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Hendrik Van Loon beeilte sich, den Heimweg wieder einzuschlagen, auf dem er sich befunden hatte, als er von dem Kutscher in Nöthen angerufen worden war. Er hatte Hunger, und das konnte ihm auch erlaubt sein, denn es war bereits über fünf Uhr. Seine Mutter machte ihm auf, sie hatte ihn am Fenster vorbeikommen sehen. Sie wunderte sich, daß er so lange ausgeblieben wäre; für gewöhnlich war er mit dem Schlag Vier da, denn nach halb Vier verließ er die Redaction. Hendrik antwortete ihr, er wolle ihr Alles erzählen, während er äße. Es war im Wohnzimmer bereits für ihn gedeckt; seit er Redacteur war, konnte er nicht mit der Familie um Zwölf essen – so nahm denn sein Couvert sich auf dem ziemlich großen Tisch etwas verloren aus. Allein blieb er jedoch darum nicht; als die Mutter ihm seinen Kalbsbraten mit Salat aufgetragen hatte, setzte sie sich zu ihm – sie leistete ihm fast immer Gesellschaft, erzählte ihm, was während des Vormittags im Hause und in der Nachbarschaft vorgegangen war, hörte von ihm die Neuigkeiten aus der Stadt und aus der Welt. Es war eine ganz schlichte, kleine, alte Frau, was wir ein Mütterchen nennen, fünfundsechzig alt, schwächlich durch allzu angestrengtes Arbeiten, in ihrer Kleidung getreu ihrem Stande, dem der kleinen Handwerker. Aus einer Zeit, wo von Volkserziehung noch nicht einmal geträumt wurde, konnte sie weder lesen noch schreiben, aber sie hatte gesunden Verstand und traf beim Urtheilen instinktmäßig das Richtige. Hendrik theilte ihr daher Alles mit, was ihn betraf, ja, er las ihr öfter Gedichte oder Geschichten vor, sowohl von sich wie von seinen Freunden. Wenn »Mutter« weinte – im Vlämischen wird selten die oder meine Mutter gesagt, meistens immer schlechtweg Mutter oder Vater – also wenn Mutter weinte, so hatte Hendrik eine hohe Meinung von dem Gedicht oder von der Geschichte, dann war der wahre, reine Volkston getroffen.
Auch heute erzählte er ihr von Anfang bis zu Ende die Begegnung mit den beiden Deutschen, und fragte Mutter, wie sie wohl die plötzliche Veränderung in dem Betragen des jungen Mädchens erklären würde.
Das kam der alten Mutter denn doch ein wenig schwer vor. So gleich von vornherein ein junges Mädchen enträthseln und erklären sollen, welches man obendrein noch gar nicht gesehen hat – Hendrik hatte gar zu großes Vertrauen in Mutters Instinkt. Sie sagte auch kopfschüttelnd: »Aber, Rik, wie soll ich denn das wissen?« Dann setzte sie nach einem kurzen Ueberlegen hinzu: »vielleicht war sie nichts weiter als grillig – die Mädchen heutzutage sind es. Zu meiner Zeit nicht, da war Jedermann verständiger und gesetzter als jetzt. Seht, Rien ist doch auch oft grillig.«
In Hendrik's beweglicher Physiognomie war es deutlich zu sehen, daß die Erwähnung »Rien's« von Seiten Mutters ihm nicht ganz angenehm war. Die Mutter nahm es wahr, sie kannte ihren Liebling gut, denn ihr Liebling war – Hendrik sie konnte auf ihn von ihren Kindern am meisten stolz sein, er war der gescheidteste, hatte die beste Stellung, war im Zuge, sich einen Namen zu machen. Sie ließ folglich Rien fallen und zu dem ursprünglichen Gegenstande des Gesprächs zurückkehrend, sagte sie: »Wenn das junge Mädchen so unfreundlich gewesen ist, so braucht Ihr ja nur nicht wieder hinzugehen.«
»Ja, aber, Mutter, ich hab's versprochen, und sie kennen doch keinen Menschen – man muß den Leuten doch helfen, wenn sie fremd sind.«
»Ja sicher,« bestätigte Mutter.
»Und die Mutter, die ist auch ganz anders,« fuhr Hendrik fort, »äußerst freundlich und zuvorkommend – vielleicht, daß die Tochter auch so ist, wenn sie mich erst besser kennt – ich möchte doch gern etwas besser deutsch sprechen lernen.« Hendrik hätte nicht so viele Gründe herbeizusuchen brauchen, Mutter hinderte ihn in Nichts, was er zu thun wünschte oder für gut befand, nur wenn er viel zu Rien ging, war sie nicht »kontent«, wie die Vlamingen sagen. Und doch wollte er das heute wieder, denn er sagte: »Ich wäre diesen Abend gleich wieder hingegangen, um sie so ein Bischen in der Stadt herumzuführen, es ist nur, daß ich es Rien versprochen habe, heute noch zu kommen.«
»Was wollt Ihr denn heute noch mit Rien?« fragte Mutter, die er von der Seite ansah, als fürchtete er, gescholten zu werden.
»Ah, nur ein Bischen wandeln gehen.« Wandeln gehen heißt spazieren gehen.
»Rien geht gern wandeln,« bemerkte Mutter.
»Ach, Mutter, sie ist doch noch so jung –«
»Wohl, sie ist vierundzwanzig, so alt wie Melanie jetzt sein würde, wenn sie noch lebte.« Mutter seufzte und machte ein andächtiges Gesicht – es war deutlich, daß sie Melanie in's Leben zurückwünschte.
Sie war aufgestanden und wollte aufräumen, denn Hendrik war mit seiner einfachen Mahlzeit bereits zu Ende. Im Allgemeinen sind die Vlamingen sehr mäßig im Essen, im Trinken nicht immer. Hendrik war's in Beidem, das sah man an seiner Gestalt. Ohne gerade schlank zu sein, hatte sie eine große elastische Leichtigkeit und war noch völlig jugendlich. Auch das Gesicht war noch jung, sehr dunkel an Farbe, etwas flach, ohne Regelmäßigkeit in den Zügen, aber, wie ich bereits sagte, von großer Beweglichkeit, lebendig und abwechselnd durch Ausdruck. Die Augen waren groß, von einem sonderbaren fahlen Dunkel, nicht braun, nicht grau; sie blitzten leicht auf. Ueber den vollen dunkelrothen Lippen saß höchst unverschämt ein kleiner schwarzer Schnurrbart, und das Haar war eine undurchdringliche Verwirrung von matt metallischem Eisenschwarz – in ganz vlämisch Belgien gab's gewiß kein entschiedeneres »Krollebolleken«, als Hendrik Van Loon. Ich habe anderswo auch Krausköpfe gesehen, aber solche wie bei den Vlamingen noch nie, und nirgends sonst. Und krauser und wirrer als Hendrik konnte man keinen finden.
Alles zusammengenommen war's ein Junge, den anzusehen den Augen einer Mutter wohlthun konnte, und als er nun den Arm um Mutter schlug und die kleine alte Frau zu sich zog, den Kopf an ihre Schulter legte, schmeichelnd zu ihr in die Höhe sah und überredend fragte: »Wohl, Mutter, im Wandeln da ist doch nichts Schlimmes?« da war es nicht zu verwundern, daß sie seine Stirne streichelte, während die Runzeln auf der ihrigen sich glätteten, und keinen schärferen Tadel fand, als die bedenklichen Worte: »wenn's nur beim Wandeln bleibt!«
»Es soll schon dabei bleiben, Mutter,« sagte er mit einer höchst entschiedenen Miene in seinem guten, braunen Gesicht, welches jedoch, die Wahrheit zu sagen, ebenso viel Leichtsinn wie Intelligenz verrieth. »Die Jungens müssen zu den Mädchen gehen und complaisant sein – man will doch so das Plaisier haben, so lange man noch jung ist. Aber was Ernstes wird nicht daraus, Mutter; och »och« steht vlämisch für »ach.« ( Anm.d.Verf.), ich hab' an ganz andere Dinge zu denken. Jetzt, z. B. muß ich gleich an einen Artikel über die Südslaven –« Hendrik sah unendlich weise aus, Mutter räumte gelassen ab – was gingen sie die Südslaven an? Hendrik streckte und reckte sich; eigentlich hätt' er es den Südslaven sehr gedankt, wenn sie ihn auch Nichts angegangen wären, aber man ist nicht umsonst Redacteur; Hendrik war in drei bis vier Sprüngen die Treppe hinauf und in seinem Zimmer.