Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war wirklich der Graf von Monte Christo, der bei Frau von Villefort in der Absicht erschien, den Besuch des Staatsanwalts zu erwidern, und es wurde, wie sich leicht denken läßt, durch seinen Namen das ganze Haus in Bewegung gesetzt.
Frau von Villefort befand sich allein im Salon, als man den Grafen meldete, und sie ließ sogleich ihren Sohn kommen, damit das Kind seine Danksagung bei Monte Christo wiederhole. Eduard, der seit zwei Tagen unablässig von dieser hohen Person hatte sprechen hören, lief eilig herbei, nicht aus Gehorsam gegen die Mutter und ebensowenig, um dem Grafen zu danken, sondern aus Neugierde und um irgend eine Wahrnehmung zu machen, mit deren Hilfe er einen Streich ausführen könnte, der seine Mutter stets zu der Äußerung veranlaßte: Oh! das böse Kind; doch ich muß ihm verzeihen, es hat so viel Witz!
Nach dem ersten Austausche der gewöhnlichen Höflichkeiten erkundigte sich der Graf nach Herrn von Villefort.
Mein Gatte speist beim Herrn Kanzler, antwortete die junge Frau; er ist soeben weggefahren und wird gewiß sehr bedauern, nicht das Glück zu haben, Sie zu sehen. Wo ist denn deine Schwester Valentine! sagte Frau von Villefort zu Eduard; man benachrichtige sie, damit ich die Ehre haben kann, sie dem Herrn Grafen vorzustellen.
Sie haben eine Tochter, gnädige Frau? fragte der Graf; das muß noch ein Kind sein?
Es ist die Tochter des Herrn von Villefort, erwiderte die junge Frau; eine Tochter aus erster Ehe, eine hübsche, große Person.
Aber schwermütig, unterbrach sie Eduard.
Dieser junge Naseweis hat ziemlich recht und wiederholt nur, was er mich sehr oft mit Kummer hat sagen hören; denn Fräulein von Villefort ist, trotz allem, was wir zu ihrer Zerstreuung tun, von einem traurigen Charakter und von einer Schweigsamkeit, die häufig der Wirkung ihrer Schönheit Eintrag tut. In diesem Augenblick trat Valentine ein. Sie schien in der Tat traurig zu sein, und bei aufmerksamer Betrachtung hätte man in ihren Augen Spuren von Tränen wahrnehmen können.
Valentine war groß, schlank, achtzehn Jahre alt, hatte hell kastanienbraune Haare, dunkelblaue Augen und zeichnete sich durch den würdevollen Gang und durch die Haltung aus, die auch ihrer Mutter eigen gewesen war. Ihre weißen, zarten Hände, ihr Perlmutterhals, ihre rosig gefärbten Wangen verliehen ihr beim ersten Anblick das Aussehen einer von den schönen Engländerinnen, die man so poetisch mit Schwänen verglichen hat, welche sich auf der Fläche des Wassers spiegeln.
Sie trat also ein und grüßte, als sie bei ihrer Mutter den Fremden erblickte, von dem sie so viel hatte sprechen hören, ohne mädchenhafte Ziererei und ohne die Augen niederzuschlagen, mit einer Anmut, welche die Aufmerksamkeit des Grafen verdoppelte.
Fräulein von Villefort, meine Stieftochter, stellte Frau von Villefort vor.
Und der Herr Graf von Monte Christo, König von China, Kaiser von Cochinchina, rief der Knabe, seiner Schwester einen versteckten Blick zuwerfend.
Diesmal erbleichte Frau von Villefort und war nahe daran, auf diese häusliche Geißel wirklich ärgerlich zu werden. Doch der Graf lächelte im Gegenteil und schien das Kind mit Wohlgefallen zu betrachten, was die Freude und Begeisterung seiner Mutter auf den höchsten Grad steigerte.
Aber, gnädige Frau, sagte der Graf, das Gespräch wieder anknüpfend und abwechselnd Frau von Villefort und Valentine anschauend, habe ich nicht bereits die Ehre gehabt, Sie irgendwo zu sehen, Sie und das Fräulein? Ich dachte soeben daran, und als das Fräulein eintrat, warf sein Anblick einen neuen Schimmer auf eine verworrene Erinnerung . . . verzeihen Sie mir diesen Ausdruck.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, Fräulein von Villefort liebt die Gesellschaft nur wenig, und wir gehen selten aus, sagte die junge Frau.
Auch habe ich das Fräulein, sowie Sie, gnädige Frau, und diesen reizenden Jungen nicht in der Gesellschaft gesehen. Die Pariser Gesellschaft ist mir übrigens völlig unbekannt, denn ich habe, wie ich glaube, bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu bemerken, daß ich erst seit ein paar Tagen in Paris bin. Nein, wenn Sie mir erlauben, einen Augenblick nachzudenken . . . Warten Sie . . .
Der Graf legte seine Hand an seine Stirn, als wollte er seine Erinnerungen zusammendrängen: Nein, es ist außerhalb . . . es ist . . . ich weiß nicht . . . aber es scheint mir, diese Erinnerung ist unzertrennlich von einer schönen Sonne und einem religiösen Feste . . . Das Fräulein hielt Blumen in der Hand; das Kind lief im Garten einem prächtigen Pfau nach, und Sie, gnädige Frau, saßen unter einer Weinlaube. Helfen Sie mir doch, gnädige Frau! Erinnern Sie sich an nichts?
In der Tat, nein, erwiderte Frau von Villefort.
Der Herr Graf hat uns vielleicht in Italien gesehen, bemerkte Valentine schüchtern.
In der Tat, in Italien . . . das ist möglich, sagte Monte Christo. Sie haben Italien bereist, mein Fräulein?
Frau von Villefort und ich waren vor zwei Jahren dort. Die Ärzte fürchteten für meine Brust und empfahlen mir die Luft in Neapel. Wir reisten nach Bologna, Perugia und Rom.
Ah! so ist es, mein Fräulein, rief Monte Christo, als genüge diese einfache Andeutung, um seine Erinnerungen festzustellen. Es war in Perugia am Tage des Fronleichnamsfestes, im Garten des Gasthauses zur Post, wo der Zufall uns zusammenführte, und wo ich, wie ich mich nun entsinne, Sie zu sehen die Ehre gehabt habe.
Ich erinnere mich der Stadt Perugia vollkommen, mein Herr, und ebenso des Gasthauses zur Post und des Festes, von dem Sie sprechen, sagte Frau von Villefort; aber ich entsinne mich ganz und gar nicht, die Ehre gehabt zu haben, Sie dort zu sehen.
Ich will Ihnen helfen, versetzte der Graf. Der Tag war glühend heiß; Sie erwarteten Pferde, die wegen der Feierlichkeit nicht kamen. Das Fräulein ging in den Garten, und Ihr Sohn lief einem Vogel nach. Sie, gnädige Frau, verweilten unter der Weinlaube; erinnern Sie sich nicht, daß Sie, auf einer Steinbank sitzend, ziemlich lange mit jemand plauderten?
Ja, wahrhaftig ja, sagte die junge Frau errötend, ich entsinne mich dessen, mit einem Manne, der in einen langen wollenen Mantel gehüllt war . . . mit einem Arzte, glaube ich.
Ganz richtig, dieser Mann war ich; ich wohnte in dem Gasthofe und hatte meinen Kammerdiener vom Fieber geheilt, weshalb man mich für einen Arzt hielt. Wir plauderten lange von gleichgültigen Dingen, von Perugino, von Raphael, von Sitten und Gebräuchen, von jener berüchtigten Aqua Tofana, von der man Ihnen, glaube ich, gesagt hatte, daß noch einige Personen in Perugia das Geheimnis bewahrten.
Ah! es ist wahr, sagte Frau von Villefort mit einer gewissen Unruhe, ich erinnere mich dessen.
Ich kann mich auf die Einzelheiten unserer Unterhaltung nicht mehr besinnen, versetzte der Graf mit vollkommener Ruhe, doch weiß ich noch, daß Sie, den allgemeinen Irrtum über meine Person teilend, mich über die Gesundheit von Fräulein von Villefort um Rat fragten.
Aber Sie waren wirklich Arzt, da Sie Kranke heilten?
Molière oder Beaumarchais würden Ihnen antworten, gnädige Frau, daß ich, gerade weil ich es nicht war, meine Kranken zwar nicht geheilt habe, aber sie nicht gehindert habe zu genesen; ich begnüge mich, Ihnen zu bemerken, daß ich ziemlich gründlich die Chemie und die Naturwissenschaften studiert habe, aber nur als Liebhaber.
In diesem Augenblick schlug es sechs Uhr.
Es ist sechs Uhr, sagte Frau von Villefort sichtbar erregt; willst du nicht sehen, Valentine, ob dein Großvater zur Mahlzeit bereit ist?
Valentine stand auf, verbeugte sich vor dem Grafen und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen.
Oh! mein Gott, sollten Sie Fräulein von Villefort meinetwegen entfernt haben? sagte der Graf, als Valentine weggegangen war.
Durchaus nicht, erwiderte lebhaft die junge Frau; es ist die Stunde, wo wir Herrn Noirtier das traurige Mahl einnehmen lassen, das sein unglückliches Dasein fristet. Sie wissen, mein Herr, in welch einem beklagenswerten Zustande sich der Vater meines Gatten befindet?
Ja, gnädige Frau, Herr von Villefort hat mir davon gesagt; eine Lähmung, glaube ich.
Ach! ja, der arme Greis ist jeder Bewegung unfähig, die Seele allein wacht in dieser menschlichen Maschine, aber ebenfalls bleich und zitternd, und wie eine Lampe, die dem Erlöschen nahe ist. Doch verzeihen Sie, mein Herr, daß ich Sie mit unserem häuslichen Unglück unterhalte. Ich unterbrach Sie in dem Augenblick, wo Sie mir sagten, Sie seien ein geschickter Chemiker.
Oh! das sagte ich nicht, gnädige Frau, entgegnete lächelnd der Graf; im Gegenteil, ich studierte die Chemie, weil ich, entschlossen, im Orient zu leben, das Beispiel des Königs Mithridates befolgen wollte.
Mithridates, rex Ponticus, rief der junge Naseweis, während er Silhouetten aus einem herrlichen Album schnitt, derselbe, der jeden Morgen eine Tasse Gift mit Rahm frühstückte.
Eduard, abscheuliches Kind, laß uns allein! rief Frau von Villefort, das verstümmelte Buch den Händen des Knaben entreißend, und führte ihn zur Tür. Suche deine Schwester bei dem guten Papa Noirtier auf.
Der Graf folgte ihr mit den Augen und murmelte: Ich will doch sehen, ob sie die Tür hinter ihm schließt.
Frau von Villefort schloß die Tür mit der größten Behutsamkeit hinter ihrem Sohne, der Graf gab sich den Anschein, als bemerkte er es nicht. Dann schaute die junge Frau noch einmal aufmerksam umher und setzte sich wieder.
Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, gnädige Frau, sagte der Graf mit gutmütigem Tone, erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie sehr streng gegen diesen reizenden Jungen sind.
Ich muß wohl, Herr Graf, erwiderte Frau von Villefort mit einem wahrhaft mütterlichen Ausdrucke.
Herr Eduard rezitierte seinen Cornelius Nepos, als er vom König Mithridates sprach, und Sie unterbrachen ihn bei Anführung einer Stelle, wodurch er bewies, daß sein Lehrer die Zeit nicht mit ihm verloren hat.
Es ist nicht zu leugnen, Herr Graf, sagte die Mutter geschmeichelt, daß er alles lernt, was er lernen will. Er hat nur den Fehler, daß er zu eigensinnig ist. Doch um auf das zu kommen, was er vorhin sagte, glauben Sie, Herr Graf, daß sich Mithridates dieser Vorsichtsmaßregeln bediente, und daß dieselben wirksam sind?
Ich glaube so sehr daran, gnädige Frau, daß ich selbst, der ich mit Ihnen spreche, in Neapel, in Palermo und in Smyrna, das heißt, bei drei Veranlassungen, wo ich ohne diese Vorsichtsmaßregeln mein Leben hätte lassen können, davon Gebrauch gemacht habe.
Ja, es ist wahr; ich erinnere mich, daß Sie mir bereits etwas Ähnliches in Perugia erzählten.
Wirklich? rief der Graf mit einem bewunderungswürdig gespielten Erstaunen; ich entsinne mich dessen nicht. Es ist wahr, ich habe Russen, ohne im geringsten dadurch belästigt zu werden, vegetabilische Substanzen verschlingen sehen, die unfehlbar einen Neapolitaner oder einen Araber umgebracht hätten.
Sie glauben also, der Erfolg sei bei uns noch sicherer, als im Orient, und in unserm nebeligen und regnerischen Klima gewöhne sich ein Mensch leichter an diese stufenweise Einsaugung des Giftes als in der heißen Zone?
Allerdings: doch wohl verstanden, man wird nur gegen das Gift geschützt sein, an das man sich gewöhnt hat?
Ich begreife; und wie würden Sie sich daran gewöhnen oder vielmehr, wie haben Sie sich daran gewöhnt?
Das ist ganz leicht. Nehmen Sie an, Sie wüßten zum voraus, welches Giftes man sich gegen Sie bedienen will, nehmen Sie an, dieses Gift sei . . . Brucin zum Beispiel.
Das Brucin zieht man, glaube ich, aus der falschen Angosturarinde, sagte Frau von Villefort.
Ganz richtig, gnädige Frau; aber ich sehe, ich brauche Sie nicht mehr viel zu lehren, und mache Ihnen mein Kompliment; solche Kenntnisse sind selten bei Frauen.
Oh! ich gestehe, erwiderte Frau von Villefort, ich habe die heftigste Leidenschaft für die verborgenen Wissenschaften, die wie Poesie zur Einbildungskraft sprechen und sich wie eine algebraische Gleichung in Ziffern auflösen; ich bitte Sie, fahren Sie fort! Was Sie mir sagen, interessiert mich im höchsten Grade.
Nun wohl, fuhr Monte Christo fort, nehmen Sie an, dieses Gift sei Brucin, und Sie nehmen am ersten Tage ein Milligramm, am zweiten zwei Milligramm, so haben Sie nach Verlauf von zehn Tagen ein Zentigramm, nach Verlauf von weiteren zwanzig Tagen drei Zentigramm, das heißt eine Dosis, die bereits für eine nicht ebenso vorbereitete Person sehr gefährlich wäre. Nach Verlauf eines Monats endlich werden Sie, wenn Sie Wasser aus derselben Flasche trinken, die Person töten, die zugleich mit Ihnen von diesem Wasser getrunken hat, ohne an etwas anderem als an einer leichten Unbehaglichkeit wahrzunehmen, daß irgend eine giftige Substanz mit dem Wasser vermischt gewesen ist.
Sie kennen kein anderes Gegengift?
Ich kenne keines.
Ich habe oft Mithridates' Geschichte gelesen, hielt sie aber stets für eine Fabel, sagte Frau von Villefort nachdenkend.
Nein, es ist ausnahmsweise eine Wahrheit; doch was Sie mich da fragen, gnädige Frau, ist nicht das Resultat einer bloßen Laune, denn Sie richteten bereits vor zwei Jahren ähnliche Fragen an mich, und Sie sagen mir soeben, seit langer Zeit beschäftige Sie Mithridates' Geschichte.
Es ist wahr, die Lieblingsstudien meiner Jugend waren Botanik und Mineralogie, und als ich später erfuhr, die Anwendung einfacher Heilmittel erkläre häufig die ganze Geschichte der Völker und das ganze Leben der Menschen des Orients, so bedauerte ich, daß ich kein Mann bin, um ein Fontana oder ein Cabanis zu werden.
Um so mehr, versetzte Monte Christo, als die Orientalen sich, nicht, wie Mithridates, damit begnügen, sich aus den Giften einen Panzer zu machen, sondern sich auch einen Dolch daraus bilden. Die Wissenschaft wird in ihren Händen nicht allein eine Verteidigungs-, sondern häufig auch eine Angriffswaffe, die eine dient gegen die physischen Leiden, die andere gegen ihre Feinde; mit dem Opium, mit der Belladonna, mit dem Haschisch verschaffen sie sich im Traume das Glück, das ihnen Gott in Wirklichkeit verweigert hat; mit dem Schlangenholz, mit dem Kirschlorbeer schläfern sie die ein, die sie gern stumm machen wollen.
Wirklich! rief Frau von Villefort, deren Augen bei diesem Gespräche von einem seltsamen Feuer erglänzten.
Ei, mein Gott! ja, gnädige Frau, fuhr Monte Christo fort, die geheimen Dramen des Orients entstehen und entwickeln sich so: von der Pflanze, die Liebe erregt, bis zur Pflanze, die den Tod bringt; von dem Tranke, der den Himmel öffnet, bis zu dem, der einen Menschen in die Hölle versenkt; und die Kunst dieser Chemiker versteht es bewundernswert, das Mittel und das Übel den Liebesbedürfnissen und dem Verlangen der Rache anzupassen.
Aber, mein Herr, die orientalische Gesellschaft, in deren Mitte Sie einen Teil Ihres Lebens zugebracht haben, ist also wirklich phantastisch wie die Märchen, die aus Ihrem schönen Lande zu uns kommen? Ein Mensch kann dort ungestraft aus dem Wege geschafft werden? Die Sultane sind in der Tat Harun al Raschids, die nicht nur einem Giftmischer vergeben, sondern ihn sogar zum ersten Minister machen, wenn das Verbrechen geistreich ist?
Nein, gnädige Frau, das Phantastische besteht nicht einmal mehr im Orient, es gibt auch dort, unter anderen Namen und unter anderen Kostümen Polizeikommissare, Untersuchungsrichter, Staatsanwälte und Sachverständige. Man hängt, man köpft, man spießt dort die Verbrecher nach Herzenslust; aber als gewandte Betrüger wußten diese Leute die menschliche Gerechtigkeit zu vereiteln und sich den Erfolg ihrer Unternehmungen durch geschickte Berechnungen zu sichern. Will bei uns der vom bösen Geist des Hasses oder der Habgier Besessene einen Feind vernichten oder einen Verwandten auf die Seite schaffen, so geht er zum Apotheker, gibt einen falschen Namen an, durch den er leichter entdeckt wird, als durch seinen wahren, und kauft, unter dem Vorwande, Ratten störten ihn im Schlafe, fünf bis sechs Gramm Arsenik. Ist er sehr geschickt, so geht er zu fünf bis sechs Apothekern und wird nun fünf- bis sechsmal leichter erkannt. Besitzt er dann sein spezifisches Mittel, so flößt er seinem Feinde, seinem Verwandten eine Dosis Arsenik ein, wovon ein Mammut umkommen würde, so daß das Opfer ohne alles weitere ein Gebrüll ausstößt, worüber die ganze Gegend in Aufruhr gerät. Dann kommt eine ganze Heerschar von Polizeiagenten und Gendarmen; man schickt nach einem Arzte, der den Toten öffnet und in seinen Eingeweiden das Arsenik mit Löffeln sammelt. Am andern Tag erzählen hundert Zeitungen die Begebenheit, samt dem Namen des Opfers und des Mörders. Schon an demselben Abend kommen die Apotheker und sagen: Ich habe das Arsenik an den Herrn verkauft; und dann wird der einfältige Verbrecher verhaftet, eingekerkert, verhört, konfrontiert, verurteilt und guillotiniert; ist es aber eine Frau von einiger Bedeutung, so wird sie auf Lebenszeit eingesperrt. So verstehen Ihre Nordländer die Chemie, gnädige Frau.
Was wollen Sie! rief lachend die junge Frau, man tut, was man kann. Nicht alle Welt besitzt das Geheimnis der Medici oder der Borgia.
Wie ist es aber im Orient, gnädige Frau? Kommen Sie nach Aleppo oder auch nur nach Neapel und Rom, und Sie sehen durch die Straßen aufrechte, frische Menschen schreiten, von denen ihnen der hinkende Teufel sagen könnte: Dieser Herr ist seit drei Wochen vergiftet und wird in einem Monat völlig tot sein.
Sie haben also das Geheimnis der berüchtigten Aqua Tofana wiedergefunden, von dem man mir in Perugia sagte, es sei verloren gegangen?
Ei, mein Gott! verliert sich etwas bei den Menschen, gnädige Frau? Die Künste rücken von der Stelle und wandern durch die Welt; die Dinge verändern nur ihren Namen, und der gemeine Haufe läßt sich dadurch täuschen; aber es ist immer dasselbe Resultat. Jedes Gift wirkt besonders auf dieses oder jenes Organ, das eine auf den Magen, das andere auf das Gehirn, und wieder ein anderes auf die Eingeweide. Gut, das Gift bewirkt einen Husten, dieser Husten eine Brustentzündung oder irgend eine andere Krankheit, die im Buche der Wissenschaft eingetragen ist, was sie aber nicht abhält, vollkommen tödlich zu sein. Wäre sie es nicht, so würde sie es durch die Mittel, welche die naiven Ärzte, gewöhnlich sehr schlechte Chemiker, anwenden; und so ist ein Mensch mit Kunst und nach allen Regeln getötet, wogegen die Justiz nichts einzuwenden hat, wie einer meiner Freunde, ein furchtbarer Chemiker, der ausgezeichnete Abbé Adelmonte von Taormina in Sizilien, sagte.
Das ist schrecklich, aber bewunderungswürdig, ich muß gestehen, ich hielt alle diese Geschichten für Erfindungen des Mittelalters. Es ist ein Glück, sagte Frau von Villefort, daß solche Substanzen nur von Chemikern bereitet werden können, denn, in der Tat, die eine Hälfte der Welt würde die andere vergiften.
Durch Chemiker oder durch Personen, die sich mit der Chemie beschäftigen, erwiderte mit gleichgültigem Tone Monte Christo.
Und dann, sagte Frau von Villefort, sich mit aller Gewalt ihren Gedanken entreißend, so geistreich es auch ausgeführt sein mag, so bleibt das Verbrechen doch immer Verbrechen, und wenn es der menschlichen Nachforschung entgeht, so entgeht es nicht dem Auge Gottes. Die Orientalen sind gewissenloser als wir; sie kennen keine Hölle. Bei uns aber bleibt immer das Gewissen noch übrig.
Ja, ja, erwiderte Monte Christo, zum Glück bleibt das Gewissen noch übrig, sonst wären wir sehr unglücklich. Nach jeder etwas kräftigen Handlung rettet uns das Gewissen, denn es liefert uns tausend gute Entschuldigungen, über die wir allein zu Gericht sitzen, und diese Gründe, so vortrefflich sie auch sein mögen, um uns den Schlaf zu gestatten, wären doch vielleicht nicht viel wert, wenn sie uns vor einem Tribunal das Leben retten sollten. So mußte Richard III. vortrefflich von seinem Gewissen bedient sein, nachdem er die Kinder Eduards IV. auf die Seite geschafft hatte. Er konnte sich in der Tat sagen: Diese Kinder eines grausamen und rachsüchtigen Königs hatten alle Laster ihres Vaters geerbt, was ich allein in ihren jugendlichen Neigungen zu erkennen imstande war, diese Kinder hinderten mich, das englische Volk glücklich zu machen, das sie unfehlbar unglücklich gemacht hätten. So wurde Lady Macbeth von ihrem Gewissen bedient, denn sie wollte, was auch Shakespeare gesagt hat, nicht ihrem Gemahle, sondern ihrem Sohne einen Thron geben. Ah! die mütterliche Liebe ist eine große Tugend, eine so mächtige Triebfeder, daß sie gar viele Dinge entschuldigt; Lady Macbeth wäre auch nach dem Tode Duncans ohne ihr Gewissen eine sehr unglückliche Frau gewesen.
Frau von Villefort nahm mit größter Gier diese furchtbaren Grundsätze, diese schauderhaften Behauptungen in sich auf, die der Graf mit der ihm eigentümlichen naiven Ironie aussprach.
Nach einem Augenblick des Stillschweigens sagte sie: Wissen Sie, Herr Graf, daß Sie ein furchtbarer Geist sind, und daß Sie die Welt unter einem etwas leichenfarbigen Lichte ansehen? Haben Sie dieses Urteil über die Menschheit gewonnen, indem Sie sie durch Destillierkolben und Retorten betrachteten? Denn Sie hatten recht, Sie sind ein großer Chemiker, und das Elixier, das Sie meinen Sohn nehmen ließen, rief ihn so schnell zum Leben zurück . . .
Oh! trauen Sie ihm nicht, sagte Monte Christo, ein Tropfen von diesem Elixier genügte, um den sterbenden Knaben ins Leben zurückzurufen; aber drei Tropfen hätten das Blut so nach seiner Lunge getrieben, daß sein Herz gar gewaltig geschlagen hätte; sechs hätten ihm den Atem versetzt und eine viel ernstere Ohnmacht verursacht, als die war, in der Sie ihn erblickten, und zehn würden ihn getötet haben. Sie wissen, gnädige Frau, wie rasch ich ihn von den Flaschen entfernte, die er unklugerweise berührte?
Es ist also ein furchtbares Gift?
Oh, mein Gott! nein! Räumen wir vor allem das Wort Gift beiseite, denn man bedient sich in der Medizin der stärksten Gifte, die durch die Art, wie man sie anwendet, sehr heilsame Arzneimittel werden.
Was war es denn?
Ein geistreiches Präparat von meinem Freunde, dem vortrefflichen Adelmonte, dessen Anwendung er mich gelehrt hat.
Das muß ein vortreffliches Mittel gegen Krämpfe sein!
Ausgezeichnet, gnädige Frau, ich mache häufig Gebrauch davon; versteht sich mit aller möglichen Vorsicht, fügte der Graf lachend hinzu.
Ich glaube es wohl, versetzte Frau von Villefort in demselben Tone. Ich meinesteils, die so sehr zu Ohnmächten geneigt ist, könnte wohl einen Doktor Adelmonte brauchen, der mir Mittel ersänne, daß ich frei atmen und mich über die Gefahr, eines Tags an Erstickung zu sterben, beruhigen könnte. Da jedoch die Sache in Frankreich schwer zu finden ist und Ihr Abbé mir zuliebe wohl nicht geneigt sein wird, die Reise nach Paris zu machen, so halte ich mich an die krampfstillenden Mittel des Herrn Blanche; auch Minze und Hoffmannsche Tropfen spielen eine große Rolle bei mir. Sehen Sie die Pastillen, die ich mir besonders machen lasse, sind von doppelter Dosis.
Monte Christo eröffnete die Schildpattbüchse, die ihm die junge Frau reichte, und zog den Geruch der Pastillen als ein würdiger Kenner dieses Präparates ein.
Sie sind ausgezeichnet, sagte er, aber sie müssen verschluckt werden, wozu die ohnmächtige Person oft nicht mehr imstande ist. Mein Spezifikum ist mir lieber.
Nach der Wirkung, die ich davon gesehen habe, würde ich es gewiß auch vorziehen, doch es ist ohne Zweifel ein Geheimnis, und ich bin nicht unbescheiden genug, Sie darum zu bitten.
Aber ich, gnädige Frau, sagte Monte Christo, gestatte mir, es Ihnen anzubieten.
Oh, mein Herr . . .
Nur erinnern Sie sich, daß eine kleine Dosis ein Heilmittel, eine große Gift ist. Ein Tropfen bringt wieder zum Leben, fünf oder sechs müßten unfehlbar töten, und zwar auf eine um so schrecklichere Weise, als sie in einem Glase Wein nicht im geringsten den Geschmack verändern. Doch ich schweige, gnädige Frau, denn es sieht bald so aus, als wollte ich Ihnen raten.
Es hatte halb sieben Uhr geschlagen; man meldete eine Freundin der Frau von Villefort, die mit ihr zu Mittag speisen sollte.
Wenn ich die Ehre hätte, Sie zum dritten oder vierten Male, statt zum zweiten Male zu sehen, Herr Graf, sagte Frau von Villefort, wenn ich die Ehre hätte, mich Ihre Freundin nennen zu dürfen, statt nur einfach das Glück zu haben, Ihnen verbunden zu sein, so würde ich darauf bestehen, Sie beim Mittagsessen zu behalten, und ließe mich nicht durch eine Weigerung abweisen.
Tausend Dank, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, ich habe selbst eine Verbindlichkeit, der ich mich nicht entziehen kann. Ich versprach einer mir befreundeten griechischen Fürstin, die noch nie die große Oper gesehen hat und in dieser Hinsicht auf mich zählt, sie ins Theater zu führen.
Gehen Sie, Herr Graf, aber vergessen Sie mein Rezept nicht!
Wie, gnädige Frau, dazu müßte ich die Stunde vergessen, die ich mit Ihnen im Gespräche zugebracht habe, und das ist völlig unmöglich.
Der Graf von Monte Christo verbeugte sich und verließ den Salon.
Frau von Villefort blieb in Träume versunken.
Wahrlich, ein seltsamer Mann! sagte sie, er sieht mir ganz aus, als hieße er mit seinem wirklichen Namen Adelmonte.
Was Monte Christo betrifft, so hatte der Erfolg seine Erwartungen übertroffen.
Das ist ein guter Boden, sagte er im Weggehen zu sich selbst, ich bin überzeugt, daß das Korn, das man darauf fallen läßt, nicht unfruchtbar bleibt.
Und am andern Tage schickte er seinem Versprechen getreu das verlangte Elixier.