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Als die Haushälterin in der Wohnung des Professor Nußotter auf das bescheidene Klingeln die Vortüre öffnete, stand vor ihr ein Knabe von etwa dreizehn Jahren.
Er sah verwahrlost aus, war gering gekleidet und hatte ein richtiges altes Spitzbubengesicht, das nicht im Einklang stand zu seinem mageren schlechtgenährten und unentwickelten Körper.
»Was willst du?« fragte Susanne.
Der kleine Bursche druckste und muckste einige Worte heraus und schien verlegen, seine listigen Augen liefen unruhig umher.
»Nun?« sagte Susanne noch einmal. »Du junger Schalksknecht, warum hast du geläutet?«
Darauf besann sich der Knabe besser und seine Stimme wurde verständlicher. »Einen schönen Gruß vom Herrn Professor und ich soll dies hier abgeben und Sie sollen die Uhr auf seinen Schreibtisch legen, bis er heimkommt.« –
Das war von Schwägerle an sich nicht ungeschickt. Um diese Zeit ist der Professor sonst regelmäßig im Museum und von dort kommt er erst gegen zehn Uhr nach Hause. Und findet er am andern Morgen die Uhr, so kann es sein, daß er meint, er habe die Uhr in Gedanken eingeschoben. Denkt er dies aber nicht, so ist dies auch kein Schaden. Dann wird es ihm gehen, wie es beinahe der Marianne gegangen wäre und wie es beinahe dem Rechtskonsulenten Schwägerle hätte gehen können. Dann wird er die Uhr dem Eigentümer zurückbringen und erzählen, ein Knabe habe die Uhr gebracht, und kein Mensch wird es ihm glauben, sondern jedermann wird denken, daß der Professor es doch gewesen ist, der die Uhr genommen hat, und man wird schweigend und mit einem geheimen Lächeln über die Sache weggehen, und das Gerede, daß Herr Nußotter ein Kleptomane sei, wird ein weiteres Stückchen Hintergrund bekommen. –
Aber in einem Punkte hat sich Schwägerle doch verrechnet, nämlich in der Gründlichkeit der Frau Susanne und in seiner Annahme, daß der Professor heute, wie sonst immer, im Museum sein werde. Denn der Schachspielabend ist heute zum erstenmal in diesem Jahre ausgefallen, weil der Partner verreist war.
»Ei,« sagte Frau Susanne und musterte den kleinen Spitzbuben strenge, »von welchem Professor sollst du denn das ausrichten?« Dabei nahm sie aber doch unwillkürlich das umschnürte Paketchen in die Hand, das ihr der kleine Schlingel bot.
»Vom Herrn Professor selbst.«
»Wie?« sagte sie. »Vom Herrn Professor Nußotter?«
Der Junge atmete erleichtert auf. Vielleicht hatte er den Namen vergessen. »Ja freilich, vom Herrn Professor Nußotter selbst. Er gab es mir vorhin auf der Straße.«
»In welcher Straße?«
»In der Olgastraße …Nein, in der Karlstraße …Sie sollen die Uhr gleich auspacken und dabei recht acht geben und sie auf den Schreibtisch legen.« –
Herr Professor Nußotter selbst saß inzwischen an eben diesem Schreibtische und las die Rede des Lysias gegen Eratosthenes, wobei er mit vielem Genuß sich die eleganten Wendungen des berühmten Atheners zergliederte. – Andre Menschen lieben andre Lektüre, Professor Nußotter liebte den attischen Juristen Lysias.
Er war auch schon nahe am Schlusse dieser trefflichen Rede angelangt, als ihn die Klingel der Vortüre störte und wider seinen Willen zwang, mit halbem Ohre zu horchen. Aber bald sah er sich genötigt, den Lysias aus der Hand zu legen und mit beiden Ohren zu lauschen, denn es schien ihm, was er in einigen Jahren noch nicht erlebte, als wäre Susanne, seine Haushälterin Susanne, in ein Wortgefecht verwickelt, und nun entwickelte sie eine solch ausdrucksvolle Beredsamkeit, daß kaum der alte Lysias gegen sie aufgekommen wäre. »Ei du naseweiser, kleiner Halunke!« hörte er sie rufen. »Hat man schon einmal einen solchen Lügner gesehen? Aber warte nur, ich werde dich lehren, du Ausbund von einem kleinen Sünder! Ich werde sogleich den Herrn Professor rufen!« – Und nun – zum Kuckuck! Der Professor reckte sich und hielt die Hand hinter das Ohr – kam es da draußen zum Handgemenge?
Eilig erhob er sich, raffte den Schlafrock zusammen und schlürfte, so schnell es die losen Filzpantoffeln erlaubten, hinaus, um nachzusehen und nötigenfalls der treuen Susanne tätige Hilfe zu leisten.
Mit hellem Erstaunen sah er, wie die wackere Frau mit hochrotem Kopfe einen halbwüchsigen Jungen, der verzweifelte Anstrengungen machte, zu entlaufen, am Rockkragen festhielt.
»Sehen Sie nur, Herr Professor,« sagte sie entrüstet, »diesen gottlosen Knaben an. Übergibt mir der Schlingel dieses Paketchen mit der Behauptung, er habe es von Ihnen erhalten und solle es in Ihrem Auftrage mir übergeben. Hat man schon eine solche Schlechtigkeit gesehen? – Eine solch infame kleine Kreatur!«
Professor Nußotter nahm das Päckchen in die Hand, wog es und richtete seine Augen drohend auf den Übeltäter. »Was soll das heißen, du junger Catilina?«
Es ist kaum anzunehmen, daß der kleine Bursche die volle Tragweite dieser vernichtenden Anrede erfaßte und vermutlich hörte er zum erstenmal den Namen dieses Staatsverbrechers. Möglicherweise aber wirkte gerade diese Ungewißheit über die Bedeutung des furchtbaren Wortes mächtig auf sein verderbtes Gemüt ein, denn er begann augenblicklich ein mächtiges Geheul anzuschlagen, daß das stille Haus von seinem Geschrei widerhallte.
»Hörst du, kleiner Halunke?« sagte Susanne und schüttelte ihn derb. »Der Herr Professor will wissen, wer dir den Auftrag gegeben hat, eine solche abscheuliche Lüge zu sagen.« Zur Bekräftigung schüttelte sie ihn noch einmal ordentlich, daß dem schmächtigen Burschen Hören und Sehen verging.
»Oh,« heulte er, »ein Mann hat mir's gegeben.«
»Was für ein Mann?«
»Ich weiß nicht.«
Erneutes Schütteln, erneutes Wehgeschrei.
»Er sagte, er sei bei Herrn Frizenschaft.«
Diesmal sagte der Bursche die Wahrheit. – Das ist eine neue Finte von Philibert Schwägerle. Er hat alles überlegt und überdacht. Mißlingt die Geschichte schließlich doch noch, so geht es ihm an den Kragen und bekommt er die Polizei auf den Hals, ehe er morgen zum Mittagessen geht, und er will lieber vorbeugen, als sich auf die Ehrlichkeit des Malers verlassen. Darum kommt er auf den gloriosen Gedanken, sich dem Jungen als Hafner bei Frizenschaft vorzustellen. Darauf wird die Polizei einschnappen. Dann kann der freche Bursche sehen, wie er sich hinausredet, aber Schwägerle ist in Sicherheit! –
»Und er hat mir zwanzig Pfennig geschenkt,« heulte der Bursche weiter, »ich solle das da abgeben und ausrichten, der Herr Professor hab' mir's gegeben und man soll die Uhr auf den Schreibtisch legen.« –
»Eheu!« sagte der Professor. »Eheu!« – Er ist ganz erstarrt. Er hört nur das Wort Hafner und hört das Wort Uhr und er merkt im Augenblick die ganze bösartige Machenschaft und die Gefahr, die ihm droht. Seit er den Besuch des Polizeiwachtmeisters Eisele empfangen und von dem Diebstahl der Uhr erfahren hat, ist er hellhörig geworden und weiß er, um was es sich handelt. Nun hat also doch dieser Hafnergeselle die Uhr gestohlen, und da er die Entdeckung fürchtet, soll es ihm in die Schuhe geschoben werden! Vermutlich hat der Mensch auch schon gehört, daß selbst auf ihn, den Professor Nußotter, einiger Verdacht gefallen ist! Das ist infam, wirklich infam! – »Eheu, eheu!« sagte er noch einmal und runzelte die Stirne und sah so böse und strenge aus, als es ihm bei seiner sanften und gutmütigen Gelehrtennatur überhaupt möglich war. »Das ist nicht mehr ein einfältiger Dummerjungenstreich, wie ich ursprünglich anzunehmen gesonnen war, das ist sehr ernst zu nehmen. Es ist eine verbrecherische Tat, die an Raffiniertheit ihresgleichen sucht und bei der selbst der Redner Lysias eine schwere Aufgabe in ihrer Verteidigung gefunden haben würde. Ich fürchte, Susanne, Sie werden den Burschen festhalten und der Polizei übergeben müssen. Ich fürchte fast –«
Wenn aber Nußotter sich noch längere Zeit zu überlegen gedachte, ob er den Jungen der Göttin Themis überantworten wollte, so löste sich diese Frage überraschend schnell von selbst. Der Junge hörte nicht so bald das gefürchtete Wort Polizei, als er unvermutet mit einem solch gewaltigen Ruck sich losriß, daß die gute Susanne taumelte, und bevor sie den kleinen Verbrecher aufs neue zu fassen vermochte, war er mit Windeseile die Treppe hinab und verschwunden.
Professor Nußotter sah Susanne an und Susanne sah den Professor Nußotter an, der mit Staunen und gelindem Grausen das verderbliche Paket in der Hand hielt. »Susanne, was haben wir jetzt zu tun?« sagte er bekümmert. »Dieser schlechte Mensch hat die Uhr in Frau Steinhausers Wohnung gestohlen, so daß ich, was mir noch nie in meinem Leben passiert ist, die Nachforschung der Polizei über mich ergehen lassen mußte. Und nun, da er die Folgen seiner Tat fürchtet, will er glauben machen, ich hätte die Uhr genommen und er rechnet vermutlich darauf, daß ich schon in Gedanken oder versehentlich fremde Gegenstände an mich gezogen habe und selbst nicht mehr weiß, ob es nicht auch mit der Uhr der Fall ist. Ich werde augenblicklich die Schriften des Atheners Lysias vergleichen in Ansehung dessen, ob eine Missetat von ähnlicher Art und Schwere darin vorhanden ist, obwohl ich es bezweifle: Möglicherweise könnte ich auch wertvolle Ratschläge über das von mir nunmehr zu beobachtende Verhalten darin angedeutet finden.«
Sogleich schickte er sich an, seine Studierstube aufzusuchen, aber nunmehr zeigte sich die praktische Natur der Frau Susanne. Sie hielt ihren Gebieter geradeswegs an der zierlich gestrickten, aber auch erheblich abgenützten Kordel seines Schlafrockes. »Wo denken Sie hin, Herr Professor! Keine Rede! Diese abscheuliche Missetat muß sofort ihren Lohn finden. Geben Sie mir die Uhr. Ich werde sogleich eine frische Schürze umbinden und die Polizei aufsuchen, obwohl ich eine ehrbare Frau bin und noch niemals in meinem Leben mit der Polizei zu tun gehabt habe. Das ist ja fürchterlich, was es für katalinarische« – »katilinarische, Susanne, katilinarische« – »Existenzen gibt!«
Herr Professor Nußotter ging würdevoll – man kann auch im Schlafrock und Filzpantoffeln würdevoll aussehen, wenn nur Geist und Gemüt im Gesicht des Eigentümers geschrieben stehen – auf dem kurzen Raum zwischen der Vortüre der Wohnung und der Treppe auf und ab und sah von dem Päckchen in der Hand auf Susanne und von Susanne auf das Päckchen in der Hand. »Nein, das werde ich nicht tun,« sagte er ernst. »Der Mensch wollte mir zwar übel mitspielen, aber ich will nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Ich werde ihn nicht dem weltlichen Gerichte übergeben, sondern ich werde ihn der Stimme seines Gewissens überantworten. Das werde ich tun. Er soll reuevoll seine Schuld einzusehen lernen und ein besserer und tugendhafter und der Gesellschaft nützlicher Mensch – homo frugi – werden. Wenn ich ihn der Polizei übergebe, wird er die Laufbahn des Verbrechens weiter gehen.«
Frau Susanne schlug die Hände zusammen. »Aber Sie werden doch wenigstens sofort die Uhr der Frau Steinhauser zurücksenden?«
»Nein, Susanne, auch das werde ich nicht tun. Denn das wäre gleichbedeutend mit einer Anzeige an die Polizei. Ich müßte in diesem Falle, um nicht selbst als homo sceleratus zu erscheinen, den Hergang dieser eigentümlichen Geschichte mit absoluter Treue schildern und dies würde zur Folge haben, daß der Mensch sofort in das Gefängnis abgeführt würde …Sie werden, Susanne, die Uhr diesem Menschen selbst zurückbringen und ihn in meinem Namen ermahnen, seine Schuld baldmöglichst gut zu machen, indem er die Uhr dem Eigentümer – in diesem Falle der Frau Steinhauser – zurückgibt und sie mit aufrichtiger Reue um Verzeihung bittet. Und ich bin überzeugt, ich werde ein gutes Werk tun und einen Menschen vor dem völligen Verderb bewahren.«
Frau Susanne jammerte und schüttelte den Kopf. »Ach Gott, ach Gott, Sie sind viel zu gut, Herr Professor, viel zu gut. Lassen Sie sich raten, übergeben Sie diese katalinarische Exi« – »katilinarische, Susanne, katilinarische!« – »Existenz der Polizei, wie es sich gebührt und wie er es nicht besser verdient hat. Was Sie da sagen, Herr Professor, ist gut und recht, aber klug ist es nicht. Folgen Sie einer Frau, Herr Professor, die schon viel in ihrem Leben durchgemacht hat und erfahren ist, folgen Sie ihr, Herr Professor!«
Professor Nußotter runzelte die Stirne und nun zeigte sich, daß auch ein Mann, der im Schlafrock und in Filzpantoffeln vor seiner Wohnung steht, ein Mann sein kann. »Susanne,« sagte er nur, »ich wünsche nicht, daß Sie mir widersprechen. Ich wünsche vielmehr, daß Sie jetzt die Schürze umbinden und sofort dieses unselige Paketchen diesem noch unseligeren Menschen zurückbringen und ausrichten, was ich soeben klar und deutlich gesagt habe. Mehr wünsche ich für jetzt nicht.« –
Darauf ging Frau Susanne, band sich eine saubere Schürze um und machte sich, wenn auch mit der inneren Überzeugung, daß sie bei einer fürchterlichen Dummheit mithelfe, auf den Weg zu dem Hafnermeister Frizenschaft.