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VIII.

Die Tante war auch schon fort, die beiden jungen Leute blieben allein in der dunkelnden Wohnung. Es herrscht in Antwerpen unter der kleinen »Bürgerei« eine große gesellige Freiheit zwischen beiden Geschlechtern; Spaziergänge zu zweien, Wasserfahrten, Landpartieen, Alles ist erlaubt. Viele junge Personen gehen mit Bruder, Vetter oder Anbeter auch ganz unbefangen auf die Bälle in den Variétés, wie das große Theater heißt, genug, das Alleinbleiben Hendrik's mit Cesarine war etwas durchaus Unverfängliches und Natürliches, und hatte schon mehr als ein Mal stattgefunden.

Cesarine benutzte es heute, um sogleich bitter über Tante und Vetter zu klagen. Was Tante von ihr verlangte, hatte Großmutter nie verlangt, und Ward war denn nun geradezu unfreundlich und grob.

»Wenn Eure Verwandten nicht so gegen Euch sind, wie sie es sein sollten,« antwortete Hendrik, »so habt Ihr dagegen Freunde, die es gut mit Euch meinen, und ich bin von ihnen der aufrichtigste.«

Cesarine wandte sich zu Hendrik und sah ihm prüfend in die Augen. Dann warf sie den Kopf in die Höhe und die üppigen Lippen trotzig auf.

»Wir wissen was wir wissen,« sagte sie auf französisch.

»Ja, das wissen wir allerdings,« bestätigte Hendrik schelmisch auf vlämisch. »Rien lieb,« fuhr er dann ernster fort, »es ist sonderbar, wie ich heute an die alten Zeiten gedacht habe.«

»Das thut Ihr wohl immer,« warf sie hin und zupfte mit niedergeschlagenen Augen an ihrem Kleide.

»Heute habe ich's gethan,« erwiederte er. »Und ich sah auch Euch wieder, wie Ihr Melanie zum letzten Male küßtet.«

Ein Zimmer war damals in eine Kapelle verwandelt und Melanie darin ausgestellt worden. Ihre jungen Freundinnen waren gekommen, um sie zum Abschied auf die Stirn zu küssen, unter ihnen auch Rien. Hendrik hatte einen glühenden Schauer den Rücken hinab gefühlt, als er die sinnlich schwellenden Lippen der Lebenden auf der eiskalten und eisbleichen Stirn der Todten ruhen gesehen. Und dieselbe Empfindung hatte er, wie er Cesarine jetzt erzählte, heute wieder bei der Erinnerung gehabt.

»Wohl«, fing Cesarine an, stockte und athmete beklommen, faßte sich und fuhr fort: »es war schön von mir, daß ich sie küßte.«

»Warum?« fragte Hendrik mit naivem Lauern.

»Ich hatte durch sie drei Jahre schwer gelitten,« sagte sie dumpf.

Hendrik schüttelte lächelnd den Kopf. »Och Rien, was Ihr mir doch weiß machen wollt!«

Sie sah ihn wieder fest und scharf an, indem sie eine der ihr eigenthümlichen raschen Kopfbewegungen machte. Wenn Cesarine auf ihrem eigentlichen Felde, auf dem der herausfordernden Koketterie war, so entwickelte sie gefährliche Naturgaben. Dann war sie nicht länger romantisch, sondern sehr realistisch und darum eine Gegnerin, mit der man geschickt fechten mußte. War sie für Hendrik zu mächtig?

Er hatte vor ihrem Blick betroffen seine Augen abgewandt, die er, da sie in der immer dichter werdenden Dämmerung Nichts fanden, woran sie hätten haften können, auf den Boden fallen ließ. Seine Cigarre ging aus. Einige Minuten herrschte ein Stillschweigen, in welchem unruhige Athemzüge hörbar wurden. Plötzlich wurde Hendrik sehr beweglich, rührte sich, rückte sich, versuchte seine Cigarre wieder anzublasen. Rien stand ohne ein Wort auf und ging in das Nebenzimmer. Hendrik benutzte den Augenblick, um einige Male recht tief Athem zu holen. Dann sagte er etwas erleichtert: »sie soll mich nicht zum Narren halten.«

Sie kam wieder herein, in der Hand den Leuchter mit dem angezündeten Licht. »Da,« sagte sie, den Leuchter auf den Tisch setzend und ging an's Fenster, wo sie die Stirn an die Scheibe drückte und so in die abendstille Straße hinabblickte.

Hendrik wollte sich die Cigarre anstecken, er zögerte, legte die Cigarre auf den Tisch und ging zu dem Mädchen hin. »Rien!« sagte er, ihre herabhängende linke Hand nehmend. Rien antwortete nicht, er zog sie vom Fenster weg bis in den Bereich des Lichtes. Sie hatte sich nur anfänglich etwas gesträubt, dann, gleich, als wäre sie zu schwach, nachgegeben. Hendrik hielt noch immer ihre Hand und sah sie an, in seinem Blicke lag eine bedenkliche Leidenschaftlichkeit, die nur durch Rührung etwas gemildert wurde. Cesarine ließ die Unterlippe hängen, wie Kinder thun, denen das Weinen nahe ist und die ihm doch noch trotzen. Hendrik preßte auf einmal Cesarinens Hand gewaltsam zusammen. »Rien,« sagte er mit zitternder Stimme und mit Innigkeit, »treibt keinen Scherz mit mir.«

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Ihr habt mich damals ja doch fortgeschickt,« fuhr er fort.

Cesarine sah ihn an und brach in ein mit Thränen vermischtes Gelächter aus.

Nun, es war zum Lachen, wie Hendrik vor fünf Jahren von Cesarine »fortgeschickt« worden war. Man stelle sich einen jungen Menschen vor, der zwei jungen Geschöpfchen in seinem Alter Liebeserklärungen gemacht und Liebesbriefe geschrieben hat, zwei kleinen Plappermäulern, die Gespielinnen waren, äußerst stolz sind, einander etwas anvertrauen zu können, zu ihrer hohen Entrüstung entdecken, daß sie sich beide dasselbe anzuvertrauen haben, und den Schuldigen vor sich fordern, sobald sie eine sichere Stunde und einen sichern Ort ausfindig gemacht haben. Wie wird der Schuldige aussehen, der zum Stelldichein mit Einer herbeizuschleichen geglaubt, und sich nun plötzlich Beiden gegenüberfindet? Gerade wie Hendrik aussah, unerhört verblüfft. Doch Hendrik faßte sich bald. Einer seiner Freunde, ein Deutscher, pflegte zu sagen, Hendrik würde, würfe man ihn selbst vom Thurm von Unserer Lieben Frauenkirche hinab, dennoch wie eine Katze auf seine Beine fallen. So stand er denn auch den beiden beleidigten Kindern nicht länger als eine halbe Minute stumm gegenüber, in der nächsten halben hatte er seinen Kopf wieder zusammen und fing an sich zu vertheidigen, d. h. anzuklagen! Sofieken, so hieß der zweite Gegenstand seiner Liebe, zeigte sich am erbittertsten; war es darum, weil Hendrik sich definitiv für Rien entschied, von welcher er mehr Nachsicht hoffen zu dürfen glaubte? Genug, er erklärte, seine eigentliche Neigung gehörte Cesarinen. An Sophie richtete er eine sehr rührende Abbitte, welche ihm mit Spott und Hohn vergolten wurde. Es war in der Zeit, wo sein Gesicht noch so hübsch rund gewesen war, seit anderthalb Jahren erst war er vom Athenäum herunter, er hatte das Recht, kindisch zu sein. Aber die Mädchen nahmen es hoch und ernsthaft, und sie hatten auch wieder Recht; was ist mit einem Liebhaber für Zwei anzufangen? Hendrik fand so wenig bei Rien, wie bei Sofieken Gnade, und wurde feierlich und auf ewig verbannt. Da war es, daß er aus Trotz eine Liebelei mit Melanie anfing, welche, Dank der Innigkeit ihrer Neigung, bald zur Liebe wurde. Vielleicht bereute jetzt Cesarine, daß sie so hastig und bestimmt im Fortschicken gewesen, wenigstens zeigte sie sich, wo sie Hendrik nur immer begegnete, von einer einladenden Freundlichkeit gegen ihn. Hendrik, dessen guter Natur Nichts unbequemer fiel, als irgend ein Groll, erwiederte diese Freundlichkeit mit einer offenen, ehrlichen Herzlichkeit, doch wich er, wohl wegen Melanie, die etwas eifersüchtig auf die Zuerstgeliebte sein mochte, den Begegnungen mit Cesarine mehr aus, als daß er sie gesucht hätte. Dann kam der Tod der Braut, und eine ziemlich lange Ungewißheit über Hendrik's eigenes Leben. Heftiges Blutspucken schien anzuzeigen, daß seine Brust gefährlich angegriffen sei. Das war auch der Fall, doch allmälig siegte die Jugend, Hendrik genaß langsam, doch sicher. Zugleich faßte er neue Lust zum Leben, wenn er sich auch noch die zu neuer Liebe untersagte. Cesarine hatte unterdessen den Onkel verloren und erschien interessant als dreifach verwaistes Kind. Hendrik's Herz war jedem fremden Leid geöffnet, wie hätte es sich vor dem Cesarinens schließen können? Anfangs begehrte sie von seinem Herzen auch nichts weiter als Theilnahme. Sie hatte ihn in ihrer glücklichen Jugend gekannt, er hatte Großmutter gekannt, wußte, wie glücklich Cesarine bei ihr gewesen. Hendrik erinnerte sich allerdings, wie Cesarine oft heftig über die Großmutter geklagt, wie ungeberdig sie sich gegen die alte Frau gehabt hatte, wenn die Großmutter ihr nicht erlauben wollte, noch spät Abends mit Hendrik wandeln zu gehen. Aber Cesarine war damals noch so jung gewesen, hatte noch kein Einsehen gehabt, das sagte sie jetzt zu ihrer Entschuldigung, und Hendrik bestätigte es zu ihrem Troste. Wie gut der Onkel zu ihr gewesen, das konnte Hendrik allerdings nicht wissen, denn er war, obwohl mit Edward gut bekannt, doch fast nie in das Haus gekommen, seitdem Cesarine dort aufgenommen worden war. Aber Cesarine erzählte ihm vom Onkel, beweinte ihn in Hendrik's Gegenwart, und Hendrik – trocknete ihre Thränen. Durch sanfte Einladungen »um der alten Kinderfreundschaft willen« hatte sie ihn schon im vorigen Sommer in das Haus zu ziehen gewußt. In seinen Liedern fand sich eines, aus welchem hervorzugehen schien, daß sie wohl versucht haben könnte, ihn ihrerseits zu trösten. Seitdem hatte Hendrik sich wirklich trösten lassen, Mutter fürchtete nicht ohne Grund das Wandeln mit Rien. War's Eitelkeit, war's nur das natürliche Bedürfniß der Jugend, Hendrik war jetzt wild verliebt in Cesarine. Er gestand es sich selbst noch nicht recht, traute Cesarinen noch gar nicht, wollte nichts Ernstliches, aber verliebt war er, und eifersüchtig auf jeden Blick, welchen Cesarine einem Andern zuwendete. Da sie nun keineswegs sparsam mit ihren Blicken umging, so hatte Hendrik viel Gelegenheit zur Eifersucht und wurde so mehr und mehr zu einem Geständniß angestachelt. Doch hatte bis jetzt noch immer sein Kopf die Oberhand behalten, diesen Abend indessen war er in großer Gefahr. Das Blut klopfte zu heiß in Hendrik's Herzen. Als einen letzten Versuch, sich gegen die Gewalt zu stemmen, welche Cesarine mit jedem Augenblicke mehr und mehr über ihn gewann, schlug der junge Mann vor, jetzt noch den beschlossenen Spaziergang zu machen.


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