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Nachdem sie gebetet, erhob sich Rémys Gefährtin so schön und strahlend, daß dem Grafen ein Ausruf des Erstaunens und der Bewunderung entschlüpfte. Sie schien aus einem langen Schlafe zu erwachen, dessen Träume ihr Gehirn ermüdet und die Heiterkeit ihrer Züge gestört hatten, aus einem bleiernen Schlaf, der der feuchten Stirn des Schläfers die eingebildeten Qualen seines Traumes aufprägt.
Aus dieser Erstarrung sich lösend, ließ die junge Frau einen so sanften, so milden Blick, einen Blick voll so engelhafter Güte erstrahlen, daß sich Henri, leichtgläubig wie alle Liebende, einbildete, er sehe, wie sie endlich von seinen Leiden erweicht werde und einem Gefühle, wenn nicht des Wohlwollens, doch wenigstens der Dankbarkeit und des Mitleids nachgebe. Er trat zu der jungen Frau und sprach mit einer so tiefen und so sanften Stimme, daß es das Gemurmel des Windes zu sein schien: »Edle Frau, Ihr lebt! Oh! laßt mich Euch die Freude aussprechen, die aus meinem Herzen überströmt, da ich Euch hier in Sicherheit sehe, nachdem ich Euch dort auf der Schwelle des Grabes gesehen.«
»Es ist wahr, mein Herr,« erwiderte die Dame, »ich lebe durch Euch; und,« fügte sie mit einem traurigen Lächeln hinzu, »und ich möchte Euch sagen können, ich sei dankbar.«
»Nun, Madame,« sagte Henri mit einer erhabenen Anstrengung der Liebe und der Selbstverleugnung, »wenn es mir nur gelungen wäre, Euch zu retten, um Euch denen zurückzugeben, die Euch lieben.«
»Was sagt Ihr?« fragte die Dame.
»Denen, zu denen Ihr Euch durch so viele Gefahren begeben wolltet.«
»Mein Herr, die Menschen, die ich liebte, sind tot; die, zu denen ich mich begeben wollte, sind es auch.«
»Oh! Madame,« flüsterte der junge Mann, indem er sacht auf seine Knie sank, »werft Eure Augen auf mich, der ich so viel gelitten, auf mich, der ich Euch so sehr geliebt. Oh! wendet Euch nicht ab, Ihr seid jung, Ihr seid schön wie ein Engel des Himmels. Lest in meinem Herzen, das ich Euch öffne, und Ihr werdet sehen, daß es nicht ein Atom der Liebe enthält, wie sie die anderen Menschen verstehen. Ihr glaubt mir nicht! Prüft die vergangenen Stunden, wägt sie ab, eine nach der andern: welche hat mir die Freude gegeben? welche die Hoffnung? und dennoch habe ich ausgeharrt. Ihr habt mich weinen lassen, ich habe meine Tränen getrunken; Ihr habt mich leiden lassen, ich habe meine Schmerzen verschlungen; Ihr habt mich zum Tode getrieben, ich ging auf ihn zu, ohne mich zu beklagen. Selbst in diesem Augenblick, wo Ihr den Kopf abwendet, wo jedes meiner Worte, so glühend es auch sein mag, wie ein Tropfen eiskalten Wassers auf Euer Herz zu fallen scheint, ist meine Seele von Euch erfüllt, und ich lebe nur, weil Ihr lebt. War ich nicht soeben nahe daran, neben Euch zu sterben? Was habe ich verlangt? Nichts. Habe ich Eure Hand berührt? Nie anders, als um Euch einer Todesgefahr zu entreißen. Ich hielt Euch in meinen Armen, um Euch den Wellen abzuringen, habt Ihr den Druck meiner Brust gefühlt? Nein. Ich bin nur noch eine Seele, und alles andere ist in dem verzehrenden Feuer meiner Seele geläutert worden.«
»Oh! Herr, habt Mitleid, sprecht nicht so!«
»Auch aus Mitleid verdammt mich nicht. Man hat mir gesagt, Ihr liebtet niemand; oh, wiederholt mir diese Versicherung; es ist eine seltsame Gunst, wenn ein Mensch, der liebt, sagen hören möchte, er werde nicht geliebt; doch ich ziehe das vor, da Ihr mir damit auch sagt, Ihr seid für alle unempfindlich. Oh, antwortet mir, Ihr, die Ihr die einzige Anbetung meines Lebens seid.«
Trotz Henris Drängen war ein Seufzer die einzige Antwort der jungen Frau.
»Ihr sagt mir nichts,« fuhr der Graf fort. »Rémy hatte wenigstens mehr Mitleid mit mir, als Ihr; er suchte mich wenigstens zu trösten! Ah! ich sehe, Ihr antwortet mir nicht, weil Ihr mir nicht sagen wollt, Ihr habet in Flandern einen aufgesucht, der glücklicher ist als ich.«
»Herr Graf,« erwiderte die junge Frau mit majestätischer Feierlichkeit, »sagt mir nicht dergleichen, wie man es einer Frau sagt; ich bin ein Wesen einer andern Welt und lebe nicht in dieser; hätte ich nicht für Euch im Grunde meines Herzens das zärtliche, süße Lächeln einer Schwester für ihren Bruder, so würde ich zu Euch sprechen: ›Steht auf, Herr Graf, und belästigt nicht mehr Ohren, die einen Abscheu vor jedem Liebeswort haben.‹ Doch ich werde nicht so zu Euch sprechen, denn es schmerzt mich, Euch leiden zu sehen. Mehr noch: nun, da ich Euch kenne, nehme ich Eure Hand, lege sie auf mein Herz und sage Euch freiwillig: ›Seht, mein Herz schlägt nicht mehr; lebt bei mir, wenn Ihr wollt, und wohnt Tag für Tag, wenn es Euch Freude macht, der schmerzlichen Zerstörung eines durch die Martern der Seele getöteten Körpers bei.‹ Doch dieses Opfer, das Ihr als ein Glück hinnehmen würdet, ich bin davon fest überzeugt . . .«
»Oh! ja,« rief Henri.
»Wohl! dieses Opfer muß ich zurückweisen; es hat sich heute etwas in meinem Leben verändert, und ich habe nicht mehr das Recht, mich auf irgendeinen Arm der Welt zu stützen, nicht einmal auf den dieses edlen Geschöpfes, dieses hochherzigen Freundes, der dort ruht und sich einen Augenblick des Glückes der Vergessenheit erfreut. Ach! armer Rémy,« fuhr sie fort, indem sie ihrer Stimme den ersten Anklang von Gefühl gab, den Henri bei ihr wahrgenommen hatte, »armer Rémy, dein Erwachen wird auch traurig sein; du folgst nicht den Fortschritten meines Gedankens, du liest nicht in meinen Augen, du weißt nicht, daß du, aus deinem Schlummer erwachend, dich allein auf Erden finden wirst, denn allein muß ich zu Gott aufsteigen.«
»Was sagt Ihr?« rief Henri, »denkt Ihr denn auch daran zu sterben?«
Durch den schmerzlichen Schrei des jungen Grafen aufgeweckt, erhob Rémy den Kopf und horchte.
»Ihr habt mich beten sehen?« fuhr die junge Frau fort.
Henri machte ein bejahendes Zeichen.
»Dieses Gebet war mein Abschied von der Erde; die Freude, die Ihr auf meinem Antlitz wahrgenommen, die Freude, die mich in diesem Augenblick überströmt, ist dieselbe, die Ihr an mir wahrnehmen würdet, wenn der Engel des Todes zu mir spräche: Erhebe dich, Diana, und folge mir zu den Füßen Gottes!«
»Diana! Diana!« flüsterte Henri, »ich weiß nun, wie Ihr heißt . . . Diana, ein teurer, ein angebeteter Name! . . .«
Und der Unglückliche legte sich zu den Füßen der jungen Frau nieder und wiederholte diesen Namen mit der Trunkenheit eines unsäglichen Glückes.
»Oh! still,« sagte die junge Frau mit ihrem feierlichen Tone, »vergesst diesen Namen, der mir entschlüpft ist; kein Lebendiger hat das Recht, mir, indem er ihn ausspricht, das Herz zu durchbohren.«
»Oh! Madame,« rief Henri; »nun, da ich Euren Namen weiß, sagt mir nicht, daß Ihr sterben wollt.«
»Ich sage das nicht,« erwiderte die junge Frau; »ich sage, daß ich diese Welt der Tränen, des Hasses, finsterer Leidenschaften, gemeiner Interessen und namenloser Begierden verlassen werde, ich sage, daß ich nichts mehr zu tun habe unter den Geschöpfen, die Gott als meinesgleichen geschaffen hatte; ich habe keine Tränen mehr in den Augen, das Blut läßt mein Herz nicht mehr schlagen, mein Kopf erzeugt nicht einen einzigen Gedanken mehr, seitdem der Gedanke, der ihn ganz und gar erfüllte, tot ist; ich bin nur noch ein wertloses Opfer, da ich nichts mehr opfere, weder Wünsche noch Hoffnungen, indem ich auf diese Welt verzichte; doch so, wie ich bin, biete ich mich dem Herrn; er wird mich barmherzig aufnehmen, er, der mich so viel hat leiden lassen, und der nicht wollte, daß ich meinem Leiden unterliege.«
Rémy, der diese Worte gehört hatte, stand auf, ging gerade auf seine Gebieterin zu und fragte mit düsterem Tone: »Ihr verlaßt mich?«
»Um zu Gott zu gehen,« erwiderte Diana und hob ihre Hand, so bleich und abgemagert wie die der Magdalena, zum Himmel empor.
»Es ist wahr,« sagte Rémy und ließ sein Haupt auf seine Brust fallen, »es ist wahr.«
Und als Diana ihre Hand senkte, nahm er sie in seine Arme und drückte sie an seine Brust, wie er es mit der Reliquie einer Heiligen getan hätte.
»Oh! was bin ich gegen diese beiden Herzen,« seufzte der junge Mann mit dem Schauer der Angst.
»Ihr seid,« erwiderte Diana, »das einzige menschliche Geschöpf, auf das ich zweimal meine Augen geheftet, seitdem sie sich für immer hatten schließen sollen.«
Henri kniete nieder und sagte: »Ich danke, edle Frau, Ihr habt Euch mir ganz und gar geoffenbart; ich danke, ich sehe klar meine Bestimmung; von dieser Stunde an soll kein Wort mehr von meinem Munde, kein Atemzug meines Herzens in mir den verraten, der Euch liebte. Ihr gehört dem Herrn, edle Frau, und auf Gott bin ich nicht eifersüchtig.«
Er sprach es und erhob sich, durchdrungen von dem verklärenden Zauber, der jeden großen und unerschütterlichen Entschluß begleitet, als auf der noch mit Dünsten bedeckten Ebene der Lärm entfernter Trompeten erscholl.
Die Gendarmen sprangen nach ihren Waffen und waren zu Pferde, ehe man den Befehl gegeben.
Henri horchte.
»Meine Herren,« rief er, »es sind die Trompeten des Admirals, mein Gott und Herr! Möchten sie meinen Bruder verkünden.«
»Ihr seht wohl, daß Ihr noch etwas wünscht,« sagte Diana zum Grafen, »und daß Ihr noch einen liebt; warum solltet Ihr denn die Verzweiflung wünschen, wie die, die nichts mehr wünschen und verlangen, wie die, die niemand mehr lieben.«
»Ein Pferd!« rief Henri, »man leihe mir ein Pferd!«
»Aber wo wollt Ihr denn hinaus, da uns das Wasser von allen Seiten umgibt?« fragte der Fähnrich.
»Ihr seht wohl, daß die Ebene zugänglich ist; Ihr seht, daß sie marschieren, da ihre Trompeten erschallen.«
»Steigt oben auf die Chaussee, Herr Graf,« sagte der Fähnrich, »das Wetter hellt sich auf, und Ihr könnt vielleicht sehen.«
»Ich gehe,« sagte der junge Mann.
Henri begab sich wirklich nach der von dem Fähnrich bezeichneten Anhöhe; die Trompeten erschollen immer noch in Zwischenräumen, ohne sich zu nähern oder zu entfernen. Rémy hatte wieder seinen Platz bei Diana eingenommen.