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Wenn Jules Janin von Antwerpen aus das Meer gesehen hat, so muß man das dem armen kleinen Entdecker nicht, wie die Belgier thun, als einen Schnitzer anrechnen, sondern es nur als einen etwas starken bildlichen Ausdruck nehmen. Antwerpen ist eine Seestadt, wenn es auch mitten. im Lande liegt. Die Schelde bringt ihm das Meer, die Schelde macht es zum Hafen. Was macht einen Hafen aus? Schiffe und Matrosen. Die giebt's auf der Schelde und in Antwerpen aus aller Herren Länder, und selbst aus den Ländern, die keine Herren haben. Folglich ist Antwerpen eine Seestadt und liegt so gut wie am Meer.
Aber nicht blos als Repräsentantin des Meeres, auch an und für sich ist die Schelde ein schöner, prächtiger Strom. Das sagte die Hofräthin mit lauter Begeisterung zu Helenen, während sie bei dem Lichte eines »jungen Mondes«, wie es so hübsch im Englischen heißt, am Werft hin- und hergingen, denn so nennt man in Antwerpen die Quais. Helene stimmte in ihrer gemäßigten Ausdrucksart bei. Unwillkürlich verglich sie die Schelde, welche sie vor sich sah, mit der Elbe, von der sie kam. »Die Elbe ist ein romantischer Strom,« sagte sie,« die Schelde ein realistisch-poetischer.« Die Mutter blieb stehen und sah die Tochter an. »Warum sagst Du solche Dinge nur, wenn wir allein sind, Lenchen, und nie in Gesellschaft?« fragte sie.
»Weil ich nicht aufzufallen wünsche,« antwortete Helene gemessen.
Mit diesen Worten drückte dieses junge Mädchen eigentlich sein ganzes Wesen aus. Nicht aufzufallen, das war es, was sie wünschte, wollte, anstrebte. Bescheidenheit war es nicht, denn Helene wußte, daß sie sowohl im Aeußern, wie im Verstande keineswegs gewöhnlich sei. Sie beurtheilte sich ebenfalls ganz unbefangen als Klavierspielerin, sie hatte genug Mittelmäßiges gehört, um sich zugestehen zu können, daß sie in der Musik Ausgezeichnetes leiste. Ihr Talent zur Malerei stand dem der Mutter durchaus nicht nach, sie hatte es nur nicht weiter ausgebildet, vielleicht um mit der Mutter nicht in Nebenbuhlerschaft zu treten. Das vermied sie überhaupt und ließ der Mutter vollkommene Freiheit, sich liebenswürdiger, unterhaltender, freundlicher zu zeigen als sie und so besser zu gefallen. Helene hatte einen ganz fürstlichen Stolz, sie blickte von oben vornehm auf die Meinung der »gleichgültigen Leute« herab. Und zu dieser Zahl gehörten fast alle ihre Bekannten. Nicht leicht gewann Jemand irgend einen Werth für sie; sie achtete schwer und schätzte dagegen rasch gering.
Es war ein wunderliches Verhältniß zwischen dieser Mutter und dieser Tochter, für den wohlwollenden Beobachter höchst unterhaltend. Die Mutter, trotz ihrer fünf- bis sechsundvierzig Jahre noch immer eine sehr hübsche Frau, von üppiger, doch nicht ausschweifender Fülle, mit Haaren, die noch glänzend schwarz, und Zähnen, die noch glänzend weiß waren, die lebhafte, offene Künstlerin, deren Genialität bisweilen ganz dicht an Extravaganz streifte, die Mutter war hier das Kind.
Helene bevormundete, Helene mäßigte, Helene erinnerte sie. »Mama,« diese beiden Sylben im Tone einer allerhöchsten kleinen Mißbilligung von ihrer Seite ausgesprochen, hatten die Hofräthin von manchem allzugewagten Flug in die Nebelgefilde der Exzentrizität abgehalten, wo eine Frau Nichts zu suchen hat. Wurde eine solche Mahnung von fremden Ohren aufgefangen, so hieß Helene leicht unkindlich oder gar ungezogen. Der kindliche Respekt litt allerdings etwas unter dem Protektorat, das Helene ausübte, »aber«, fragte Helene sehr weise, wenn sie überhaupt sich einmal zu erklären und zu vertheidigen geruhte, »sollte ich, um einige leere Formen zu beobachten, die Mama ihrem Künstlertemperament überlassen? Es ist anerkannt, daß die genialen Frauen einer sorgsamen Leitung bedürfen. Wenn der Papa noch lebte, so könnte er Mama leiten, aber da sie Niemand hat als mich, so muß ich es thun. Ich möchte wissen, was aus Mama werden sollte, wenn ich nicht da wäre. Sie würde nie etwas kochen lassen und nie Geld haben.« Helene führte in der That die Wirthschaft und hatte die Kasse unter sich. »Zu meinem Vergnügen thu' ich's wirklich nicht,« versicherte sie. »Ich wünschte herzlich, Mama wäre nicht Künstlerin und ich könnte mich mit mir selbst beschäftigen. Aber da es ist, wie es ist, so thu' ich meine Pflicht, und kümmere mich durchaus um kein dummes Geschwätz über mich und mein Betragen.«
Wenn die Mutter nicht Künstlerin gewesen wäre, da hätte Helene leben können, wie es sich für ihre Eigenthümlichkeit geschickt hätte, in passenden, bequemen und alltäglichen Verhältnissen. Die Gelegenheit war da; der Bruder der Hofräthin, Gutsbesizer in Schlesien, Wittwer und kinderlos, hätte Nichts sehnlicher gewünscht, als die Schwester und die Nichte ein für alle Mal bei sich eingerichtet zu sehen. Von Zeit zu Zeit besuchte die Hofräthin ihn; sie war auf dem Gute aufgewachsen und vertauschte gern bisweilen das Künstlertreiben mit der Landwirthschaft, wovon sie mehr verstand als vom Hauswesen. Helene hatte kein Interesse für das Realistische des Landlebens, aber um so mehr ein tiefes Genügen an dem Poetischen desselben. Wenn sie nicht länger »auf Mama Acht zu geben hatte«, dann wurde sie, wenn gleich immer auf ihre besonnene und gedämpfte Weise, junges Mädchen, dann las sie im Schatten sitzend, dann jätete sie Blumenbeete oder stangelte Erbsen, dann pflückte sie Erdbeeren, putzte sie ab und aß sie mit einer ganz besondern Ueberlegung des Genusses, dann setzte sie sich zu Tische, ohne zu wissen, was aufgetragen werden würde, dann zog sie sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt an und machte Ausfahrten und Besuche, dann lebte sie, wie sie sagte, einmal für sich und ließ Mama machen, was ihr einfiel. »Hier auf dem Lande haben ihre Einfälle weiter Nichts zu bedeuten«, sagte sie zum Onkel.
Aber Mama wurde des Unschuldszustandes, worin ihre Einfälle harmlos waren, immer bald müde und sehnte sich zurück in die Welt, wo man mit den besten Grundsätzen dem kleinen Gelüst, sich halb zu kompromittiren, nachgeben konnte, denn das war die kleine Schwäche unserer Hofräthin; sie selbst kostete nie von der verbotenen Frucht, aber sie sah gern zu, wie Andere hineinbissen. So unpassend solche Gesellschaft für ihre Tochter auch sein mochte, sie konnte es nicht lassen, gewisse Damen zu besuchen, welche, ein Gemisch von Bettina und Sand, manche Kreise in Deutschland unsicher machen. Diese – genialen Frauen waren es denn auch, welche Helene am meisten verläumdeten. »Was muß die arme, warme Seele, die Herrmann mit dieser prosaischen Tochter zu leiden haben!« hieß es. »Sie fürchtet sich vor ihr, das ist ganz sicher.« Allerdings fürchtete die Hofräthin sich bei solchen Gelegenheiten vor der Tochter, denn sie wußte im Voraus, daß nach beendigtem Besuche Helene über alles, was sie dabei gehört hatte, das tiefste Schweigen beobachten würde. Und dieses Schweigen scheute die Mutter am meisten; es war so vorwurfsvoll beredt. Sie hörte noch weit lieber das warnende: »Mama!« obgleich es sie auch oft genug ungeduldig machte. Aber in der Gesellschaft mit den Genialen sagte Helene nie »Mama!« da saß sie stumm da, kalt und steif, als wäre sie von Eis und Fischbein. Kein Wunder, daß sie für eine prüde Närrin, ein unkindliches Gemüth und eine völlig unfreie Natur galt.
Prüde wurde sie auch oft von den Männern genannt, und vielleicht war sie es mehr, als sie es gewesen wäre, hätte sie nicht auf die Mama aufzupassen gehabt. Aber so fürchtete sie unaufhörlich, daß ein Mann die doch immer etwas unbestimmte gesellschaftliche Stellung der Mutter dazu benützen könnte, sich Freiheiten herauszunehmen. Die unbesonnene Zuvorkommenheit der Mutter vermehrte diese Gefahr, und war schon mehr als einmal gemißbraucht worden. In solchen Fällen vertheidigte die Hofräthin ihre Würde allerdings mit vieler Entrüstung, aber Helene fand es für besser, nicht erst einer Vertheidigung zu bedürfen, und suchte daher die Bekanntschaften, welche die Mutter unaufhörlich mit so sorgloser Zutraulichkeit knüpfte, so viel wie möglich zu verhindern, deßwegen war sie auch heute, als die Mutter Hendrik ohne Weiteres in den Wagen genöthigt hatte, plötzlich so abstoßend gegen den jungen Antwerpner geworden. Sie konnte nicht wissen, daß er gewohnt war, nicht nur mit Frauen, sondern selbst mit jungen Mädchen völlig kameradschaftlich umzugehen, und so schob sie ihm dieselben Schlüsse unter, die ein junger Norddeutscher in einem ähnlichen Falle gezogen haben würde, und fragte sich: »was muß er von uns denken?« Und da Hendrik ihr mehr gefallen hatte, als bisher im ersten Augenblicke jemals ein junger Mann, so war ihr der Gedanke, er könne eine falsche Meinung von ihnen gefaßt haben, noch um so empfindlicher.
Eben dachte sie wieder an ihn und zog bei dem Zurückrufen des Vorgefallenen die Stirne leicht über den feinen Augenbrauen zusammen, da stießen sie auf ihn und Cesarine, welche an seinem Arme hing.
Hendrik fiel buchstäblich aus dem Himmel auf die Erde, denn Rien hatte ihn eben durch ein erneuertes Geständniß ihrer Neigung erhoben. Man geht nicht umsonst an der Schelde wandeln, wenn ein junger Mond scheint und ein milder Aprilabend die ersten Blätter an den Bäumen des Werfts duften macht. Hendrik hätt' es wissen können. Wenigstens wußte er es jetzt und war selig und triumphirend, da mußte er auch gerade auf die beiden Deutschen stoßen.
Daß die Hofräthin ihn nicht vorüberließ, ohne sich des so raschen Wiederfindens zu freuen und in aller Eile ihr Entzücken über die Schelde auszudrücken, das war von ihr vorauszusehen, diesen Augenblick benutzten die beiden Mädchen, um sich zu mustern. Im nächsten kehrten beide Paare sich den Rücken. Und da dachte Helene: »Das ist ja ein schwerfälliges unelegantes Geschöpf, welches an dem Arme des jungen Mannes wie ein Rekrut marschirt.« Rien aber sagte: »Das ist eine aufgeputzte Puppe – wer ist sie denn, Rik, und woher kennt Ihr sie?« Die Musterung hatte von beiden Seiten kein günstiges Ergebniß geliefert.