Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Dritter Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Der Telegraph.

Herr und Frau von Villefort erfuhren, als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, Herr von Monte Christo sei gekommen, ihnen einen Besuch zu machen, und warte auf sie im Salon. Zu aufgeregt, um sogleich einzutreten, ging Frau von Villefort durch ihr Schlafzimmer, während der Staatsanwalt, mehr seiner Herr, gerade auf den Salon zuschritt.

Doch so sehr er auch Herr seiner Empfindungen war, so gut er sein Gesicht zu formen wußte, so vermochte Herr von Villefort die Wolke doch nicht so völlig von seiner Stirn zu entfernen, daß der Graf, der ihm mit einem strahlenden Lächeln entgegentrat, nicht die düstere, brütende Miene bemerkt hätte.

Oh! mein Gott! rief Monte Christo nach den ersten Begrüßungen, was haben Sie denn, Herr von Villefort? Bin ich in dem Augenblick gekommen, wo Sie vielleicht eine hochnotpeinliche Anklage abfaßten?

Herr von Villefort suchte zu lächeln und erwiderte: Nein, mein Herr Graf, es ist hier kein anderes Opfer, als ich selbst. Ich bin es, der den Prozeß verliert; der Zufall, die Halsstarrigkeit, die Narrheit haben die Anklageschrift abgefaßt.

Was wollen Sie damit sagen? fragte Monte Christo mit einer vortrefflich gespielten Teilnahme. Ist Ihnen in der Tat ein ernstes Unglück widerfahren?

Oh! Herr Graf, versetzte Villefort mit ingrimmiger Ruhe, es ist nicht der Mühe wert, davon zu sprechen; es ist so gut wie nichts, nur ein Geldverlust.

In der Tat, erwiderte Monte Christo, ein Geldverlust ist etwas Geringes bei einem Vermögen, wie Sie es besitzen, und bei Ihrem philosophischen, erhabenen Geiste.

Auch ist es nicht die Geldfrage, was mich kümmert, obschon 900 000 Franken immerhin wohl ein Bedauern oder wenigstens eine Regung des Ärgers wert sind, sondern ich fühle mich getroffen durch die Fügung des Schicksals, des Zufalls, des Verhängnisses, ich weiß nicht, wie ich die Macht nennen soll, die den Schlag lenkt, der mich trifft, meine Hoffnungen niederstürzt und vielleicht die Zukunft meiner Tochter durch die Laune eines kindisch gewordenen Greises zerstört.

Ei, mein Gott! rief der Graf. 900 000 Franken, sagten Sie? In der Tat, diese Summe verdient wohl ein Bedauern, selbst für einen Philosophen. Und wer bereitete Ihnen diesen Verdruß?

Mein Vater, von dem ich mit Ihnen sprach.

Herr Noirtier? Sie sagten mir doch, er sei völlig gelähmt, und alle seine Fähigkeiten seien vernichtet?

Ja, seine körperlichen Fähigkeiten, denn er kann sich nicht rühren, er kann nicht sprechen, und bei alledem denkt er, will er, handelt er, wie Sie sehen. Ich habe ihn vor fünf Minuten verlassen, und er ist in diesem Augenblick damit beschäftigt, zwei Notaren ein Testament zu diktieren.

Er hat also doch gesprochen?

Nein, aber er hat sich mit Hilfe des Blickes verständlich gemacht; die Augen haben zu leben fortgefahren und töten, wie Sie sehen.

Mein Freund, sagte Frau von Villefort, welche nun ebenfalls eintrat, Sie übertreiben wohl die Lage der Dinge.

Gnädige Frau . . . sagte der Graf sich verbeugend.

Frau von Villefort grüßte mit ihrem freundlichsten Lächeln.

Was sagt mir denn Herr von Villefort? sagte Monte Christo; und welche unbegreifliche Ungnade . . .

Unbegreiflich, das ist das richtige Wort, versetzte der Staatsanwalt, die Achseln zuckend; die Laune eines Greises!

Gibt es denn kein Mittel, ihn von dieser Entscheidung abzubringen?

Doch, sagte Frau von Villefort, und es hängt nur von meinem Manne ab, daß dieses Testament statt zum Nachteil für Valentine, gerade zu ihren Gunsten gemacht wird.

Als der Graf sah, daß die beiden Ehegatten in Rätseln zu sprechen anfingen, nahm er eine zerstreute Miene an und sah mit größter Aufmerksamkeit und der augenscheinlichsten Billigung Eduard zu, der Tinte in das Trinkgeschirr der Vögel goß.

Meine Teure, sagte Villefort, seiner Frau antwortend, Sie wissen, daß ich es nicht liebe, in meinem Hause als Tyrann aufzutreten. Es ist mir indessen daran gelegen, daß meine Entscheidungen in meiner Familie geachtet werden und die Narrheit eines Greises und die Laune eines Kindes nicht einen seit langen Jahren festgestellten Plan umwerfen. Der Baron d'Epinay war mein Freund, wie Sie wissen, und eine Verbindung mit seinem Sohne mußte mir in jeder Beziehung entsprechend erscheinen.

Glauben Sie, Valentine sei mit ihm einverstanden? sagte Frau von Villefort; sie widersetzte sich in der Tat von jeher dieser Heirat, und es würde mich nicht wundern, wenn alles, was wir soeben gehört und gesehen haben, die Ausführung eines zwischen ihnen verabredeten Planes wäre.

Gnädige Frau, entgegnete Villefort, glauben Sie mir, man verzichtet nicht so leicht auf ein Vermögen.

Sie verzichtete doch auf die Welt, als sie vor einem Jahre in ein Kloster gehen wollte.

Gleichviel, rief Villefort, ich sage, daß diese Heirat geschlossen werden muß, gnädige Frau.

Gegen den Willen Ihres Vaters! sagte Frau von Villefort, eine andere Seite angreifend, das ist sehr ernst!

Monte Christo stellte sich, als hörte er nichts, verlor aber kein Wort von dem, was gesprochen wurde.

Ich kann wohl sagen, fuhr Villefort fort, daß ich stets meinen Vater geachtet habe, weil sich mit dem natürlichen Gefühle der Abkunft bei mir das Bewußtsein seiner moralischen Überlegenheit verband; doch diesmal muß ich darauf Verzicht leisten, verständige Überlegung in dem Greise anzuerkennen, der nur wegen seines Hasses gegen den Vater auf diese Art den Sohn verfolgt. Es wäre also lächerlich von mir, wenn ich mich in meinem Benehmen nach seinen Launen richtete. Ich werde nicht aufhören, die größte Achtung für Herrn Noirtier zu hegen; ich werde, ohne zu klagen, mich der Geldstrafe unterziehen, die er über mich verhängt; aber ich bleibe unerschütterlich in meinem Willen, und die Welt mag richten, auf welcher Seite die gesunde Vernunft ist. Ich verheirate folglich meine Tochter mit dem Baron Franz d'Epinay, weil diese Verbindung meinen Ansichten nach gut und ehrenvoll ist, und ich meine Tochter verheiraten kann, mit wem es mir beliebt.

Ei! sagte der Graf, dessen Billigung der Staatsanwalt beständig mit dem Blicke nachgesucht hatte; ei! Herr Noirtier enterbt, wie Sie sagen, Fräulein Valentine, weil sie den Herrn Baron Franz d'Epinay heiraten soll?

Mein Gott! ja, mein Herr; das ist der Grund, rief Villefort, die Achseln zuckend.

Läßt sich dies begreifen? entgegnete die junge Frau, ich frage Sie, in welcher Hinsicht mißfällt Herr d'Epinay Herrn Noirtier mehr als ein anderer?

In der Tat, sagte der Graf. Ich habe Herrn Franz d'Epinay kennen gelernt; er ist doch der Sohn des Generals von Quesnel, der von König Karl X. zum Baron d'Epinay gemacht wurde?

Ganz richtig! erwiderte Villefort.

Ei! mir scheint, das ist ein reizender junger Mann.

Ich bin fest überzeugt, es ist auch nur ein Vorwand, sagte Frau von Villefort; die Greise sind Tyrannen in ihren Zuneigungen; Herr Noirtier will nicht, daß seine Enkelin heiratet.

Können Sie sich nicht diesen Haß irgendwie sonst erklären? Vielleicht stammt er von irgend einer politischen Antipathie?

In der Tat, mein Vater und der Vater des Herrn d'Epinay lebten in stürmischen Zeiten, von denen ich nur noch die letzten Tage gesehen habe, sprach Villefort.

War Ihr Vater nicht Bonapartist? Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir etwas dergleichen sagten.

Mein Vater war vor allem Jakobiner, erwiderte Villefort, durch die Aufregung über die Grenzen der Klugheit fortgerissen, und das Gewand des Senators, das ihm Napoleon um die Schultern warf, gab ihm nur eine andere Hülle, ohne etwas an ihm zu ändern. Konspirierte mein Vater, so geschah es nicht für den Kaiser, sondern gegen die Bourbonen, denn mein Vater hatte das Furchtbare an sich, daß er nie für Hirngespinste, sondern stets für mögliche Dinge kämpfte, und daß er zur Durchsetzung seiner Ideen vor keinem Mittel zurückwich.

Sie sehen, sagte Monte Christo, Herr Noirtier und Herr d'Epinay werden sich auf politischem Boden entgegengetreten sein. Hatte der General d'Epinay, obgleich er unter Napoleon diente, nicht im Grunde seines Herzens eine royalistische Gesinnung bewahrt, und ist es nicht derselbe, der eines Abends, als er einen napoleonistischen Klub verließ, zu dem man ihn in der Hoffnung des Beitritts eingeladen hatte, ermordet wurde?

Villefort schaute den Grafen beinahe mit Schrecken an.

Täusche ich mich? fragte Monte Christo.

Nein, mein Herr, antwortete Frau von Villefort, im Gegenteil, es ist genau so, und eben, um einen alten Haß zu ersticken, hatte Herr von Villefort den Gedanken, zwei Kinder sich lieben zu lassen, deren Väter sich gehaßt hatten.

Erhabener Gedanke! rief Monte Christo, ein Gedanke voll milder Menschenliebe, dem die ganze Welt ihren Beifall zollen müßte. In der Tat, es wäre schön gewesen, Fräulein Noirtier von Villefort sich Frau Franz d'Epinay nennen zu sehen.

Villefort bebte und schaute Monte Christo an, als wollte er im Grunde seines Herzens die Absicht lesen, welche den soeben ausgesprochenen Worten zu Grunde lag.

Da aber der Graf das wohlwollende Lächeln, an das seine Lippen gewöhnt waren, beibehielt, so vermochte der Staatsanwalt trotz der Schärfe seines Blickes nicht, hinter die Maske Monte Christos zu blicken.

Obgleich es ein großes Unglück für Valentine ist, das Vermögen ihres Großvaters zu verlieren, sagte Villefort, so glaube ich doch nicht, daß die Heirat deshalb scheitert; ich glaube nicht, daß Herr d'Epinay vor diesem pekuniären Verlust zurückweicht. Er wird sehen, daß ich wohl mehr wert bin, als diese Summe, die ich dem Wunsche, ihm mein Wort zu halten, opfere; er wird sich zudem sagen, daß Valentine schon durch das Vermögen ihrer Mutter reich ist, das von Herrn und Frau von Saint Meran verwaltet wird, die sie beide zärtlich lieben.

Und wohl würdig sind, daß man sie liebt und pflegt, wie dies Valentine bei Herrn Noirtier getan hat, fügte Frau von Villefort hinzu. Sie kommen spätestens in einem Monat nach Paris, und Valentine wird nach einer solchen Beleidigung nicht mehr gebunden sein, sich, wie sie es jetzt getan, bei Herrn Noirtier begraben zu lassen.

Der Graf hörte mit Wohlgefallen die disharmonische Stimme verletzter Eitelkeit und in den Staub getretener Interessen und sagte nach kurzem Stillschweigen: Mir scheint, und ich bitte Sie im voraus wegen dessen, was ich sagen werde, um Verzeihung, daß Herr Noirtier, wenn er Fräulein von Villefort, nur weil sie einen jungen Mann heiraten wollte, dessen Vater er gehaßt hat, enterbt, daß Herr Noirtier, sage ich, dem lieben Eduard nicht dasselbe Unrecht vorwerfen kann.

Nicht wahr? rief Frau von Villefort mit einem unbeschreiblichen Tone, nicht wahr, das ist ungerecht, abscheulich ungerecht. Dieser arme Eduard ist ebensogut der Enkel des Herrn Noirtier, und dennoch würde er Valentine sein ganzes Vermögen hinterlassen haben, wenn sie nicht Franz hätte heiraten sollen, und Eduard führt überdies den Namen der Familie, abgesehen davon, daß Valentine, wenn sie auch wirklich ihr Großvater enterbt, immer noch dreimal reicher sein wird, als er.

Nach diesem kräftigen Ausfall hörte der Graf nur noch zu und sparte sich selbst weitere Anregungen.

Nun genug, sagte Villefort. Wir wollen uns nicht länger über diese kleinlichen Familienangelegenheiten unterhalten! Ja, es ist richtig, mein Vermögen wird die Einkünfte der Armen vermehren, die heutzutage die wahren Reichen sind. Ja, mein Vater wird mich um eine gesetzliche Hoffnung gebracht haben, und das ohne Grund; ich aber habe dann als Mann von Verstand, als Mann von Herz gehandelt. Herr d'Epinay, dem ich die Rente von dieser Summe versprach, wird sie bekommen, und sollte ich mir die größten Entbehrungen auferlegen.

Es wäre doch vielleicht besser, sagte Frau von Villefort, auf den einzigen Gedanken zurückkommend, der unablässig in der Tiefe ihres Herzens auftauchte; es wäre doch vielleicht besser, man machte Herrn d'Epinay Mitteilung, damit er in der Lage wäre, selbst sich darüber zu entscheiden und sein Wort zurückzugeben!

Oh! das wäre ein großes Unglück, rief Villefort.

Ein großes Unglück? wiederholte Monte Christo.

Allerdings, erwiderte Villefort, sich besänftigend, eine gescheiterte Heirat, und scheitert sie auch aus Geldgründen, wirft ein schlechtes Licht auf ein junges Mädchen. Dann würden auch alte Gerüchte, die ich ersticken wollte, wieder laut werden. Doch nein, dem wird nicht so sein, Herr d'Epinay, der ein ehrenhafter Mann ist, wird sich durch Valentines Enterbung noch mehr für gebunden erachten, als zuvor, sonst würde er ja nur aus Habsucht um unser Kind gefreit haben; nein, das ist nicht möglich.

Ich denke wie Herr von Villefort, sagte Monte Christo, seinen Blick auf Frau von Villefort heftend, und wenn ich ihm einen Rat geben dürfte, so würde ich ihn auffordern, jetzt, wo Herr d'Epinay, wie ich höre, zurückkehrt, das Band so fest zu knüpfen, daß es sich nicht mehr lösen läßt. Ich würde unter allen Umständen eine Verbindung zustande bringen, die Herrn von Villefort nur zur Ehre gereichen kann.

Villefort erhob sich, von sichtbarer Freude ergriffen, während seine Frau leicht erbleichte.

Gut, sagte er, das ist alles, was ich haben wollte, und ich werde mir die Meinung eines Ratgebers, wie Sie sind, zu nutze machen, fügte er, Monte Christo die Hand reichend, hinzu. Hiernach ist alles, was sich hier ereignet hat, als nicht geschehen zu betrachten, und an unsern Plänen hat sich nichts geändert.

Mein Herr, sagte Monte Christo, so ungerecht die Welt ist, so wird sie Ihnen doch Dank für diesen Entschluß wissen, dafür stehe ich Ihnen. Ihre Freunde werden stolz darauf sein, und Herr d'Epinay, müßte er auch Fräulein von Villefort ohne Mitgift nehmen, was schwerlich der Fall sein wird, ist sicherlich entzückt über seinen Eintritt in eine Familie, in der man sich auf die Höhe solcher Opfer zu erheben weiß, um sein Wort zu halten und seine Pflicht zu erfüllen.

Während der Graf so sprach, stand er auf und schickte sich an, wegzugehen.

Sie verlassen uns? sagte Frau von Villefort.

Ich bin genötigt, gnädige Frau; ich kam nur, um Sie an Ihr Versprechen für Sonnabend zu erinnern.

Befürchten Sie, wir würden es vergessen?

Sie sind zu gütig, gnädige Frau; doch Herr von Villefort hat so ernste und zuweilen so dringende Geschäfte . . .

Mein Mann hat sein Wort gegeben, Herr Graf, und Sie konnten soeben sehen, daß er es hält, wenn alles dabei verloren gehen kann; er wird es umsomehr tun, wenn alles dabei zu gewinnen ist.

Findet die Gesellschaft in Ihrem Hause in den Champs-Elysées statt? fragte Villefort.

Nein, sagte Monte Christo, und das macht Ihr Opfer noch verdienstlicher . . . auf dem Lande.

In der Nähe von Paris?

Vor dem Tore, eine halbe Stunde vor dem Tore, in Auteuil.

In Auteuil! rief Villefort. Ah! es ist wahr, Frau von Villefort sagte mir, Sie wohnten in Auteuil, wo man sie in Ihr Haus brachte. Und wo in Auteuil?

Rue de la Fontaine.

Rue de la Fontaine? versetzte Villefort mit gepreßter Stimme; Nummer?

Nummer 30.

Man hat also an Sie das Haus des Herrn von Saint-Meran verkauft? rief Villefort.

Des Herrn von Saint-Meran? fragte Monte Christo. Dieses Haus gehörte Herrn von Saint-Meran?

Ja, erwiderte Frau von Villefort; nicht wahr, es ist eine schöne Besitzung?

Reizend.

Und denken Sie sich, mein Mann wollte nie darin wohnen.

In der Tat, mein Herr? Das ist ein Vorurteil, von dem ich mir keine Rechenschaft geben kann.

Ich liebe Auteuil nicht, sagte der Staatsanwalt, sich selbst bezwingend.

Es würde mich jedoch sehr unglücklich machen, sollte mich diese Antipathie des Vergnügens berauben, Sie bei mir zu empfangen! versetzte Monte Christo.

Nein, Herr Graf, ich hoffe wohl . . . glauben Sie mir, daß ich alles tun werde, was ich vermag . . ., stammelte Villefort.

Oh! ich nehme keine Entschuldigung an, entgegnete Monte Christo. Sonnabend um sechs Uhr erwarte ich Sie, und wenn Sie nicht kämen, so würde ich glauben müssen, es ruhe auf diesem seit zwanzig Jahren unbewohnten Hause irgend eine finstere Überlieferung, irgend eine blutige Legende.

Ich werde kommen, sagte Villefort rasch.

Meinen Dank. Nun aber müssen Sie mir erlauben, mich von Ihnen zu verabschieden.

In der Tat, Sie sagten, Sie müssen uns verlassen, Herr Graf, versetzte Frau von Villefort, und Sie wollten uns sogar mitteilen, warum, als Sie sich unterbrachen, um zu einem andern Gedanken überzugehen.

Wahrhaftig, gnädige Frau, ich weiß nicht, ob ich Ihnen sagen soll, wohin ich gehe.

Warum nicht? Sagen Sie es nur!

Ich will mir etwas ansehen, worüber ich oft stundenlang geträumt habe.

Was?

Einen Telegraphen.

Einen Telegraphen? wiederholte Frau von Villefort.

Ei, mein Gott! ja, einen Telegraphen. Zuweilen sah ich am Ende einer Straße auf einem Hügel bei schönem Sonnenscheine die schwarzen, wie die Füße eines ungeheuren Käfers sich biegenden Arme, und dieses Schauspiel hat mich immer merkwürdig ergriffen, das versichere ich Ihnen, denn ich dachte, diese Zeichen, welche die Luft mit unfehlbarer Sicherheit durchschneiden und auf Hunderte von Meilen den unbekannten Willen eines vor einem Tische sitzenden Menschen einem andern am Ende der Linie befindlichen Menschen verkünden, verdanken ihr Dasein nur der Energie des sonderbaren Insektenkörpers. Geister, Sylphen, Gnomen schienen mir dabei im Spiele zu sein. Niemals aber trieb es mich, diese großen Insekten mit den weißen Bäuchen und den schwarzen mageren Füßen von nahem zu sehen; denn ich fürchtete, ich würde unter ihrem steinernen Flügel den kleinen Menschenwitz, sehr ernst und würdig, sehr gründlich und steifleinen, triefend von Wissenschaft, von kleinlicher Eifersüchtelei, vielleicht auch von Aberglauben finden. Eines Morgens erfuhr ich aber, die bewegende Kraft jedes Telegraphen sei ein armer Teufel von einem Angestellten mit einem jährlichen Gehalt von zwölfhundert Franken, der nur mechanische Handgriffe verstehe und so wenig von der wunderbaren elektrischen Kraft wisse, wie ein Nachtwächter von der Poesie der göttlichen Nacht. Da erfaßte mich ein seltsames Verlangen, diese lebendige Puppe einmal näher anzuschauen.

Und Sie wollen nun dahin?

Ja, gnädige Frau!

Und zu welchem Telegraphen wollen Sie gehen? Zu dem im Ministerium des Innern oder zu dem im Observatorium?

Oh, nein, ich könnte dort Leute antreffen, die mich nötigen wollten, etwas zu begreifen, das ich gar nicht begreifen will, und die mir wider meinen Willen ein Geheimnis zu enthüllen versuchen, das ihnen im Grunde selbst verborgen ist. Zum Teufel! Ich will wenigstens die Illusionen mir erhalten, die ich noch über die Insekten hege; es ist genug, daß ich die, welche ich über die Menschen hatte, verlieren mußte. Ich werde also zu keinem der beiden Pariser Telegraphen gehen, weder zu dem auf dem Observatorium noch dem im Ministerium des Innern. Ich brauche einen Telegraphen im freien Felde.

So gehen Sie, denn in zwei Stunden ist es Nacht, und Sie sehen dann nichts mehr.

Teufel! Sie erschrecken mich! Wo ist der nächste auf der Straße nach Bayonne?

In Chatillon.

Und nach dem in Chatillon?

Ich glaube, der auf dem Turme von Monthléry.

Ich danke; auf Wiedersehen! Sonnabend werde ich Ihnen meine Eindrücke erzählen.

Vor der Tür traf der Graf mit den zwei Notaren zusammen, die soeben Valentine enterbt hatten und sich nun wegbegaben . . . äußerst entzückt, daß sie einen Akt aufgesetzt hatten, der ihnen unfehlbar große Ehre machen mußte.


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