörerschaft, die ihn sein Lebelang im Geiste verfolgte, zu schaffen, dieser Zuhörerschaft nur zu einer faßbareren Gestalt verholfen?
Beide fanden es im Augenblick unmöglich, noch etwas zu sagen. Ein vorher getroffenes Arrangement umstoßen und sich weigern auszufahren würde einer demonstrativen Kundgebung fortdauernder Uebellaune gleichgekommen sein, vor welcher Dorothea um so mehr zurückschreckte, als sie bereits anfing sich schuldig zu fühlen. Wie berechtigt auch ihre Entrüstung sein mochte, nicht Gerechtigkeit fordern, sondern Liebe spenden war das Ideal, welches sie anstrebte.
Als daher der Wagen zur bestimmten Stunde erschien, fuhr sie mit Casaubon nach dem Vatican, ging mit ihm durch die Gallerie der Inschriften und setzte, nachdem sie sich von ihm am Eingange der Bibliothek getrennt hatte, in voller Gleichgültigkeit gegen Alles, was sie umgab, ihren Weg durch das Museum fort. Sie war nicht einmal aufgelegt, den Vatican wieder zu verlassen und spazieren zu fahren.
In dem Augenblick, wo Casaubon sie verlassen hatte, war Naumann ihrer zuerst ansichtig geworden und war zugleich mit ihr in die lange Gallerie der Sculpturen getreten; aber hier hatte er auf Ladislaw warten müssen, mit welchem er sich über eine Wette um eine Flasche Champagner in Betreff einer räthselhaften mittelalterlich aussehenden Figur zu einigen hatte. Nachdem sie die Figur gemeinschaftlich untersucht und ihren Disput dann miteinander weitergehend zu Ende geführt hatten, trennten sie sich; Ladislaw war schlendernd zurückgeblieben, während Naumann in die Halle der Statuen gegangen war, wo er Dorothea und zwar in jener durch ihren Zustand brütender Selbstvergessenheit veranlaßten Stellung, welche ihm so merkwürdig erschienen war, wiedergesehen hatte.
In Wahrheit sah sie den Streifen Sonnenlicht auf dem Fußboden so wenig wie die Statuen; ihr Blick war nach Innen gekehrt und der Zukunft zugewandt, welche die Jahre ihr in ihrem eigenen Hause inmitten der heimathlichen Felder und Ulmen und Heckenwege bringen würden, und ihr Herz war voll von dem Gefühle, daß ihr die Mittel, diese Zukunft mit freudiger Ergebenheit zu erfüllen, nicht mehr so klar seien wie früher.
Aber in Dorotheen's Gemüth floß ein Strom, in welchen alle Gedanken und Gefühle sich früher oder später ergießen mußten, der Drang ihres ganzen Wesens nach der vollsten Wahrheit. Es gab doch offenbar etwas besseres als Groll und Verzagtheit.