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Das Konferenzzimmer des Pädagogiums zeigte ein befremdendes Bild. Die Wände dieses schmalen, langgestreckten Zimmers, in welchem ein einziger, ebenso langer Tisch, umgeben von einer Reihe schmuckloser Stühle stand, sahen sonst nur das feierliche Kollegium der Professoren, die zu Gericht saßen über armselige jugendliche Sünder, hörten sonst nur die scheltenden, zürnenden Worte des Rektors oder des referierenden Klassenlehrers und das Wehgeheul der Karzersträflinge, der Zurückversetzten, der Relegierten.
Heute aber stand an Stelle der Zöglinge des Pädagogiums am unteren Ende des Tisches einer der Halbgötter selbst und an Stelle der würdigen philosophischen Köpfe der Vertreter des klassischen Altertums sah man hinter dem Rücken des Rektors die weniger durchgeistigten, aber militärisch schneidigen Gesichter der Vertreter der hohen Polizei.
Der Rektor ist ein großer, alter Herr mit einem rötlichen Gesicht und weißen Haaren, immer freundlich und wohlwollend. Aber heute ist er sehr ernst und man könnte sein Gesicht für gramerfüllt halten.
»Lieber Herr Kollege,« sagt er, »schließlich könnte es ja doch jedem von uns in der Zerstreutheit passieren, man hat seine Gedanken anderswo, man spielt mit irgend einem Gegenstand, der uns unter die Hand gerät, ohne daß wir es wissen, und wir schieben ihn in die Tasche+…«
Das sind seine letzten Worte in dieser unangenehmen Konferenz.
Auch Professor Nußotter sieht anders aus als sonst. Sein Gesicht ist kalkig und sein freundlicher Mund ist fest zusammengepreßt. Nur die kühne Adlernase ist geblieben und erweckt mit den gepreßten Lippen den Eindruck finsterer Entschlossenheit.
»Ganz richtig,« sagt er. »Das kann jedem einmal vorkommen und ist mir leider auch schon vorgekommen. Aber in diesem Falle die Schuld einem andern zuschieben zu wollen, wäre nicht bloß töricht, sondern vor allem eine Gemeinheit. Und das mache ich nicht, Herr Rektor!«
Sprach's und ging und schloß die Tür hinter sich.
Herr Rektor Sennfelder schüttelte das greise Haupt und die beiden militärischen Zivilisten schüttelten ebenfalls die Köpfe.
»Da hat er ganz recht,« sagte Herr Sennfelder und schien kleinlaut. »Und bedenken Sie, es kommt dazu, daß seine Haushälterin, wie Sie sagen, bestätigt, es habe ein Knabe die Uhr gebracht.«
Herr Inspektor Zwießler räusperte sich und Wachtmeister Eisele ließ ein leises Knurren hören. »Was das anbelangt,« sagte der Polizeiinspektor, »so dürfte eben doch nicht zu viel Gewicht auf ihr Zeugnis zu legen sein. Daß diese langjährige treue Dienerin, die schon in dem Hause seiner Mutter gedient hat, mit allen Mitteln die Ehre ihres Herrn zu retten sucht, ist begreiflich. Und wenn es auch geradezu unerhört sein mag – denn es handelt sich nicht mehr um die nicht zurechenbare Tat eines Zerstreuten, sondern nachdem der Täter in raffinierter Weise den Verdacht auf eine andre suspekte Persönlichkeit zu lenken wußte, bleibt nur die Annahme eines wohlüberlegten Diebstahls – so sind anderseits die Beweise – ich finde leider keinen andern Ausdruck – geradezu erdrückend …Ich bitte mir zugute zu halten, daß ich selbst ursprünglich derjenige war, der den Verdacht weit von sich gewiesen hat und für den jetzigen Beschuldigten eingetreten ist.«
Wachtmeister Eisele glühte vor Eifer. Trotzdem er sein Gesicht in Anbetracht des Leides, das über den Herrn Rektor Sennfelder hereinbrach, und des bedauerlichen Falles überhaupt in ernste Falten zu legen bemüht war, vermochte er seine Freude darüber nicht zu verbergen, daß seine ursprüngliche Idee sich nun doch als richtig herausgestellt hatte, und daß der Herr Polizeiinspektor – mit allem Respekt vor dem Herrn Inspektor! – eine Abfuhr bezogen hatte.
Er hielt deshalb den Zeitpunkt für geeignet, seinen Vorgesetzten zu unterstützen. »Ich könnte Fälle anführen,« sagte er, »könnte Beispiele erzählen, daß man sich wundern würde. Beispiele von Leuten, die ein hervorragendes Ansehen genossen, und die doch einmal einen dummen Streich gemacht haben+…«
»Bitte, schweigen Sie!« sagte der Polizeiinspektor. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber es ist ganz richtig, es dürfte dies auch dem Herrn Rektor nicht unbekannt sein, daß insbesondere die Sammelwut schon sonst ehrenwerte Persönlichkeiten zu bösen Exzessen – ich meine vor allem Diebstähle – verführt hat.«
Herr Rektor Sennfelder nickte betrübt. »Aber ich kann es doch nicht glauben, ich kann es nicht glauben!« sagte er seufzend.
»Ich brauche ja nicht alles noch einmal zu wiederholen, Herr Rektor. Wir haben ja die leidige Sache genugsam erörtert. Aber wenn man bedenkt, daß der Professor Nußotter außer dem Hafner Ackerknecht – der ja nach dem, was der Professor selbst zugibt und die Frau Frizenschaft ausgesagt hat, als Täter ausscheidet – der einzige war, der in das Haus kam, wenn man die seltsame Art bedenkt, wie er die Steinhausersche Wohnung verließ, seine von Wachtmeister Eisele bezeugte halblaute Äußerung von der Uhr, die Tatsache, daß Wachtmeister Eisele die gleiche Uhr, wie die gestohlene, in der Sammlung des Professors sah, die Tatsache, die er selbst zugibt, daß er die Uhr dem Hafnergesellen zu …ich will nicht sagen ›zusteckte‹, ich will lieber sagen, zusenden ließ, während es doch das Natürliche gewesen wäre, falls er die Uhr auf die von ihm angegebene Weise in den Besitz bekam, sie der Polizei oder wenigstens der Frau Steinhauser zurückzugeben, wenn man schließlich bedenkt, daß er nicht imstande ist, die Person anzugeben, von der er die Uhr erhalten haben will, so muß doch jedermann sagen: Was braucht es mehr?«
»Leider richtig, leider richtig,« seufzte der alte Herr.
»Es wird deshalb zu unserm größten Bedauern nichts übrig bleiben, den ganzen Sachverhalt umgehend der königlichen Staatsanwaltschaft zu melden …Ich denke ja auch, daß wir von der Festnahme des Professors vorläufig Abstand nehmen können, aber garantieren kann ich nicht, daß auch diese bedauerliche Maßregel noch nötig werden wird.«
»Ich bitte Sie um alles, nur das nicht!« unterbrach ihn der Rektor heftig.
Der Polizeiinspektor zuckte mit den Achseln. »Von mir aus soll es nicht geschehen, aber, wie gesagt, Anzeige muß ich nun erstatten.«
»So tun Sie, was Ihres Amtes ist,« sagte Rektor Sennfelder. »Das ist eine böse Sache, eine ganz böse Sache!«
»Ja, eine böse Sache!«
Darauf verabschiedeten sich die ungewöhnlichen Gäste des Konferenzzimmers mit militärischem Gruße.
Eine Stunde später war auf einer der Rathauskanzleien eine lebhafte Tätigkeit wahrzunehmen. Polizeiinspektor Zwießler glich einem Feldherrn unter seinen Untergebenen, von denen jedem eine bestimmte Tätigkeit zugewiesen war.
»Das hätte ich beinahe vergessen,« sagte Zwießler zu dem Schutzmann Wachter I. »Machen Sie ein Auslassungszeichen im Texte und setzen Sie es außen auf den Rand der Meldung: ›Wachtmeister Eisele hörte den Beschuldigten mit halblauter Stimme sagen: »»?Ja so, die Uhr!«« und sah, wie er zugleich mechanisch in die Tasche griff.‹ …Haben Sie geschrieben, Wachter I?«
»Zu Befehl, Herr Polizeiinspektor!«
»Sie haben es doch genau gehört, Wachtmeister? Daß Sie Ihre Angaben nötigenfalls beeidigen können?«
»Zu Befehl, Herr Polizeiinspektor!« sagte Eisele, der mit der Miene eines Siegers am Tische stand.
»Haben Sie die Uhr in die Reihe der Beweisstücke eingetragen, Wachter II?«
»Zu Befehl, Herr Polizeiinspektor! Unter Nummer 247.«
»Hoffentlich haben Sie sie in der Verpackung belassen?«
»Zu Befehl, Herr Polizeiinspektor!«
»Das ist gut. Man weiß nicht, welche Bedeutung die Art der Verpackung der Uhr noch bekommen kann. Möglicherweise kann sie bei der Überführung des Täters sogar ausschlaggebend sein …Haben Sie das Paketchen im Kasten für Beweisstücke ordnungsmäßig verwahrt, Wachter II?«
»Zu Befehl, Herr Polizeiinspektor!«
»So können Sie die Meldung abschließen, Wachter I! …Doch halt, fügen Sie noch an: ›Von der Festnahme des Beschuldigten Professors Nußotter wurde Abstand genommen, da er nicht fluchtverdächtig erschien‹ – haben Sie, Wachter I? – ›und es wird eine etwaige Weisung der königlichen Staatsanwaltschaft abgewartet+…‹«
So weit war er gekommen, als draußen auf den Steinfliesen des breiten Ganges hallende Schritte sich hören ließen, unterbrochen von langgezogenen Jammerlauten einer jugendlichen Stimme.
»Da herein! Immer herein, mi fili!« erscholl jetzt eine andere freudige Stimme, die vor Aufregung und Anstrengung keuchte. Sogleich öffnete sich die Tür und herein trat Professor Nußotter und hielt einen heulenden Jungen am Rockkragen, der sich vergeblich seiner kräftigen Faust zu entziehen suchte.
»Potz Kuckuck!« sagte der Polizeiinspektor, starr vor Staunen, während sich auf dem Gesicht des Wachtmeisters Eisele eine lebhafte Enttäuschung bemerklich zu machen begann, da er sofort fühlte, daß sein Triumph zu Wasser zu werden drohte.
Nußotter schien ein ganz andrer Mensch zu sein. Aus den hohen Regionen der alten Rhetoren war er plötzlich in die rauhe Wirklichkeit der Gegenwart herabgesunken und seit er merkte, daß sein guter Name ernstlich auf dem Spiele stand, sah er gar nicht mehr überirdisch aus. In diesem Augenblick schien er auch keinen Groll mehr gegen die Polizeibeamten zu fühlen, die einen solch heillosen Verdacht auf seinem Haupte zusammentrugen, sondern er war zufrieden, sich von dem Verdacht reinigen zu können, und sein Gesicht war von einer lebhaften Freude bewegt.
»Da habe ich den Spitzbuben,« sagte er mit fröhlicher Stimme. »Ich gehe ganz niedergeschlagen wegen dieser Geschichte über die steinerne Brücke zu meiner Wohnung, da läuft mir der Kerl gerade in die Hände. Ich habe ihn sofort genau wiedererkannt, den nichtsnutzigen kleinen Halunken« – er schüttelte ihn beträchtlich – »und nun sage diesem Herrn, du junger Herostrates, ob du mir nicht das Paketchen mit der Uhr gebracht hast!«
»Ja…a…a!« heulte der Bursche in schauerlichen Tönen.
»Sage diesem Herrn, wer dir das Paketchen gegeben hat!«
»Ich …weiß …es …nicht,« heulte der Junge.
Nußotter mochte ein ausgezeichneter Philologe sein, aber in der Kunst des kriminellen Verhörs war er jedenfalls noch ein bedeutender Anfänger. Diese Antwort des Knaben brachte sofort seine inquisitorische Tätigkeit zum Stillstand und er wurde sogar einigermaßen verlegen.
Wachtmeister Eisele rieb sich die Hände. »Nun wären wir also so weit wie zuvor,« sagte er.
Nußotter war ganz bestürzt. »Aber Sie sehen doch, daß ich den Burschen gefunden habe! Sie werden mir doch nicht zutrauen, daß dies alles nur eine Komödie von mir ist?«
Der Wachtmeister räusperte sich. »Hm! Hm!«
Die Geschichte war so dramatisch, daß sogar Wachter I berechtigt zu sein glaubte, einzugreifen, zumal der Polizeiinspektor immer noch schwieg. »Sag einmal, Bursch,« sagte er und schüttelte nun seinerseits den zähneklappernden Jungen, »wer hat dir die Uhr gegeben? War es ein junger Mensch? Mit schwarzen Haaren? Weißt du, solch 'n Handwerksbursche? Ein magerer Kerl?«
Man sieht, auch Wachter I läßt seine Idee Wiederaufleben und möchte gern seine Lorbeeren ernten.
»N…ein!« heulte der Junge. »Nnn…ein, so hat er nicht ausgesehen!«
Wachter I wird zornig. Er glaubt, daß Schütteln der Erinnerung zuträglich ist. »Wie hat er dann ausgesehen? Willst du's gleich sagen, du Jauner?«
»Ich …weiß …es …nicht!«
»Sehen Sie,« sagte Eisele zufrieden, »er weiß es nicht.« Er hielt offenkundig mit hartnäckigem Eigensinn an seinem Verdacht fest.
Aber auf einmal ändert sich die Sache. Der Polizeiinspektor selbst greift ein. Man sieht ihm an, daß ihm ein großartiger Gedanke gekommen ist, denn es blitzt in seinen Augen auf. »Lassen Sie diese Redensarten, Wachtmeister!« sagte er strafend. »Und Sie, Wachter I, halten in meiner Gegenwart den Mund, bis Sie gefragt werden! Haben Sie mich verstanden?« Und er sieht den jungen zitternden Verbrecher fest und ruhig an. »Du brauchst keine Angst zu haben, Bursche, wenn du die Wahrheit sagst. Aber die Wahrheit will ich wissen, hörst du? Wer hat dir das Paketchen gegeben? War es ein kleiner dicker Mann?«
»J…a…a…a!« heulte der Bursche.
»Hatte er nicht solch lange wüste graue Haare?«
»Ja…a…a
»Hatte er nicht einen solch langen wüsten grauen Schnurrbart über den Mund herabhängen?«
»Ja…a…a!«
»Hatte er nicht einen langen braunen Rock an und helle Hosen?«
»Ja…a…a! Ja…a…a!«
»Meine Herren, geben Sie Obacht!« sagte der Polizeiinspektor stolz. »Kannst du mir sagen, wo der Mann wohnt? Nimm dich in acht, Bursche, die Wahrheit will ich wissen!«
»Unter …der …Metzig!« heulte der Junge.
Polizeiinspektor Zwießler bewahrte seine völlige Ruhe, ja seine Stimme klang geradezu gleichgültig. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Aufregung und nur in seinen Augen sah man einen Strahl von Freude, eines gewissen Stolzes aufleuchten. »Es ist so,« sagte er gelassen, »wie ich von Anfang an angenommen habe. Herr Professor Nußotter, ich gratuliere Ihnen, daß es Ihnen gelungen ist, Ihren guten Namen wiederherzustellen und spreche Ihnen gleichzeitig mein Bedauern aus, daß Sie durch eine ungeahnte Verwicklung von mancherlei Umständen in solche Verlegenheit geraten sind …Der Täter ist entdeckt. Nun haben Sie die Gewißheit! Es ist kein andrer als der Kommissionär Christian Philibert Schwägerle!«
Darauf gab er den Schutzleuten Wachter I und II den Auftrag, den Genannten sogleich festzunehmen.