Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Dritter Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Die Apfelschimmel.

Dem Grafen voran durchschritt der Baron eine Reihe von Zimmern, die durch ihre schwerfällige Pracht und den darin herrschenden übermäßig schlechten Geschmack auffielen, und gelangte in das Boudoir der Frau Danglars, ein kleines achteckiges Gemach, mit einem von indischem Musselin überzogenen Atlas tapeziert. Die Polsterstühle waren von altem vergoldetem Holz und hatten alten Überzug; über den Türen hingen Gemälde, Schäferszenen nach Boucher darstellend; zwei mit der übrigen Ausstattung im Einklang stehende hübsche Pastelle in Medaillenform machten endlich aus diesem Zimmer das einzige einigermaßen stilvolle des ganzen Hauses, was nur die Folge davon war, daß sich die Baronin mit Lucien Debray allein die Ausschmückung vorbehalten hatte.

Frau Danglars, die trotz ihrer sechsunddreißig Jahre noch schön genannt werden konnte, saß an ihrem Klavier, einem Meisterwerke von eingelegter Arbeit, während Lucien, an einem Tische sitzend, in einem Album blätterte.

Lucien hatte schon vor der Erscheinung des Grafen Zeit gehabt, der Baronin allerlei Dinge in Beziehung auf dessen Person zu erzählen. Man weiß, welchen Eindruck Monte Christo während des Frühstücks bei Albert auf dessen Gäste hervorbrachte; dieser Eindruck, so wenig empfänglich im ganzen Debray war, hatte sich bei ihm noch nicht verwischt, und die Mitteilungen, die er der Baronin über den Grafen machte, waren ganz davon erfüllt. Durch die früheren Erzählungen Morcerfs und durch die neuen Berichte Debrays angeregt, hatte die Neugierde der Baronin den höchsten Grad erreicht. Sie empfing Herrn Danglars mit einem Lächeln, wie es ihm gewöhnlich nicht zuteil wurde, während sie dem Grafen auf seinen Gruß eine zeremoniöse, aber zugleich freundliche Verneigung gewährte.

Lucien wechselte mit dem Grafen einen halbvertrauten Gruß und nickte Danglars zu.

Frau Baronin, sagte Danglars, erlauben Sie mir, Ihnen den Herrn Grafen von Monte Christo vorzustellen, den mein Korrespondent in Rom mit den dringendsten Empfehlungen an mich gewiesen hat. Ich habe nur ein Wort zu sagen, das ihn im Augenblick zum Liebling aller unserer schönen Damen machen wird; er kommt nach Paris, um ein Jahr hier zu bleiben und während dieses Jahres sechs Millionen auszugeben. Dies verspricht eine Reihe von Bällen, Diners und Soupers, wobei der Herr Graf, wie ich hoffe, uns ebensowenig vergessen wird, wie wir ihn bei unseren kleinen Festen!

Trotz der plumpen Art dieser Vorstellung ist doch ein Mensch, der nach Paris kommt, um in einem Jahre ein fürstliches Vermögen zu verbrauchen, etwas so Seltenes, daß Frau Danglars auf Monte Christo einen recht neugierigen Blick warf.

Wann sind Sie angelangt, mein Herr? fragte sie. – Gestern früh.

Und Sie kommen Ihrer Gewohnheit gemäß, wie man mir gesagt hat, vom Ende der Welt?

Diesmal nur von Cadix.

Oh! Sie erscheinen in einer abscheulichen Jahreszeit; Paris ist im Sommer fürchterlich; es gibt keine Bälle, keine Gesellschaften, keine Feste. Die italienische Oper ist in London, die französische Oper überall, nur nicht in Paris; und was das Théâtre-Français betrifft, so wissen Sie, daß es nirgends mehr zu finden ist. Somit bleiben uns als einzige Zerstreuung nur noch ein paar unglückliche Wettrennen auf dem Marsfelde und in Satory. Werden Sie rennen lassen, Herr Graf?

Ich, erwiderte Monte Christo, werde in Paris alles mitmachen, wenn ich das Glück habe, jemand zu finden, der mich recht in das Pariser Leben einführt.

Sie sind Liebhaber von Pferden, Herr Graf?

Ich habe einen Teil meines Lebens im Orient zugebracht, gnädige Frau, und die Orientalen schätzen, wie Sie wissen, nur zwei Dinge in der Welt, den Adel der Pferde und die Schönheit der Frauen.

Ah! Herr Graf, entgegnete die Baronin, Sie hätten, meine ich, die Frauen voransetzen können!

Sie sehen, Frau Baronin, daß ich recht hatte, wenn ich mir soeben einen Führer wünschte, der mir in den französischen Sitten Anleitung zu geben vermöchte.

In diesem Augenblick trat die Lieblingskammerfrau der Baronin Danglars ein, näherte sich ihrer Gebieterin und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Frau Danglars entgegnete erbleichend: Es ist unmöglich!

Nein, es ist die genaue Wahrheit, sagte die Kammerfrau.

Frau Danglars fragte, sich an ihren Gatten wendend: Ist es wahr, mein Herr?

Was, Frau Baronin? erwiderte er, sichtbar beunruhigt.

Man sagt mir, mein Kutscher habe, als er anspannen wollte, meine Pferde nicht mehr im Stalle gefunden. Ich frage Sie, was soll das bedeuten?

Frau Baronin, hören Sie mich!

Oh! ich höre schon, denn ich bin neugierig, zu erfahren, was Sie mir sagen werden; ich mache diese Herren zu Richtern zwischen uns und will Ihnen zunächst mitteilen, wie sich die Sache verhält. Der Baron hat zehn Pferde im Stall; unter diesen zehn Pferden gehören mir zwei, reizende Tiere, die schönsten Pferde von Paris; Sie kennen sie, Herr Debray, meine Apfelschimmel. Nun, jetzt eben, als Frau von Villefort meinen Wagen von mir entlehnt, als ich ihr ihn für morgen zu einer Spazierfahrt zusage, finden sich meine zwei Pferde nicht mehr vor. Herr Danglars hat wahrscheinlich ein paar tausend Franken dabei verdient. Wie verhaßt ist mir doch dieser gemeine Krämergeist!

Frau Baronin, erwiderte Danglars, die Pferde waren zu lebhaft und kaum vier Jahre alt, ich werde ähnliche, sogar schönere für Sie finden, wenn es welche gibt, aber sanfte, ruhige Pferde, die mir keine solche Angst einflößen.

Die Baronin zuckte die Achseln mit der Miene tiefer Verachtung.

Danglars schien diese mehr als deutliche Gebärde nicht zu bemerken und sagte, sich an Monte Christo wendend: In der Tat, ich bedaure, Sie nicht früher gekannt zu haben, Herr Graf; Sie richten Ihr Haus ein?

Ja wohl.

Ich hätte Ihnen diese Tiere angetragen; denken Sie, ich habe sie um ein Nichts weggegeben; aber wie gesagt, ich wollte sie los sein, es waren zu feurige Tiere.

Mein Herr, sagte der Graf, ich danke Ihnen, ich habe heute morgen ziemlich gute und nicht zu teuer gekauft. Doch sehen Sie, Herr Debray! Sie sind, glaube ich, Kenner?

Während Debray ans Fenster trat, näherte sich Danglars seiner Frau und sagte ganz leise zu ihr: Stellen Sie sich vor, man kam und bot mir einen ungeheuren Preis für die Pferde. Ich weiß nicht, welcher Narr, der sich mit Gewalt zu Grunde richten will, heute seinen Intendanten zu mir schickte; nur so viel ist gewiß, daß ich sechzehntausend Franken bei dem Handel gewinne. Schmollen Sie nicht, und ich gebe Ihnen viertausend davon und Eugenie ebenfalls viertausend.

Frau Danglars ließ einen niederschmetternden Blick auf ihren Gatten fallen.

Wenn ich mich nicht täusche, sind Ihre Pferde, Ihre eigenen Pferde, an den Wagen des Grafen gespannt, rief Debray.

Meine Apfelschimmel! rief Frau Danglars und eilte ans Fenster. Danglars war ganz verblüfft.

Ist es möglich? rief Monte Christo, den Erstaunten spielend.

Es ist unglaublich, murmelte der Bankier.

Die Baronin sagte Debray ein paar Worte ins Ohr, und dieser näherte sich Monte Christo.

Die Baronin läßt Sie fragen, um welchen Preis ihr Gatte sein Gespann an Sie verkauft hat?

Ich weiß es nicht genau; es ist eine Überraschung, die mir mein Intendant, ich glaube um dreißigtausend Franken, bereitet hat.

Debray überbrachte der Baronin die Antwort.

Danglars erwiderte nichts, er sah eine unheilvolle Szene voraus; bereits war die Stirn der Baronin gefaltet und weissagte Sturm. Debray fühlte dies, schützte ein Geschäft vor und entfernte sich, Monte Christo, der mit Genugtuung die Lage der Dinge bemerkte, verbeugte sich vor Frau Danglars, ging ebenfalls weg und überließ den Baron dem Grimme seiner Gemahlin.

Gut, dachte Monte Christo, während er sich zurückzog; ich habe mein Ziel so ziemlich erreicht; ich halte den Frieden dieser Ehe in meinen Händen und kann mit einem Schlage das Herz des Mannes und das der Frau gewinnen; welches Glück! Aber ich bin Fräulein Eugenie Danglars nicht vorgestellt worden, während ich sie doch so gern hätte kennen lernen. Doch wir sind in Paris und haben Zeit vor uns. Es wird noch geschehen!

Zwei Stunden später erhielt Frau Danglars einen bestrickend liebenswürdigen Brief vom Grafen, worin er ihr schrieb, da er sein Erscheinen in der Pariser Welt nicht damit anfangen wolle, daß er eine hübsche Frau in Verzweiflung bringe, so bitte er sie, ihre Pferde zurückzunehmen. Als das Gespann wieder zurückgesandt wurde, trugen die Pferde das gleiche Geschirr, nur hatte der Graf in die Mitte jeder Rosette über dem Ohre einen Diamanten nähen lassen.

Danglars empfing auch einen Brief. Der Graf bat ihn um Erlaubnis, bei der Baronin dieser Millionärslaune entsprechen zu dürfen, und schrieb ihm zugleich, er möge die orientalische Manier entschuldigen, mit der die Zurücksendung der Pferde stattfinde.

Durch einen Schlag auf das Glöckchen gerufen, trat Ali am andern Morgen in das Kabinett des Grafen, der mit ihm am Abend vorher nach Auteuil gefahren war.

Ali, sagte Monte Christo, ich habe von deiner Geschicklichkeit im Werfen des Lassos gehört.

Ali machte ein bejahendes Zeichen und richtete sich stolz auf.

Du könntest also mit dem Lasso einen Ochsen aufhalten?

Ali machte mit dem Kopfe ein bejahendes Zeichen.

Einen Löwen?

Ali machte die Gebärde eines Menschen, der den Lasso schleudert, und ahmte ein ängstliches Gebrüll nach.

Ich begreife, sagte der Graf, du hast den Löwen gejagt. Würdest du zwei toll gewordene Pferde in ihrem Laufe aufhalten?

Ali lächelte.

Wohl, so höre! sagte Monte Christo. Sogleich wird ein Wagen, fortgerissen von zwei Apfelschimmeln, denselben, die gestern noch mein waren, hier vorüberkommen. Du mußt diesen Wagen vor meiner Tür anhalten, und sollten die Pferde dabei zu Grunde gehen.

Ali ging auf die Straße hinab und zog vor der Tür eine Linie auf dem Pflaster; dann kehrte er zurück und zeigte dem Grafen, der ihm mit den Augen gefolgt war, die Linie.

Der Graf schlug ihm sanft auf die Schulter . . . dies war seine Weise, Ali zu danken; dann ging der Nubier abermals hinab und rauchte seinen Tschibuk auf einem Randsteine, der die Ecke des Hauses und der Straße bildete, während Monte Christo sich mit anderen Dingen beschäftigte.

Gegen fünf Uhr hörte man ein entferntes Rollen, das sich mit großer Geschwindigkeit näherte; es erschien eine Kalesche, deren Kutscher vergebens die Pferde zurückzuhalten suchte, die wütend, mit gesträubten Mähnen, in wahnsinnigen Sprüngen fortstürzten.

Eine junge Frau und ein Kind von sieben Jahren, die sich im Wagen eng umschlossen hielten, waren vor übergroßem Schrecken außer stande, einen Schrei auszustoßen; ein Stein unter einem Rad oder ein Anstreifen an einem Baume hätte genügt, den krachenden Wagen zu zerschmettern. Die Schreckensrufe der Vorübergehenden begleiteten das dahinsausende Gefährt.

Plötzlich legte Ali seinen Tschibuk weg, zog den Lasso aus der Tasche, schleuderte ihn, daß er dreimal die Vorderbeine des linken Pferdes umwickelte, und ließ sich ein paar Schritte durch die Heftigkeit der Bewegung fortreißen, aber dann stürzte das gefesselte Pferd nieder und lähmte die Anstrengungen des aufrecht gebliebenen, das mit aller Gewalt seinen Lauf fortzusetzen trachtete. Der Kutscher benutzte diese Frist, um von seinem Sitze herabzuspringen; doch bereits hatte Ali das zweite Pferd mit eiserner Faust an den Nüstern gepackt, und vor Schmerz wiehernd, stand das Tier regungslos.

Dies alles spielte sich so schnell ab, wie die Kugel zum Ziel fliegt. Doch reichte es hin, daß ein Mann aus dem Hause, vor dem der Unfall sich ereignet hatte, mit mehreren Dienern herbeieilen konnte; in dem Augenblick, wo der Kutscher den Schlag öffnete, hob er aus dem Wagen die Dame, die sich mit einer Hand an ein Kissen anklammerte, während sie mit der andern ihren ohnmächtigen Sohn an die Brust drückte. Monte Christo trug beide in den Salon und sagte, während er sie auf einen Diwan niederlegte: Seien Sie ruhig, gnädige Frau, Sie sind gerettet.

Die Frau kam zu sich und deutete auf ihren Sohn mit einem Blicke, beredter als alle Bitten.

Ja, ich begreife, sagte der Graf, das ohnmächtige Kind aufmerksam betrachtend; doch seien Sie unbesorgt, es ist ihm kein Unglück widerfahren, die bloße Angst hat den Kleinen in diesen Zustand versetzt.

Oh, mein Herr, rief die Mutter, sagen Sie mir das nicht, um mich zu beruhigen? Sehen Sie, wie bleich er ist! Mein Sohn! Mein Kind! Mein Eduard! Antworte doch deiner Mutter! Ach! mein Herr, lassen Sie einen Arzt rufen! Mein Vermögen dem, der mir meinen Sohn zurückgibt!

Monte Christo machte mit der Hand eine Gebärde, um die in Tränen zerfließende Mutter zu beruhigen, öffnete ein Kästchen, nahm daraus ein mit Gold verziertes Riechfläschchen von böhmischem Kristall, das einen blutroten Saft enthielt, und ließ einen einzigen Tropfen auf die Lippen des Kindes fallen.

Obgleich immer noch bleich, schlug das Kind sogleich die Augen auf. Bei diesem Anblick ward die Mutter beinahe wahnsinnig vor Freude.

Wo bin ich? rief sie, und wem verdanke ich so viel Glück nach einer so grausamen Prüfung?

Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, Sie sind bei einem Manne, der sich äußerst glücklich fühlt, daß er Ihnen einen Kummer ersparen konnte.

Oh! fluchwürdige Neugierde, versetzte die Dame; ganz Paris sprach von den schönen Pferden der Frau Danglars, und ich hatte den tollen Gedanken, mit ihnen fahren zu wollen.

Wie? rief der Graf mit vortrefflich gespielter Verwunderung, es sind die Pferde der Baronin?

Ja, mein Herr, Sie kennen sie?

Frau Danglars? . . . Ich habe die Ehre, und es gewährt mir doppelte Freude, daß ich Sie der Gefahr entrissen habe, der Sie durch diese Pferde preisgegeben waren; denn Sie hätten diese Gefahr mir zuschreiben können; ich hatte die Pferde gestern dem Baron abgekauft, die Baronin schien dies jedoch sehr zu bedauern, so daß ich sie ihr mit der Bitte, sie von meiner Hand anzunehmen, zurückschickte.

Sie sind also der Graf von Monte Christo, von dem Hermine gestern so viel mit mir sprach?

Ja, gnädige Frau.

Und ich, mein Herr, bin Frau Heloise von Villefort.

Der Graf verbeugte sich wie ein Mensch, vor dem man einen Namen zum ersten Male ausspricht.

Oh! wie dankbar wird Herr von Villefort sein! fuhr Heloise fort, denn Sie haben ihm seine Frau und sein Kind wiedergegeben; ohne Ihren edelmütigen Diener wäre ich sicherlich mit meinem Kinde umgekommen.

Ach! gnädige Frau, ich zittre noch, wenn ich an die Gefahr denke, der Sie ausgesetzt waren.

Oh! ich hoffe, Sie werden mir erlauben, den aufopfernden Dienst dieses Menschen würdig zu belohnen.

Gnädige Frau, ich bitte Sie, verderben Sie mir Ali weder durch Lobeserhebungen, noch durch Belohnungen. Ali ist mein Sklave; dadurch, daß er Ihnen das Leben gerettet hat, dient er mir, und mir zu dienen, ist seine Pflicht.

Aber er hat sein Leben gewagt, sagte Frau von Villefort, auf welche dieser Gebieterton einen seltsamen Eindruck machte.

Ich habe ihm sein Leben gerettet, entgegnete Monte Christo, folglich gehört es mir.

Während des folgenden kurzen Stillschweigens konnte der Graf nach Gefallen das Kind betrachten, das seine Mutter mit ihren Küssen bedeckte. Es war klein, schwächlich, hatte eine so feine weiße Haut, wie sie gewöhnlich nur rothaarige Kinder besitzen, und dennoch bedeckte ein Wald von schwarzen, starren Haaren seine gewölbte Stirn und ließ, an beiden Seiten des Gesichtes auf die Schultern herabfallend, die Lebhaftigkeit seiner einen hohen Grad von Verschlagenheit und Bosheit verratenden Augen noch mehr hervortreten. Sein nun wieder roter Mund war von seinen Lippen umrandet, aber die Mundspalte zu weit; im ganzen deuteten die Züge des kaum achtjährigen Kindes auf mehr als zwölf Jahre. Es war sein erstes, daß er sich mit ungestümer Bewegung aus den Armen seiner Mutter losmachte und das Kästchen öffnete, woraus der Graf das Elixierfläschchen genommen hatte. Dann wollte er, ohne um Erlaubnis zu fragen, die Pfropfen aus den Phiolen ziehen.

Berühren Sie das nicht, sagte der Graf, einige von den Flüssigkeiten sind gefährlich, nicht nur, wenn man sie trinkt, sondern schon, wenn man ihren Geruch einatmet.

Frau von Villefort erbleichte, hielt den Arm ihres Sohnes zurück und zog ihn an sich. Sobald ihre Furcht beschwichtigt war, warf sie auf das Kästchen einen kurzen, aber ausdrucksvollen Blick, der dem Grafen nicht entging.

In dieser Sekunde trat Ali ein.

Frau von Villefort machte eine Bewegung der Freude und sagte, ihren Sohn noch näher an sich ziehend: Eduard, siehst du diesen guten Diener? Er hat sich sehr mutig benommen, denn er setzte sein Leben ein, um die Pferde, die uns fortrissen, und den Wagen anzuhalten. Danke ihm, denn ohne ihn wären wir zu dieser Stunde wohl beide tot.

Das Kind streckte seine Lippen vor, wandte verächtlich den Kopf ab und rief: Er ist zu häßlich!

Der Graf lächelte, als hätte das Kind seine Hoffnung erfüllt; Frau von Villefort aber schalt ihren Sohn.

Siehst du, sagte der Graf arabisch zu Ali, diese Dame bittet ihren Sohn, dir zu danken, daß du ihnen das Leben gerettet hast, und das Kind erwidert, du seiest zu häßlich.

Ali wandte einen Augenblick seinen gescheiten Kopf nach dem Kinde und betrachtete es scheinbar ausdruckslos, aber aus dem Beben seiner Nasenlöcher ersah Monte Christo, daß der Araber im Herzen verwundet war.

Mein Herr, fragte Frau von Villefort, während sie aufstand, um sich zu entfernen, wohnen Sie gewöhnlich in diesem Hause?

Nein, gnädige Frau, es ist ein Absteigequartier, das ich mir gekauft habe; ich wohne in der Avenue des Champs-Elysées Nr. 30. Doch ich sehe, Sie haben sich wieder völlig erholt und wollen zurückkehren. Es ist Befehl gegeben, Ihre Pferde an meinen Wagen zu spannen, und Ali, der häßliche Bursche, sagte er, dem Kinde zulächelnd, wird die Ehre haben, Sie nach Hause zu fahren, während Ihr Kutscher hier bleibt, um Ihren Wagen wieder instand setzen zu lassen. Sodann bringt ihn eines von meinen Gespannen unmittelbar zu Frau Danglars zurück.

Aber mit denselben Pferden zu fahren, werde ich nie wagen, entgegnete Frau von Villefort.

Oh! Sie sollen sehen, gnädige Frau, sagte Monte Christo, unter Alis Hand werden sie sanft wie die Lämmer.

Ali näherte sich in der Tat den Pferden, die man nur mit Mühe auf die Beine gebracht hatte. Er hielt in der Hand einen kleinen mit aromatischem Essig getränkten Schwamm, rieb damit die mit Schaum und Schweiß bedeckten Nüstern und Schläfen, und fast in demselben Augenblick fingen die Pferde an, heftig zu schnauben, und ihr ganzer Leib zitterte ein paar Sekunden lang.

Dann ließ Ali mitten unter einem Volkshaufen, den der Lärm und der Anblick des zertrümmerten Wagens vor das Haus gezogen hatte, die Pferde an das Coupé des Grafen spannen, faßte die Zügel, stieg auf den Bock und war zum großen Erstaunen der Anwesenden, die den rasenden Lauf der Pferde angesehen hatten, genötigt, sich kräftig der Peitsche zu bedienen, um sie von der Stelle und zu einem matten Trabe zu bringen.

Kaum hatte Frau von Villefort in zwei Stunden ihr Haus im Faubourg Saint-Honoré erreicht, so schrieb sie folgendes Billett an Frau Danglars:

Liebe Hermine!

Ich bin auf wunderbare Weise mit meinem Sohne durch denselben Grafen von Monte Christo gerettet worden, von dem wir uns gestern abend unterhielten und den ich heute durchaus nicht zu sehen erwartet hatte. Sie sprachen gestern von ihm mit einer Begeisterung, die mit aller Macht meinen kleinen Witz zum Spotte reizte. Heute aber finde ich, daß diese Begeisterung noch weit unter dem Werte des Mannes bleibt, der sie eingeflößt hat. Ihre Pferde waren wie wütend geworden und rissen den Wagen mit so unwiderstehlicher Gewalt fort, daß mein armer Eduard und ich ohne Zweifel am ersten Baume der Landstraße oder am ersten Randsteine des Dorfes die Hirnschale zerschmettert hätten, als ein Nubier, im Dienste des Grafen, ich glaube auf ein Zeichen des letzteren, die Pferde im Laufe aufhielt, auf die Gefahr, selbst in Stücke zerrissen zu werden, – und es ist ein Wunder, daß dies nicht der Fall war. Da eilte der Graf herbei, trug Eduard und mich in seine Wohnung und rief hier meinen Sohn wieder ins Leben. Ich wurde in seinem Wagen nach Hause geführt, den Ihrigen wird man Ihnen morgen zuschicken. Sie werden Ihre Pferde seit diesem Vorfalle sehr geschwächt finden: sie sind wie betäubt, es ist, als könnten sie sich selbst nicht vergeben, daß sie sich von einem Menschen haben bändigen lassen. Der Graf beauftragt mich, Ihnen zu sagen, zwei Tage Ruhe auf der Streu und als einziges Futter Gerste werden sie wieder so kräftig, das heißt, wieder so furchtbar machen, wie sie gestern gewesen sind.

Adieu! ich danke Ihnen nicht für meine Spazierfahrt, Und wenn ich es mir überlege, ist es unbillig, daß ich Ihnen wegen des Mißgeschicks mit Ihrem Gespann grolle, denn diesem Umstand verdanke ich es, daß ich den Grafen von Monte Christo gesehen habe, und dieser scheint mir, abgesehen von den Millionen, über die er verfügt, ein äußerst seltsames, ein interessantes Problem, das ich um jeden Preis studieren will, selbst um den Preis einer neuen Spazierfahrt mit Ihren Pferden.

Eduard hat den Unfall mit einem wunderbaren Mute ausgehalten. Er ist ohnmächtig geworden, hat jedoch zuvor keinen Schrei ausgestoßen und nachher keine Träne vergossen. Sie werden mir abermals sagen, meine Mutterliebe verblende mich; aber in diesem kleinen, so schwächlichen, so zarten Körper wohnt eine eiserne Seele.

Unsere kleine Valentine läßt Ihrer Eugenie viel Schönes sagen; und ich umarme Sie von ganzem Herzen.

Heloise von Villefort.

N. S. Machen Sie doch, daß ich auf irgend eine Art mit dem Grafen von Monte Christo bei Ihnen zusammentreffe; ich will ihn durchaus wiedersehen. Übrigens hat mir Herr von Villefort versprochen, dem Grafen einen Besuch zu machen, und ich hoffe, er wird den Besuch erwidern.

Noch an demselben Abend bildete das Ereignis von Auteuil den Hauptgegenstand der Unterhaltung; Albert erzählte es seiner Mutter, Chateau-Renaud im Jockey-Klub, Debray im Salon des Ministers, Beauchamp sagte dem Grafen sogar in seinem Journal Artigkeiten in einem Artikel von zwanzig Zeilen, der den edlen Fremden zum Helden aller Damen der hohen Aristokratie erhob.

Viele Leute ließen sich bei Frau von Villefort einschreiben, um das Recht zu haben, ihren Besuch zu geeigneter Zeit zu wiederholen und dann aus ihrem Munde alle Einzelheiten des Abenteuers zu vernehmen. Herr von Villefort aber zog, wie Heloise gesagt hatte, einen schwarzen Frack und gelbe Handschuhe an und fuhr noch an demselben Abend vor der Tür des Hauses Nr. 30 in den Champs-Elysées vor.


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