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Das Motto zu Kapitel 8:
Oh, rescue her! I am her brother now,
And you her father. Every gentle maid
Should have a guardian in each gentleman.
Es war Sir James Chettam selbst sehr merkwürdig, wie viel Vergnügen er auch jetzt noch daran fand, nach Tipton-Hof zu gehen, nachdem er einmal die Schwierigkeit, Dorothea als die Braut eines Andern anzusehen, überwunden hatte. Natürlich durchzuckte es ihn bei der ersten Begegnung schmerzlich und er blieb sich während des ganzen Besuchs der Unbehaglichkeit seines Zustandes, die er geflissentlich zu verbergen suchte, sehr wohl bewußt; dabei dürfen wir aber doch nicht verhehlen, daß er bei aller Herzensgüte sich weniger unbehaglich fühlte, als es der Fall gewesen sein würde, wenn er die Verheirathung mit seinem glücklichen Nebenbuhler für eine glänzende und wünschenswerthe hätte halten können. Er hatte durchaus nicht das Gefühl, durch Herrn Casaubon verdunkelt zu sein; es berührte ihn nur peinlich, daß Dorothea in einer so betrübenden Täuschung befangen war, und seine Kränkung verlor dadurch, daß sich Mitleid in dieselbe mischte, etwas von ihrer Bitterkeit.
Gleichwohl konnte sich Sir James, wenn er sich auch sagte, daß er jeden Gedanken an Dorothea aufgeben müsse, nachdem sie mit der naturwidrigen Verkehrtheit einer Desdemona eine ihr proponirte, offenbar sehr passende und naturgemäße Partie ausgeschlagen hatte, doch bei dem Gedanken an ihre Verlobung mit Casaubon noch nicht ganz beruhigen. Als er die Beiden zuerst nach ihrer Verlobung zusammen wieder sah, wollte es ihn bedünken, als habe er die Sache bis jetzt nicht ernst genug genommen; Brooke war wirklich zu tadeln, er hätte es nicht zugeben dürfen. Vielleicht konnte noch jetzt etwas geschehen, um die Heirath wenigstens aufzuschieben. Es fragte sich nur, wer zu diesem Zweck mit Brooke reden solle.
Auf seinem Heimwege sprach Sir James im Pfarrhause vor und fragte nach Herrn Cadwallader. Glücklicherweise war der Pfarrer diesesmal zu Hause und Sir James wurde in sein Studirzimmer geführt, an dessen Wänden ein reicher Vorrath von Fischgeräthschaften hing. Der Pfarrer selbst war in einem anstoßenden Zimmer an einer Drechselbank beschäftigt und rief dem eintretenden Baronet zu, doch da hinein zu kommen. Die Beiden standen auf besserem Fuße mit einander, als sonst irgend ein Grundbesitzer mit einem Geistlichen in der Grafschaft, – eine bedeutsame Thatsache, die aber ganz dem freundlichen Ausdrucke ihrer beiden Gesichter entsprach.
Herr Cadwallader war ein Mann von hoher kräftiger Statur, um dessen volle Lippen immer ein mildes Lächeln schwebte, ein Mann von häßlichem und nicht sehr feinen Aeußern, aber von jener soliden und unerschütterlichen Behaglichkeit des Wesens, welche sich Anderen mitzutheilen pflegt und, – gleich großen, grasbewachsenen Hügeln im Sonnenschein –, selbst auf egoistische Aufgeregtheit eine so beruhigende Wirkung übt, daß sie dieselbe, wenigstens auf Augenblicke, zu einer beschämenden Selbsterkenntniß bringt.
»Nun, wie geht es Ihnen?« sagte er, indem er Sir James seine zum Darreichen nicht eben geeignete Hand zeigte. »Es thut mir leid, daß Sie mich neulich verfehlt haben. Führt Sie etwas Besonderes zu mir? Sie sehen verstimmt aus.«
Sir James' Stirn war leicht gerunzelt, und seine Augbrauen etwas herabgezogen, ein Ausdruck, den er absichtlich noch stärker hervortreten zu lassen schien, als er antwortete:
»Mich verdrießt nur Brooke's Benehmen! Ich glaube, es müßte noch Jemand mit ihm reden.«
»Was? Will er sich wirklich zum Candidaten aufstellen lassen?« fragte Herr Cadwallader, während er fortfuhr, die kleinen Fischgeräthschaften, die er sich eben gedrechselt hatte, in Ordnung zu bringen. »Ich glaube nicht, daß es ihm Ernst damit ist. Aber wenn es ihm wirklich Vergnügen macht, was ist denn Schlimmes daran? Jeder, der mit Whiggismus nichts im Sinne hat, sollte froh sein, wenn die Whigs nicht gerade die besten Köpfe aufstellen. Wenn sie keinen andern Sturmbock in's Feld führen, als unseren Freund Brooke, so werden sie schwerlich die Verfassung über den Haufen werfen.«
»O, davon rede ich nicht,« erwiderte Sir James, welcher, nachdem er seinen Hut abgelegt und sich in einen Sessel geworfen hatte, mit einem sehr sauern Gesichte sein Bein wiegte und seine Fußsohle betrachtete. »Ich rede von dieser Heirath, davon, daß er das blühende Mädchen den Casaubon heirathen läßt.«
»Was haben Sie gegen Casaubon? Ich sehe nichts Schlimmes dabei, – wenn er dem Mädchen gefällt!«
»Sie ist zu jung, um zu wissen, was ihr gefällt. Ihr Vormund sollte sich in's Mittel legen. Er sollte nicht zugeben, daß die Sache in einer so überstürzten Weise vor sich geht. Ich begreife nicht, wie Sie, Cadwallader, mit Ihrem vortrefflichen Herzen, und der Sie selbst Töchter haben, die Sache so gleichgültig ansehen können. Denken Sie doch einmal ernstlich darüber nach.«
»Ich scherze durchaus nicht, ich bin so ernsthaft wie möglich,« erwiderte der Pfarrer, indem er dabei, zu Sir James' Verdruß, behaglich in sich hineinlachte. »Sie sind ja gerade so schlimm wie meine Frau. Die hat von mir verlangt, ich solle hingehen und Brooke zur Rede stellen, und ich habe sie daran erinnern müssen, daß ihre Familie eine sehr geringe Meinung von der Partie hatte, welche sie machte, als sie mich heirathete.«
»Aber sehen Sie sich doch Casaubon an,« entgegnete Sir James entrüstet, »er muß mindestens fünfzig Jahre alt sein und ich kann mir nicht denken, daß er jemals nicht die schattenhafte Gestalt gehabt hat, mit der er Einen jetzt erschrickt. Sehen Sie sich doch nur seine Beine an!«
»Hole der Henker Euch hübsche junge Bursche! Ihr meint auch die ganze Welt müßte sich nach Euch richten. Ihr versteht Euch nicht auf die Frauen. Sie sind nicht halb so entzückt von Euch, wie Ihr es von Euch selbst seid. Meine Frau pflegte ihren Schwestern zu erzählen, sie heirathe mich um meiner Häßlichkeit willen; diese Häßlichkeit sei ihr so ergötzlich gewesen, daß sie alle Ueberlegung darüber verloren habe.«
»O Sie! Es war nicht schwer für eine Frau, Sie zu lieben; aber hier ist von Schönheit gar keine Rede, Casaubon mißfällt mir.«
Das war in Sir James' Munde der stärkste Ausdruck fürs sein ungünstiges Urtheil über den Charakter eines Menschen.
»Warum? Was wissen Sie Nachtheiliges über ihn?« fragte der Pfarrer, indem er sich diesesmal in seiner Beschäftigung unterbrach und die Daumen mit einem Ausdruck neugieriger Aufmerksamkeit in die Armlöcher seiner Weste steckte.
Sir James hielt inne; es wurde ihm in der Regel nicht leicht, seine Gründe für eine ausgesprochene Ansicht anzugeben. Es kam ihm immer so sonderbar vor, daß die Leute diese Gründe nicht wüßten, ohne daß er sie ihnen ausdrücklich sagte, da er sich doch der Triftigkeit derselben bewußt war. Endlich sagte er:
»Ich frage Sie, Cadwallader, ob Sie glauben, daß der Mensch ein Herz hat.«
»O ja! – Ich will nicht sagen, ein weiches Herz; aber ein Herz von ganz gesundem Kern, darauf können Sie sich verlassen. Er ist sehr gut gegen seine arme Familie, giebt mehreren weiblichen Mitgliedern derselben Pensionen, und läßt einen jungen Burschen mit bedeutenden Kosten erziehen. Casaubon führt das, was er für Recht hält, auch wirklich aus. Die Schwester seiner Mutter machte eine schlechte Partie – eine Pole, glaube ich – ging zu Grunde – auf jeden Fall wurde sie von ihrer Familie verleugnet. Ohne diesen Vorfall hätte Casaubon nicht halb so viel Geld geerbt. Er ließ es sich angelegen sein, seine Vettern aufzusuchen um zu sehn, was er für sie thun könne. Nicht Jedermann würde eine so genaue Prüfung seines Werthes so gut bestehn. Sie schon, Chettam, aber nicht Jedermann.«
»Ich weiß nicht,« erwiderte Sir James, erröthend. »Ich bin meiner nicht so gewiß.« Er hielt einen Augenblick inne und fügte dann hinzu: »Das würde ich nicht anders von Casaubon erwartet haben. Aber es kann Jemand das redliche Bestreben haben, das Rechte zu thun und doch eine Art von lebendigem Schweinsleder-Codex sein. Mit einem solchen Menschen kann eine Frau nicht glücklich werden, und ich bin der Meinung, daß wenn ein Mädchen noch so jung ist wie Dorothea Brooke, ihre Freunde sich ins Mittel legen sollten, wo es darauf ankommt sie von einem thörichten Schritt zurückzuhalten. Sie lachen, weil Sie denken ich hätte ein besonderes Interesse dabei. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, es ist nicht das. Ich würde grade so empfinden, wenn ich Dorotheen's Bruder oder Onkel wäre.«
»Nun gut, aber was würden Sie denn thun?«
»Ich würde sagen, daß die Heirath nicht geschlossen werden darf, bevor Dorothea mündig ist. Und verlassen Sie sich darauf, wenn es gelänge die Sache bis dahin zu verschieben, würde nie etwas daraus werden. Ich möchte, daß Sie die Sache ansähen, wie ich; ich möchte, daß Sie mit Brooke deswegen redeten.«
Sir James erhob sich bei diesen Worten, denn er sah Frau Cadwallader aus dem Studirzimmer eintreten. Sie hielt ihre jüngste fünfjährige Tochter an der Hand; das Kind lief sogleich zu seinem Papa, und machte sich's auf dessen Schooße bequem.
»Ich höre, wovon Sie sprechen,« fing Frau Cadwallader an. »Aber Sie werden keinen Eindruck auf Humphrey machen. So lange nur die Fische auf seinen Köder anbeißen, sind ihm alle Leute recht. Ich bitte Sie, Casaubon hat einen Forellenbach, und verlangt nicht einmal, selbst darin zu fischen: Kann es einen bessern Menschen geben?«
»Nun, das hat etwas Wahres,« sagte der Pfarrer, indem er wieder ruhig in sich hinein lachte. »Es ist eine sehr lobenswerthe Eigenschaft eines Mannes einen Forellenbach zu besitzen.«
»Aber ernsthaft,« bemerkte Sir James, der seinen Verdruß noch nicht ganz verwunden hatte. »Glauben Sie nicht, daß der Pfarrer, wenn er mit Brooke spräche, etwas Gutes bewirken könnte?«
«O, ich habe Ihnen ja vorher gesagt, was er sagen würde,« antwortete Frau Cadwallader, indem sie ihre Augbrauen in die Höhe zog. »Ich habe gethan was ich konnte, ich wasche meine Hände in Unschuld.«
«Erstens,« sagte der Pfarrer, der jetzt ziemlich ernst aussah, »wäre es Unsinn zu glauben, daß ich Brooke zu überzeugen und zu einem entsprechenden Handeln zu bewegen vermöchte. Brooke ist ein sehr guter Kerl, aber breiweich; man kann ihn in jede Form hineingießen, aber er behält keine feste Gestalt.«
»Vielleicht würde er aber doch lange genug Gestalt behalten, um einen Aufschub der Heirath durchzusetzen,« entgegnete Sir James.
»Aber, mein lieber Chettam, warum soll ich denn meinen Einfluß zum Nachtheil Casaubon's geltend machen, so lange ich mich nicht viel fester als es in der That der Fall ist, davon überzeugt halte, daß ich damit zum Vortheil von Fräulein Brooke handeln würde. Ich weiß nichts Uebeles von Casaubon. Was kümmert mich sein Xisuthrus, und all der gelehrte Krimskrams! Aber er kümmert sich ja auch nicht um mein Fischgeräth. Seine Haltung in der katholischen Frage hatte allerdings etwas Ueberraschendes; aber er ist immer höflich gegen mich gewesen, und ich sehe nicht ein, warum ich ihm seinen Spaß verderben soll. Wer weiß ob Fräulein Brooke nicht glücklicher wird mit ihm, als mit irgend einem andern Manne.«
»Es ist aber wirklich nicht mit Dir auszuhalten, Humphrey, Du weißt doch auch recht gut, daß Du lieber unter den Hecken am Wege, als mit Casaubon allein zu Mittag essen möchtest. Ihr wißt ja kein Wort mit einander zu reden.«
»Was hat das mit seiner Verheirathung mit Fräulein Brooke zu thun? Sie heirathet ihn doch nicht zu meiner Unterhaltung.«
»Er hat ja kein ordentliches rothes Blut in den Adern,« bemerkte Sir James.
»Nein,« fuhr Frau Cadwallader fort, »es hat einmal Jemand einen Tropfen seines Bluts unter ein Vergrößerungsglas gebracht, und da zeigte sich's, daß der Tropfen nur aus Semikolons und Parenthesen bestand.«
»Warum läßt er nicht lieber sein Buch erscheinen, anstatt zu heirathen,« sagte wieder Sir James mit einem Ausdruck des Widerwillens, zu dem er sich als Laie vollkommen berechtigt glaubte.
»Er träumt von nichts, als von den Anmerkungen zu seinem Texte und in diese Anmerkungen steckt er all sein Bischen Verstand. Sie erzählen, daß er schon als kleiner Junge einen Auszug aus: ›Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp!‹ gemacht habe und seitdem hat er sein Leben damit zugebracht, Auszüge zu machen. Hu! Und das ist der Mann, von dem Humphrey sich nicht zu sagen scheut, daß eine Frau mit ihm glücklich werden könne«
»Nun, Fräulein Brooke gefällt er aber doch,« entgegnete der Pfarrer, »ich maße mir nicht an, den Geschmack jedes jungen Mädchens zu begreifen.«
»Aber, wenn es nun Ihre eigne Tochter wäre,« fragte Sir James.
»Das wäre etwas ganz Anderes. Sie ist aber nicht meine Tochter und ich fühle mich nicht berufen, mich in die Sache zu mischen. Casaubon ist so gut, wie die meisten von uns. Er ist ein gelehrter Geistlicher und eine Zierde seines Standes. Einer von den radikalen Kerlen sagte in seinem Wahlredegeschwätz in Middlemarch: Casaubon sei der gelehrte, strohdreschende Pfründner, Freeke der Kalk- und Backstein-Pfründner und ich der angelnde Pfründner. Und ich gebe Euch mein Wort, ich kann nicht finden, daß einer von uns besser oder schlechter ist als der Andere.«
Und dabei lachte der Pfarrer wieder auf seine Weise in sich hinein. Er war immer empfänglich für jedes auf ihn selbst gemünzte Witzwort. Sein Gewissen war, wie Alles an ihm, weit und bequem; es hieß ihn nur das thun, was ihn in seinem Behagen nicht störte.
Es war also klar, daß auf keinerlei Schritte von Seiten Cadwallader's in der Heirathsangelegenheit des Fräulein Brooke zu rechnen war, und Sir James mußte sich betrübten Herzens darein ergeben, daß Dorothea in der Verkehrtheit ihrer Entschlüsse von Niemandem gestört werden würde. Es zeugte von der Trefflichkeit seines Charakters, daß er in seiner Absicht, Dorotheen's Arbeiterwohnungsplan zur Ausführung zu bringen, durchaus nicht lauer wurde. Unzweifelhaft war dieses Beharren das Beste, was er im Interesse seiner eignen Würde thun konnte, aber der Stolz kann uns nur in edlen Handlungen bestärken, nicht sie hervorrufen, so wenig wie die Eitelkeit uns dazu verhelfen kann, witzig zu sein.
Dorothea war jetzt hinreichend über Sir James' Verhältniß zu ihr aufgeklärt, um die Rechtschaffenheit seines Beharrens bei der Erfüllung der Pflicht eines Gutsbesitzers würdigen zu können, zu welcher er sich anfänglich durch den Wunsch sich einem geliebten Mädchen gefällig zu erweisen, veranlaßt gesehen hatte, und ihre Freude über diese Ausdauer war so groß, daß sie selbst durch ihr gegenwärtiges Glück nicht ganz in den Hintergrund gedrängt wurde. Sie widmete den Arbeiterwohnungen Sir James' noch immer alles Interesse, welches nicht durch Casaubon, oder vielmehr durch die Sphärenmusik hoffnungsvoller Träume, bewundernden Vertrauens und leidenschaftlicher Selbstaufopferung, deren Klänge jetzt in ihrer Seele ertönten, in Anspruch genommen war.
So geschah es, daß der gute Baronet bei seinen öfteren Besuchen, während er Celien kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen anfing, mehr und mehr Vergnügen daran fand, sich mit Dorotheen zu unterhalten. Sie war jetzt in ihrem Benehmen gegen ihn ganz zwanglos und ohne alle Gereiztheit, und er kam allmälig zum Bewußtsein des Genusses, welchen der offen herzliche, vertraute Verkehr eines Mannes und einer Frau gewährt, die einander keine Leidenschaft weder zu bekennen, noch zu verbergen haben.