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Zehntes Kapitel

Neben der Mannschaftsstube der Polizeiwache im Rathause war ein kleineres Zimmer, das mit jener eine auffallende Ähnlichkeit besaß, nur daß die weißgetünchte Wand und die gewölbte Decke etwas weniger angeraucht war als die der Mannschaftsstube und der einfache Tisch und der ebenso einfache Stuhl weniger verstoßen und tintenbekleckst waren.

Die Türe vom einen zum andern Zimmer stand beständig auf. Es war dies das Allerheiligste des Polizeiwachtmeisters Eisele, von dem aus er die Aufsicht über die Mannschaft ausübte, die Ankunft und den Abgang der Schutzleute kontrollierte und in dem er selbst in wichtigen Fällen seine wohlüberlegten und gutstilisierten Meldungen an die vorgesetzte Behörde verfaßte.

Heute saß Wachtmeister Eisele hinter einer Zeitung, die soeben erschienen war und die er, seiner Übung entsprechend, gründlich studierte. – Wenn er etwas tat, tat er es auch recht.

Man denke übrigens nicht, Wachtmeister Eisele habe abends um fünf Uhr schon Feierabend gemacht und lese die Zeitung zum Vergnügen. O nein, was er hier leistete, war seine Pflicht und Schuldigkeit und eine rein dienstliche Tätigkeit, denn es ist klar, daß ein tüchtiger Polizeimann mehr als ein andrer über die Vorkommnisse jeder Art landauf, landab sich auf dem laufenden erhalten muß.

Sein Gesicht war nicht zu sehen, da es durch das ausgebreitete, von beiden Händen gehaltene Zeitungsblatt völlig verdeckt war. Aber daß ihm das Lesen der Zeitung wenig Vergnügen bereitete, hörte man an dem unwilligen Knurren und Murren, das in nicht allzu langen Zwischenräumen hinter der papierenen Wand hörbar wurde.

In der Mannschaftsstube saß Schutzmann Wachter II und freute sich innig über diese Töne, denn er wußte genau, was sein nächster Vorgesetzter las und daß es ein Artikel eines stets unzufriedenen Besserwissers war, der in längeren, geharnischten Ausführungen bösartige Angriffe gegen die Polizei erhob und eine Neuorganisation des Polizeiwesens forderte, daß es ein Artikel war, der Anspielungen enthielt, welche man nicht ganz mit Unrecht auf den Diebstahl der Steinhauserschen Uhr und die Tätigkeit des Wachtmeisters Eisele bei der Verfolgung dieses Diebstahls zurückführen konnte.

Anzunehmen, daß der Wachtmeister gerade diesen Artikel unter den Händen haben werde, war Schutzmann Wachter II um so mehr berechtigt, als er die Zeitung schon vor dem Eintreffen dieses Herrn gelesen und den Artikel sorgfältig und augenfällig für den Tisch seines Vorgesetzten hergerichtet hatte.

»Das ist stark! Das ist ungemein stark, das ist hanebüchen!« sagte der Wachtmeister und gab dem Zeitungsblatt einen Schlag mit der Faust, daß ein großer Riß quer durch das unschuldige Papier entstand. Mit gerötetem Antlitz trat er heraus und der graue Bart schien sich nach vorne zu sträuben. »Haben Sie auch schon einen ähnlichen Schandartikel gelesen, Wachter II, wie diesen hier?«

Wachter II versicherte, daß er noch nie einen ähnlichen gelesen habe.

»Ich glaube unbedingt, daß der ganze Artikel gegen mich gerichtet ist. Glauben Sie nicht auch, Wachter II?«

Wachter II machte ein unschuldiges Gesicht, wie ein Kind, das eben erst das Lesen lernt. »Glauben Sie wirklich, Herr Wachtmeister?«

»Ich glaube es ganz bestimmt. Und ich weiß auch, woher er kommt, ich kenne die Feder …Aber er mag sich in acht nehmen, dieser Herr, es ist noch nicht aller Tage Abend. Ich sage nicht, wen ich meine, ich sage nur, er soll sich in acht nehmen! Und wenn er glaubt, er werde durch solche Schmähungen und Lästerartikel erreichen, daß ich von der eingeschlagenen Bahn abgehe und meine ferneren Nachforschungen aufgebe, so täuscht er sich. Immer mehr komme ich zu der Überzeugung, wo der Schuldige zu suchen ist, und mein Verdacht wird immer stärker …Das ist der Zweck der Übung, mich vom weiteren Vorgehen abzulenken, ich sehe es ganz klar.«

Wachtmeister Eisele führte seine Auslassungen gegen den Artikelschreiber, den er nicht benennen zu wollen erklärte, nicht zu Ende. Auf einmal horchte er auf und auch Schutzmann Wachter II wandte sich unwillkürlich zum Fenster.

»Was gibt es denn schon wieder?« sagte Eisele.

Auf dem gepflasterten Marktplatze hörte man die unregelmäßigen Tritte eines Menschenhaufens, der sich dem Rathause näherte, dazwischen laute Stimmen, Streiten und Schelten.

Es war aber nur der Schutzmann Wachter I, der einen Menschen am Arme führte, und wie üblich von einer Anzahl Jungen begleitet war, was durchaus nicht verwunderlich ist, da die Hauptpolizeiwache inmitten des lebhaftesten Stadtteils untergebracht ist.

Vor der Wache gab es noch einmal eine kleine Stockung, zur Freude der Jugend, der aber Wachter I durch Aufwendung geringer Kraft bald ein Ende machte.

Wachtmeister Eisele wunderte sich nicht so sehr über den Auflauf, den die Ankömmlinge verursachten, als über das erregte – und wie es ihm schien, siegesgewisse – Gesicht des Schutzmanns.

»Wen haben Sie denn da, Wachter I?« fragte er.

Wachter I schöpfte ganz kurz erst Atem und stellte sich sodann stramm in Positur. »Melde gehorsamst, daß ich soeben in der Keltergasse den fünfundzwanzig Jahre alten ledigen Wilhelm Ackerknecht wegen Diebstahls festgenommen habe. Derselbe leistete bei seiner Festnahme Widerstand und weigerte sich, mit mir zur Polizeiwache zu kommen, weshalb ich ihm ankündigte, daß ich ihn schließen müsse, worauf er mir alsbald freiwillig, aber widerwillig und unter beleidigenden Redensarten gehorchte. Und hier ist die gestohlene Uhr des Herrn Steinhauser,« schloß er seine verwickelte Meldung.

»Ei der Tausend,« sagte der Wachtmeister und vergaß vor Erstaunen, die nicht völlig korrekte Meldung Wachters richtig zu stellen. »Ei der Tausend« – man könnte meinen, man sehe auf seinem Gesicht eine geringe Enttäuschung – »Sie haben die Uhr? Der Mensch war im Besitze der Uhr?«

Noch immer mit festgeschlossenen Hacken, in gerichteter militärischer Haltung, hob Wachter I maschinenmäßig, gleich einer Marionette, den Arm und überreichte dem Wachtmeister ein zierliches kleines, festumschnürtes Paketchen. Aber trotz dieser militärisch abgemessenen Bewegung lag ein Zug des Stolzes und des Triumphes in der Art, wie er es hergab. Dann endlich, nachdem solchermaßen der Form Genüge geschehen war – man muß sich nicht vorstellen, daß der Verkehr zwischen dem Wachtmeister Eisele und seinen untergebenen Schutzleuten jeder Kameradschaftlichkeit entbehrt hätte – löste sich seine Starrheit, Wachter I nahm eine rein menschliche Stellung ein und sagte gemütlich: »Es ist doch so, wie ich von Anfang an gesagt habe, der Hafner hat's getan!«

Bisher hatte dieser Mensch – in der Tat der Arbeiter des Hafnermeisters Frizenschaft – keine Silbe gesprochen. Aber die letzten Worte des Schutzmanns gaben das Stichwort für ihn. »Das ist erlogen,« sagte er frech.

Er machte entschieden einen unsympathischen Eindruck, wie er dastand, etwas verwahrlost in seinem Äußeren, und seine unheimlichen stechenden Augen unruhig umherlaufen ließ.

»Derartige Äußerungen haben Sie zu unterlassen,« sagte der Wachtmeister streng.

»Aber es ist doch so,« erwiderte der Hafner.

Jetzt zeigte sich, daß der Wachtmeister Eisele nicht mit Unrecht seine Würde bekleidete, und daß jenem gehässigen Artikel, den er soeben in der Zeitung las und den er auf sich zu beziehen geneigt war, jede Grundlage fehlte. Wachtmeister Eisele wurde nicht heftig, nicht hitzig, er faßte den Menschen nicht, er schüttelte ihn nicht, er schrie ihn nicht an, er drohte nicht; er sah ihn nur mit einem festen, einem sehr festen Blick an und sagte: »Wachter I, erzählen Sie, wie die Sache gegangen ist!«

Und nun erzählte Wachter I weitschweifig und nicht ohne Eitelkeit, wie er den Menschen in der Keltergasse antraf, wie er ihn wiedererkannte von jener Anzeige her, wie er ihn ein Päckchen tragen sah und sofort auf den Gedanken kam, ob das nicht die gesuchte Uhr ist. Er erzählte, wie der Mensch unruhig wurde, als er ihn mit scharfem Blick ansah, und wie er scheinbar erschrak, als er auf ihn zuging. ›Was haben Sie denn da in der Hand?‹ sage ich. ›Das ist die Uhr, die ich auf dem Weinhof gestohlen haben soll‹ sagt er.«

Hier muß Wachter I eine kleine Pause machen, denn sein Atem geht noch rasch und er muß sich auch jene Vorgänge genau rekapitulieren, damit seine Meldung nicht die geringste Unrichtigkeit enthält.

»Ei der Tausend,« sagt Eisele noch einmal und ist anscheinend unangenehmer berührt als vorher. »Ist das richtig? Sie!?«

Der Hafnergeselle stand in einer trotzig nachlässigen Stellung vor den Uniformierten, er hatte eine unangenehme Art zu reden und zu antworten, kurz, mürrisch, verdrossen, mit verächtlichem Tone. »Ei natürlich, warum soll das nicht richtig sein? …Das heißt,« verbesserte er sich, »daß ich erschrocken bin, ist natürlich erlogen.«

»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt,« fiel der Wachtmeister schärfer ein, »Sie sollen sich dieses Ausdrucks nicht bedienen!«

Er schien immer weniger Freude zu haben. Wachter II merkte es wohl und wußte auch ganz gut den Grund und freute sich im geheimen, wenn er sich auch ärgerte, daß sein Kollege wieder einmal gesiegt hatte. Es war, weil nun der Wachtmeister doch auch auf dem Holzwege gewesen war.

»So hat er es mir auf dem ganzen Wege zur Wache auch gemacht,« sagte Wachter I mit Befriedigung. »Weil er einen Zorn hat, daß ich ihn erwischt habe …›Ach,‹ sage ich, ›haben Sie die Uhr des Herrn Steinhauser? Das ist ja sehr interessant! Kommen Sie doch einmal mit auf die Wache!‹ …›Fällt mir gar nicht ein,‹ sagt er. ›Mit Ihnen gehe ich nicht, dazu habe ich gar keinen Grund!‹ …›Mann,‹ sage ich, ›machen Sie keinen Widerstand, ich warne Sie ausdrücklich.‹ …›Was?‹ sagt er. ›Einen Widerstand braucht es gar nicht. Ich kann schon allein auf die Polizei, dazu habe ich Sie nicht nötig!‹ …›Aha,‹ sage ich, ›Sie wollen selbst auf die Polizei?‹ Und ich muß sagen, ich mußte darüber lachen …›Ich bin ja gerade auf dem Wege zur Polizei,‹ sagt er.«

»Ganz richtig,« warf der Hafnergeselle ein, »es war auch der Fall. Ich war gerade auf dem Wege zur Polizei.« –

Es wird eine Uhr gestohlen und in dem Hause ist nur eine einzige fremde Person gewesen, ein unbekannter Arbeiter, der direkt von der Landstraße kommt. Er ist in dem Zimmer gewesen, in dem die Uhr gestohlen wurde, obgleich er in diesem Zimmer nichts zu suchen hat. Er geht fort, ehe seine Arbeit zu Ende ist, wie er selbst zuvor angegeben hat; nach seinem Weggang fehlt die Uhr. Er muß zugeben, daß er sie auf dem Tisch liegen sah, wo sie wegkam. Er besinnt sich, ob er dies zugeben will, und errötet, als man ihn des Diebstahls bezichtigt. Und einige Tage später wird er im Besitz der Uhr befunden – und behauptet nun, er sei unschuldig und soeben im Begriffe, auf die Polizei zu gehen und die Uhr zu bringen. Wer sollte da nicht ungläubig lächeln?

Wachtmeister Eisele schmunzelte, Wachter II lächelte und Wachter I lachte gerade hinaus.

Nun wurde der Mensch grob. »Da ist gar nichts zu lachen!«

»Ach so,« sagte der Wachtmeister und schmunzelte immer vergnügter, »Sie wollten sich wohl selbst anzeigen?«

Die andern beiden lachten wieder über den Witz ihres Vorgesetzten.

»Fällt mir gar nicht ein,« knurrte der Bursche. »Hab' es gar nicht nötig. Wie ich heute mittag nicht zu Hause bin, kommt eine ältere Frau, gibt meiner Meisterin Herrn Steinhausers Uhr und sagt, ich solle die Suppe selbst ausessen. Und damit geht sie. Wie ich heimkomme, ist die Bescherung da. Und weil ich nichts zu schaffen haben will mit der Uhr und die Uhr nicht gestohlen habe und nichts weiß von der Uhr, habe ich sie genommen und wollte sie gleich auf die Polizei tragen. Das ist die ganze Geschichte und ist die reine Wahrheit.«

Eisele wurde immer besserer Laune. Er sah aus, als hätte der Hafnergeselle die beste Anekdote erzählt, die er je in seinem Leben hörte. »Die Frau kennen Sie natürlich nicht?« sagte er schlicht, aber er warf feinen Untergebenen einen beinahe schalkhaften zu. – Es ist, wie wenn die Katze mit der Maus spielt.

Nun erst merkt der Bursche die Verlegenheit, in der er sich befindet, und man sieht ihm an, daß er plötzlich erschrickt. »Nein, die Frau kenne ich nicht,« sagt er leise und scheu.

Darauf hatten die andern gewartet und ihr heiteres Lachen hörte man bis vor die Tür des Wachlokals, an dessen Fenster die Jungen neugierig die Nasen plattdrückten.

Jetzt richtete sich aber der Wachtmeister in seiner ganzen stolzen Größe auf. »Genug,« sagte er ernst. »Es ist genug. Machen wir Schluß. Wachter I, bringen Sie den Mann in den Polizeiarrest. Morgen früh kommt der Mann an das Amtsgericht, heute wird es zu spät, bis die Meldung geschrieben ist.«

Der Bursche erbleichte und in seinen Augen spiegelte sich halb die Angst, halb kochender Zorn. »Aber Sie werden mich doch nicht einsperren wollen,« sagte er und der Ton seiner Stimme wurde auf einmal sehr laut. »Das lasse ich mir nicht gefallen! Ich lasse mich nicht einsperren, wo ich doch ganz unschuldig bin und gar nichts dafür kann!«

Wachtmeister Eisele ignorierte vornehm diese Frechheit. »Machen Sie, Wachter, damit die Geschichte einmal aus ist!«

Auf einmal begann der Bursche – nicht um sich zu schlagen, wie die Schutzleute erwarteten, nein, zu lachen, wie ein Besessener zu lachen. Aber es war kein heiteres, kein angenehmes Lachen, ein widriges, höhnisches, despektierliches Lachen war es. »Also, führen Sie mich in das Gefängnis!« schrie er. »Machen Sie schnell! Aber das kann ich Ihnen sagen, wenn ich wieder herauskomme, dann stehle ich wirklich! Aber nicht bloß eine elende Uhr, dann stehle ich, wo ich kann und wo ich hinkomme! Sie machen ja den Menschen mit Gewalt zum Dieb, rein mit Gewalt tun Sie's!«

Dieser Ausbruch des Zorns und der Verzweiflung war so echt, daß sogar Eisele wieder stutzig wurde. »Mein Lieber,« sagte er, aber mit mehr Mäßigung, als er gezeigt hätte, wenn er nicht wieder Zweifel bekommen hätte, »Sie werden doch nicht im Ernste annehmen, daß wir an das Märchen von der unbekannten Frau glauben?«

Sogleich merkte der Bursche, daß wieder ein kleiner Hoffnungsstrahl schimmerte, »erst jetzt fiel ihm zugleich ein, was ihn retten mußte. »So fragen Sie doch bei der Frau Frizenschaft an, fragen Sie doch an! Sie kennt ja die Person ganz gut, welche die Uhr brachte! Sie dürfen ja nur nachfragen!«

Der Wachtmeister sah ihm prüfend in das Gesicht. »Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? Nun, den Gefallen können wir Ihnen ja tun. Nur bleiben Sie so lange da, bis wir Antwort haben, mein Bester!«

-

Die Antwort kam aber sehr bald.

»Es ist alles richtig,« meldete Schutzmann Wachter II. »Und die Frau, welche das Päckchen mit der Uhr dem Hafnergesellen aufgehalst hat, ist die Haushälterin des Professors Nußotter in der Glöcklerstraße!«

Das schlug ein wie eine Bombe.


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