Fjodr Dostojewski
Schuld und Sühne
Fjodr Dostojewski

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VII

An demselben Tage, aber erst am Abend, zwischen sechs und sieben Uhr, ging Raskolnikow nach der Wohnung seiner Mutter und seiner Schwester, nach eben jener Wohnung im Bakalejewschen Hause, die ihnen Rasumichin besorgt hatte. Die Treppe hatte ihren Eingang von der Straße her. Noch als Raskolnikow sich bereits der Wohnung näherte, ging er nur zögernden Schrittes und schien zu schwanken, ob er hineingehen sollte oder nicht. Aber er wäre um keinen Preis umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt.

›Zudem ist es ja auch ganz gleich‹, dachte er. ›Sie wissen noch nichts und sind es schon gewohnt, mich für einen wunderlichen Gesellen zu halten . . .‹

Seine Kleidung sah schrecklich aus: alles war schmutzig und zerdrückt, da er die ganze Nacht im Regen zugebracht hatte. Sein Gesicht war ganz entstellt infolge der Ermüdung, des Unwetters, der physischen Erschöpfung und eines fast vierundzwanzig Stunden währenden Seelenkampfes. Diese ganze Nacht über war er allein gewesen, Gott mochte wissen wo. Aber wenigstens war er zu einem Entschlusse gelangt.

Er klopfte an die Tür, die Mutter öffnete ihm. Dunja war nicht zu Hause. Auch das Dienstmädchen war gerade nicht da. Pulcheria Alexandrowna war zuerst ganz sprachlos vor freudigem Erstaunen; dann ergriff sie ihn an der Hand und zog ihn ins Zimmer hinein.

»Nun, da bist du ja!« begann sie, vor Freude stotternd. »Sei mir nicht böse, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße, mit Tränen: aber ich lache ja nur, ich weine nicht. Denkst du, ich weine? Nein, ich freue mich bloß; aber das ist so eine dumme Angewohnheit von mir, daß mir dann gleich die Tränen kommen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters so an mir: alles bringt mich zum Weinen. Setz dich, lieber Sohn, du bist gewiß müde, das sehe ich. Ach, was hast du dich schmutzig gemacht!«

»Ich bin gestern im Regen aus gewesen, Mama . . .«, begann Raskolnikow.

»Nicht doch! Nicht doch!« fiel ihm Pulcheria Alexandrowna lebhaft ins Wort. »Du denkst wohl, ich fange gleich an, dich auszufragen, wie ich das früher nach Weiberart zu tun pflegte; aber sei unbesorgt! Ich sehe ja ein, daß das nicht passend war; ich sehe das durchaus ein; jetzt habe ich schon die hiesigen Sitten gelernt, und wirklich, ich muß selbst gestehen, daß die verständiger sind. Ich habe mir ein für allemal gesagt: Wie kann ich deine Ideen fassen und von dir Rechenschaft verlangen? Du hast vielleicht Gott weiß was für Unternehmungen und Pläne im Kopfe, oder es keimen und wachsen da so allerlei Gedanken; wie darf ich dich da immer in die Seite stoßen mit der Frage: ›Woran denkst du?‹ Siehst du, ich . . . Ach, mein Gott! Was schwatze ich denn da kreuz und quer wie verdreht . . . Weißt du, Rodja, deinen Aufsatz in der Zeitschrift lese ich jetzt schon zum dritten Male; Dmitrij Prokofjitsch hat ihn mir gebracht. ›Ach so, ach so!‹ rief ich aus, als ich ihn las. ›Was bin ich für eine Närrin!‹ dachte ich bei mir. ›Also mit solchen Dingen beschäftigt er sich! Das ist die Lösung des Rätsels! Die Gelehrten sind alle so. Er hat vielleicht gerade neue Gedanken im Kopfe und überlegt sich die, und da komme ich ihm dazwischen und quäle und belästige ihn!‹ Ich lese deinen Aufsatz, lieber Sohn, aber verstehen tue ich natürlich nicht viel davon. Das ist ja auch ganz natürlich; wie sollte ich denn auch!«

»Zeigen Sie ihn mir doch einmal, Mama.«

Raskolnikow nahm die Zeitschrift und warf einen flüchtigen Blick auf seinen Aufsatz. So wenig das auch zu seiner Lage und zu seinem Zustande passen wollte, so empfand er doch jenes eigentümliche, wonnig kitzelnde Gefühl, welches ein Verfasser durchkostet, der sich zum ersten Male gedruckt sieht; auch wirkten dabei seine dreiundzwanzig Jahre mit. Indes dauerte das nur einen Augenblick. Nachdem er einige Zeilen gelesen hatte, verfinsterte sich sein Gesicht, und ein furchtbarer Gram preßte ihm das Herz zusammen. Der ganze seelische Kampf, den er in den letzten Monaten durchgemacht hatte, kam ihm auf einmal wieder ins Gedächtnis. Voll Widerwillen und Ärger warf er die Zeitschrift auf den Tisch.

»Aber wenn ich auch noch so dumm bin, Rodja, das kann ich doch beurteilen, daß du sehr bald in unserer Gelehrtenwelt einer der ersten Männer, wenn nicht der allererste, sein wirst. Und da haben die Leute gewagt zu meinen, du wärest geistesgestört! Ha-ha-ha! Du weißt das nicht; aber sie haben das gedacht! Ach, dieses niedrige Gewürm; die haben ja keine Ahnung davon, was Verstand ist. Und Dunja, Dunja hat es auch beinahe geglaubt – was sagst du dazu? Dein seliger Vater hat zweimal etwas an Zeitschriften eingesandt, das erstemal Gedichte (ich habe das Heft aufbewahrt und will es dir bei Gelegenheit einmal zeigen) und das zweitemal eine ganze Novelle (er hatte mir auf meine Bitte erlaubt, sie selbst ins reine zu schreiben). Und wie haben wir beide gebetet, daß die Einsendungen angenommen werden möchten; aber sie wurden nicht angenommen! Ach, Rodja, vor sechs, sieben Tagen war ich so tieftraurig, als ich deine Kleidung sah, und wie du wohnst und was du ißt. Aber jetzt sehe ich ein, daß auch das wieder einmal dumm von mir war; denn wenn du nur wolltest, so könntest du jetzt mit einem Schlage alles durch deinen Verstand und durch dein Talent erreichen. Aber du willst das vorläufig nur nicht und bist mit weit wichtigeren Dingen beschäftigt . . .«

»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?«

»Nein, Rodja. Sie geht jetzt sehr oft fort und läßt mich allein. Dmitrij Prokofjitsch kommt häufig her und sitzt ein Weilchen bei mir; dafür bin ich ihm sehr dankbar. Er spricht immer von dir; der liebt und schätzt dich sehr, lieber Sohn. Was deine Schwester angeht, so kann ich von ihr nicht sagen, daß sie gerade respektlos gegen mich wäre. Ich beklage mich nicht über sie. Sie hat eben ihren eigenen Charakter und ich den meinigen. Sie hat jetzt irgendwelche Geheimnisse vor mir; na, ich meinerseits habe vor euch keine Geheimnisse. Ich bin ja natürlich der festen Überzeugung, daß Dunja ein sehr kluges Mädchen ist und außerdem mich und dich liebt, . . . aber ich weiß wirklich nicht, welchen Ausgang das alles noch nehmen wird. Zum Beispiel jetzt: du hast mich glücklich gemacht, Rodja, dadurch daß du hergekommen bist; aber sie ist durch ihre ewigen Spaziergänge dieser Freude verlustig gegangen. Wenn sie wiederkommt, will ich ihr aber sagen: ›Als du weg warst, ist dein Bruder hier gewesen; aber du, wo hast du wieder die Zeit verbracht?‹ Verwöhne mich nur auch nicht zu sehr, Rodja: wenn du kommen kannst, so komm; kannst du nicht, nun, dann ist eben nichts zu machen, dann muß ich warten. Ich weiß ja doch, daß du mich liebst, und das genügt mir. Siehst du, ich werde deine Abhandlungen lesen und von allen Leuten etwas über dich hören, und ab und zu kommst du auch selbst einmal, um mich zu besuchen; was will ich mehr? Du bist ja auch jetzt gekommen, um deiner Mutter eine Freude zu machen; das sehe ich ja . . .«

Hier brach Pulcheria Alexandrowna plötzlich in Tränen aus.

»Da weine ich schon wieder! Achte nicht auf mich Närrin! Ach Gott, was sitze ich denn hier!« schrie sie und sprang auf. »Es ist ja Kaffee da, und ich setze dir keinen vor! Ja, ja, da sieht man eben, daß alte Frauen immer nur an sich selbst denken. Sofort, sofort!«

»Lassen Sie, lassen Sie, liebe Mama, ich gehe gleich wieder. Darum bin ich nicht gekommen. Bitte, hören Sie mich an.«

Pulcheria Alexandrowna trat schüchtern ein paar Schritte näher zu ihm.

»Liebe Mama, was auch geschehen mag, was Sie auch über mich hören mögen, was man Ihnen auch über mich sagen mag – werden Sie mich trotzdem so lieb behalten wie jetzt?« fragte er so recht aus überquellendem Herzen, ohne seine Worte zu bedenken und abzuwägen.

»Aber Rodja, Rodja, was ist mit dir? Wie kannst du nur so fragen! Und wer wird mir denn auch etwas Ungünstiges über dich sagen? Ich würde es ja auch niemandem glauben; wer mit so etwas zu mir käme, dem würde ich einfach die Tür weisen.«

»Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Sie immer geliebt habe, und ich bin jetzt froh, daß wir beide allein sind; ja, ich bin sogar froh, daß Dunjetschka nicht hier ist«, fuhr er in demselben herzlichen Tone fort. »Ich bin hergekommen, um Ihnen frei und offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich werden sollten, Sie doch überzeugt sein können, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr liebt als sich selbst und daß alles, was Sie von mir gedacht haben, als wäre ich hartherzig und hätte Sie nicht mehr lieb, daß das alles unrichtig ist. Ich werde nie aufhören, Sie zu lieben . . . Nun aber genug; ich glaubte, Ihnen dies sagen und damit beginnen zu müssen . . .«

Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn schweigend, drückte ihn an ihre Brust und weinte still.

»Ich weiß nicht, was mit dir ist, Rodja«, sagte sie endlich. »Ich habe die ganze Zeit her gedacht, wir wären dir einfach langweilig geworden; jetzt aber sehe ich aus allem, was du sagst, daß dir ein großes Leid bevorsteht und du deshalb so bekümmert bist. Ich habe das schon lange geahnt, Rodja. Verzeih mir, daß ich davon angefangen habe; aber ich denke immerzu daran und kann keine Nacht schlafen. Die letzte Nacht hat auch deine Schwester fortwährend phantasiert und immer von dir gesprochen. Ich habe einige Worte davon verstanden, konnte aber nicht daraus klug werden. Den ganzen Vormittag bin ich umhergegangen wie eine zum Tode Verurteilte; ich erwartete etwas, ahnte etwas, und nun ist es eingetreten! Rodja, Rodja, wo willst du hin? Willst du vielleicht irgendwohin reisen?«

»Ja, ich verreise.«

»Das habe ich mir doch gedacht! Aber da könnte ich doch mit dir reisen, wenn du mich brauchen kannst. Und Dunja auch; sie hat dich lieb, sehr lieb; auch Sofja Semjonowna kann ja in Gottes Namen mit uns fahren, wenn es nötig ist; siehst du, ich will sie gern an Tochter Statt aufnehmen. Dmitrij Prokofjitsch wird uns behilflich sein, daß wir alle zusammen rechtzeitig fertig werden . . . Aber . . . wohin willst du denn reisen?«

»Leben Sie wohl, liebe Mama.«

»Wie? Heute schon?« rief sie erschrocken, als sollte sie ihn für immer verlieren.

»Ich muß; ich habe keine Zeit mehr; es ist nicht aufzuschieben.«

»Kann ich dich denn nicht begleiten?«

»Nein; aber knien Sie nieder und beten Sie für mich. Vielleicht findet Ihr Gebet Erhörung.«

»Komm, ich will dich bekreuzigen und segnen! So! So! O Gott, was sollen wir nur tun!«

Ja, er war froh, sehr froh, daß niemand weiter da war, daß er mit der Mutter allein war. Es war, als ob im Rückschlage von dieser ganzen schrecklichen Zeit sein Herz nun auf einmal weich geworden wäre. Er fiel vor ihr nieder, er küßte ihre Füße; weinend hielten sie beide einander umschlungen. Und nun war sie nicht mehr erstaunt und fragte ihn nach nichts mehr. Es war ihr schon lange klar geworden, daß mit ihrem Sohne etwas Schreckliches vorging und nun ein furchtbarer Augenblick für ihn heranrückte.

»Rodja, mein lieber, mein Erstgeborener«, sagte sie schluchzend, »jetzt bist du wieder so, wie du als kleiner Knabe warst; da kamst du ebenso zu mir und umarmtest mich und küßtest mich. Damals, als noch dein Vater lebte und er und ich zusammen darbten, war schon allein das ein Trost für uns, daß wir dich um uns hatten; und als ich deinen Vater begraben hatte, wie oft habe ich da an seinem Grabe dich ebenso umschlungen gehalten und geweint! Und daß ich jetzt schon so lange weine, das kommt daher, daß mein Mutterherz dein Unglück geahnt hat. So wie ich dich damals zum ersten Male erblickt hatte (erinnerst du dich? am Abend, gleich nachdem wir hier angekommen waren), da erriet ich gleich alles schon aus deinem Blicke, und es gab mir gleich einen Stich ins Herz; und heute, als ich dir aufmachte, da sah ich – ›Jetzt‹, dachte ich, ›ist sicher die verhängnisvolle Stunde gekommen!‹ Rodja, Rodja, du wirst doch nicht jetzt gleich wegreisen?«

»Nein.«

»Du kommst noch einmal her?«

»Ja, . . . ich komme.«

»Rodja, sei mir nicht böse, ich darf dich ja nicht zu viel fragen. Ich weiß, daß ich es nicht darf; aber nur ein paar kleine Wörtchen sage mir: reisest du weit von hier fort?«

»Sehr weit.«

»Was hast du denn dort? Bekommst du da ein Amt? Beginnst du da deine Laufbahn?«

»Ich nehme hin, was Gott mir sendet . . . Beten Sie nur für mich . . .«

Raskolnikow ging zur Tür; aber sie hielt ihn fest und schaute ihm mit einem verzweiflungsvollen Blick in die Augen. Ihr Gesicht war ganz entstellt von Angst.

»Nun laß es genug sein, liebe Mama!« sagte Raskolnikow und bereute tief, daß er auf den Gedanken gekommen war, hierher zu gehen.

»Du gehst doch nicht für immer fort? Doch noch nicht für immer? Du wirst doch noch einmal herkommen? Kommst du morgen her?«

»Ja, ich komme, ich komme! Leben Sie wohl!«

Endlich riß er sich los.

Der Abend war frisch, warm und heiter; das Wetter hatte sich seit dem Vormittage aufgeklärt. Raskolnikow ging nach seiner Wohnung; er eilte. Vor Sonnenuntergang wollte er alles erledigt haben. Bis dahin wollte er mit niemand mehr zusammensein. Als er zu seiner Wohnung hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja von dem Samowar, mit dem sie beschäftigt war, aufschaute, ihn aufmerksam anblickte und mit den Augen verfolgte. ›Es wird doch nicht etwa jemand bei mir sein?‹ dachte er. Der Gedanke an Porfirij Petrowitsch fuhr ihm durch den Kopf und erregte ihm heftigen Widerwillen. Aber als er zu seinem Zimmer gelangt war und die Tür öffnete, erblickte er Dunja. Sie saß ganz allein, tief in Gedanken versunken, da und mochte schon lange auf ihn gewartet haben. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erschrak, erhob sich langsam vom Sofa und blieb aufgerichtet vor ihm stehen. Ihr starr auf ihn gerichteter Blick drückte Angst und untröstlichen Kummer aus. Schon allein an diesem Blicke erkannte er sofort, daß sie alles wußte.

»Soll ich zu dir hereinkommen, oder soll ich wieder weggehen?« fragte er unsicher.

»Ich habe den ganzen Tag bei Sofja Semjonowna gesessen; wir haben dort beide auf dich gewartet. Wir dachten, du würdest sicher dorthin kommen.«

Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich völlig erschöpft auf einen Stuhl.

»Ich bin etwas schwach, Dunja, sehr müde; und doch möchte ich gern, wenigstens für diese Minute, meiner Kraft vollständig mächtig sein.«

Er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.

»Wo bist du denn die ganze Nacht gewesen?«

»Ich kann mich nicht mehr recht erinnern. Siehst du, Schwester, ich wollte zu einem definitiven Entschlusse gelangen und bin lange Zeit an der Newa auf und ab gegangen; daran erinnere ich mich. Ich wollte gleich dort ein Ende machen; aber . . . ich konnte mich nicht dazu entschließen . . .«, flüsterte er und sah dabei Dunja wieder mißtrauisch an.

»Gott sei Dank! Und wie wir beide, Sofja Semjonowna und ich, gerade das gefürchtet haben! Also hast du den Glauben an das Leben doch noch nicht verloren; Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Raskolnikow lächelte bitter.

»Diesen Glauben hatte ich freilich nicht; aber ich bin soeben bei unserer Mutter gewesen, und wir haben uns umarmt und zusammen geweint. Ich erhoffe vom Leben nichts mehr; aber doch habe ich sie gebeten, für mich zu beten. Gott weiß, wie das alles zusammenstimmt, Dunjetschka; ich begreife nichts davon.«

»Du bist bei der Mutter gewesen? Du hast es ihr gesagt?« rief Dunja erschrocken. »Hast du es wirklich übers Herz gebracht, es ihr zu sagen?«

»Nein, ich habe es ihr nicht gesagt, . . . nicht mit eindeutigen Worten; aber sie hat manches davon durchschaut. Sie hat in der Nacht gehört, wie du im Traum gesprochen hast. Ich bin überzeugt, daß sie bereits die Hälfte versteht. Ich habe vielleicht übel daran getan, daß ich zu ihr gegangen bin. Ich könnte eigentlich selbst nicht recht sagen, warum ich es getan habe. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja!«

»Du ein gemeiner Mensch und bist doch willens, hinzugehen und das Leid auf dich zu nehmen! Du willst doch hingehen?«

»Ja, ich will hingehen. Sogleich. Um dieser Schande zu entgehen, wollte ich mich schon ertränken, Dunja; aber als ich schon am Wasser stand, dachte ich: ›Hast du dich bis jetzt für stark gehalten, so darfst du dich jetzt auch nicht vor der Schande fürchten.‹ War das Stolz, Dunja?«

»Ja, das war Stolz, Rodja.«

Es war, als leuchtete ein Feuer in seinen matten Augen auf; er schien sich darüber zu freuen, daß er noch stolz sein konnte.

»Und du glaubst nicht, Schwester, daß ich einfach Angst vor dem Wasser hatte?« fragte er und blickte ihr mit einem entstellenden Lächeln ins Gesicht.

»Ach, Rodja, hör auf!« rief Dunja bitter.

Sie schwiegen etwa zwei Minuten lang. Er saß mit gesenktem Kopfe da und blickte auf den Fußboden; Dunja stand am anderen Ende des Tisches und betrachtete ihn mit tiefem Mitleide. Plötzlich stand er auf:

»Es ist schon spät, es wird Zeit! Ich gehe gleich hin und zeige mich an. Aber warum ich das tue, das weiß ich nicht.«

Große Tränen liefen über Dunjas Wangen.

»Du weinst, Schwester? Kannst du es über dich gewinnen, mir die Hand zu geben?«

»Hast du daran gezweifelt?«

Sie umarmte ihn innig.

»Machst du nicht dadurch, daß du hingehst und dich dem Leide darbietest, dein Verbrechen schon zur Hälfte wieder gut?« rief sie, indem sie ihn fest an sich drückte und küßte.

»Mein Verbrechen? Was für ein Verbrechen?« rief er auf einmal in einer Art von plötzlichem Wutanfall. »Daß ich eine garstige, gemeinschädliche Laus getötet habe, eine alte Wucherin, die niemandem etwas nütze war, für deren Ermordung einem eigentlich viele Sünden vergeben werden müßten, die armen Leuten das Lebensblut aussog, das soll ein Verbrechen sein? Ich halte es nicht dafür und habe gar nicht vor, es wiedergutzumachen. Warum schreit man mir denn von allen Seiten zu: ›Ein Verbrechen, ein Verbrechen!‹ Jetzt erst erkenne ich klar, wie grundtöricht mein Kleinmut war, jetzt, wo ich mich schon entschlossen habe, ganz unnötigerweise diese Schande auf mich zu nehmen! Lediglich weil ich ein minderwertiger, talentloser Mensch bin, habe ich mich dazu entschlossen, und vielleicht auch noch, weil ich dadurch auf einen Vorteil spekuliere, wie mir das dieser . . . Porfirij . . . nahegelegt hat! . . .«

»Bruder, Bruder! Was redest du da! Du hast doch Blut vergossen!« rief Dunja voller Verzweiflung.

»Blut vergießen sie alle«, fiel er ihr fast rasend ins Wort. »Blut wird in der Welt vergossen massenhaft wie ein Wasserfall und ist immer so vergossen worden; Blut wird vergossen wie Champagner, und für das Blutvergießen wird man auf dem Kapitol gekrönt und nachher ein Wohltäter der Menschheit genannt. Mach doch nur die Augen auf und sieh genauer hin! Ich selbst wollte den Menschen Gutes erweisen und hätte hundert, tausend gute Taten vollbracht zum Ausgleich für diese eine Dummheit, die nicht einmal eine Dummheit war, sondern lediglich eine Ungeschicklichkeit; denn der ganze Gedanke war gar nicht so dumm, wie er jetzt nach dem Mißlingen aussieht . . . (was mißlingt, sieht immer dumm aus!). Durch diese Dummheit wollte ich mir nur eine unabhängige Position schaffen, den ersten Schritt tun, die Mittel erlangen, und später wäre dann alles durch einen unverhältnismäßig viel größeren Nutzen aufgewogen worden . . . Aber meine Kraft hat nicht einmal für den ersten Schritt ausgereicht, weil ich eben nur so ein Lump bin. Das ist der Kernpunkt! Ich kann die Sache nicht von eurem Standpunkte aus ansehen; wäre es mir gelungen, so würde man mich bekränzen; aber jetzt muß ich in den Kerker!«

»Aber die Sache liegt doch anders, ganz anders! Bruder, was redest du da nur!«

»Aha, es war wohl nicht die richtige Form, keine ästhetisch schöne Form! Nun, ich kann schlechterdings nicht absehen, warum es eine anständigere Form sein soll, wenn man die Menschen mit Bomben oder mittelst einer regulären Belagerung ums Leben bringt. Die ängstliche Rücksicht auf die Ästhetik ist das erste Zeichen von Schwäche! . . . Niemals, niemals habe ich das klarer begriffen als jetzt, und weniger als je verstehe ich, worin denn mein Verbrechen bestehen soll! Niemals, niemals war ich fester in meiner Überzeugung als jetzt!«

Sein blasses, abgemagertes Gesicht hatte ordentlich Farbe gewonnen. Aber als er den letzten Satz sprach, begegnete sein Blick unversehens dem Blicke Dunjas, und er las darin so viel qualvolles Mitleid mit ihm, daß er unwillkürlich wieder zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er trotz seiner schönen Theorien diese beiden armen Frauen unglücklich gemacht hatte; er blieb immer doch die Ursache ihres Leides.

»Dunja, Liebe! Bin ich schuldig, so vergib mir (freilich, wenn ich wirklich schuldig bin, so kann ich eigentlich gar keine Vergebung finden). Leb wohl! Wir wollen nicht miteinander streiten! Es ist Zeit für mich, höchste Zeit. Folge mir nicht, ich bitte dich dringend; ich muß noch jemand aufsuchen . . . Geh jetzt und setze dich gleich zu unserer Mutter. Darum bitte ich dich inständig! Das ist meine letzte, größte Bitte an dich. Weiche diese ganze Zeit über nicht von ihr; ich habe sie in einer Unruhe verlassen, die sie kaum überstehen wird: sie wird entweder sterben oder den Verstand verlieren. Bleibe um sie. Rasumichin wird euch eine Stütze sein; ich habe ihn darum gebeten . . . Weine nicht um mich; ich werde mich bemühen, mannhaft und ehrenhaft zu sein mein ganzes Leben lang, obgleich ich ein Mörder bin. Vielleicht hörst du noch einmal meinen Namen. Ich werde euch keine Schande machen, das sollst du sehen; ich werde schon noch zeigen, daß ich . . . Jetzt vorläufig auf Wiedersehen!« schloß er hastig, da er bei seinen letzten Worten und Versprechungen wieder einen eigentümlichen Ausdruck in Dunjas Augen bemerkte. »Warum weinst du denn so? Weine nicht, weine nicht; wir trennen uns ja nicht für immer! . . . Ach ja, warte, das hatte ich vergessen!«

Er trat an den Tisch, ergriff ein dickes, verstaubtes Buch, schlug es auf und nahm ein kleines Porträt heraus, das zwischen den Blättern lag. Es war ein auf Elfenbein gemaltes Aquarell und stellte die Tochter seiner Wirtin dar, seine frühere Braut, die am Fieber gestorben war, eben jenes seltsame junge Mädchen, das in ein Kloster hatte gehen wollen.

Etwa eine Minute lang betrachtete er dieses ausdrucksvolle, kränkliche Gesichtchen; dann küßte er das Bild und reichte es Dunja hin.

»Mit diesem Mädchen habe ich viel auch über meine Ideen gesprochen, mit ihr allein«, sagte er, in Nachsinnen verloren. »Dieser treuen Seele habe ich viel von dem mitgeteilt, was später in so häßlicher Weise zur Wirklichkeit geworden ist. Beunruhige dich nicht«, wandte er sich an Dunja, »sie stimmte mir nicht bei, ebensowenig wie du, und ich freue mich, daß sie nicht mehr am Leben ist. Die Hauptsache ist, daß jetzt alles einen neuen Anfang nimmt, mein ganzes bisheriges Dasein zerbrochen und beseitigt wird«, rief er plötzlich, wieder in seine verzweifelte Stimmung zurücksinkend, »mein ganzes bisheriges Dasein! Aber bin ich auch dazu vorbereitet? Ist das auch mein eigener Wille? Es heißt, es sei notwendig zu meiner Prüfung! Aber wozu, wozu all diese sinnlosen Prüfungen? Wozu das? Werde ich denn nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit, niedergebeugt durch die Qualen und das stumpfsinnige Leben, ein vorzeitiger, kraftloser Greis, werde ich denn dann ein besseres Verständnis haben als jetzt? Und wozu soll ich dann noch leben? Warum willige ich denn jetzt ein, so zu leben? Oh, ich wußte, daß ich ein Lump bin, als ich heute im Morgengrauen an der Newa stand!«

Endlich gingen sie beide hinaus. So schwer es ihr der Bruder machte, Dunja liebte ihn dennoch! Sie ging weg; nachdem sie aber fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich noch einmal um, um ihm nachzusehen. Sie konnte ihn noch erblicken. Und als er an die Straßenecke gelangt war, wandte er sich gleichfalls um, und ihre Blicke trafen sich zum letzten Male. Sowie er jedoch bemerkte, daß sie nach ihm sah, winkte er ihr ungeduldig, ja ärgerlich mit der Hand, sie möchte weitergehen, und bog selbst rasch um die Ecke.

›Ich habe einen schlechten Charakter, das sehe ich wohl‹, dachte er eine Minute darauf, indem er sich seiner Handbewegung gegen Dunja schämte. ›Aber weshalb lieben mich denn meine Mutter und meine Schwester so, wenn ich es nicht verdiene? Ach, hätte ich doch allein dagestanden, und hätte niemand mich geliebt, und hätte ich selbst nie jemand geliebt! Dann wäre das alles nicht geschehen! Ich möchte wohl wissen, ob diese bevorstehenden fünfzehn oder zwanzig Jahre meine Seele so niederbeugen werden, daß ich dann demütig vor den Leuten winsele und mich selbst fortwährend einen Räuber nenne. Jedenfalls! Darum eben schicken sie mich ja jetzt nach Sibirien; gerade das bezwecken sie . . . Da rennen nun alle die Menschen auf den Straßen hin und her, und jeder von ihnen ist schon seiner ganzen Charakteranlage nach ein Schurke und Räuber, ja noch Schlimmeres: ein Idiot! Aber das Gericht sollte einmal versuchen, mir die Verschickung nach Sibirien zu ersparen – da würden sie alle aus der Haut fahren vor edler Entrüstung! Oh, wie ich sie alle hasse!‹

Er versank in Nachdenken über die Frage, durch welchen Entwicklungsprozeß es wohl dahin kommen könne, daß er sich schließlich vor allen diesen Menschen widerspruchslos demütige, sich aus Überzeugung demütige. ›Nun ja‹, sagte er sich, ›warum sollte es denn auch nicht dahin kommen? Gewiß, das muß ja so sein. Als ob zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes einen Menschen nicht gründlich mürbe machen könnten! Steter Tropfen höhlt den Stein. Aber wozu, wozu soll ich denn dann nach alledem noch weiterleben? Warum gehe ich jetzt hin, wenn ich doch selbst weiß, daß alles genau so kommen wird, wie es im Buche steht, und nicht anders!‹

Er legte sich diese Frage seit dem vorhergehenden Abend vielleicht schon zum hundertsten Male vor; aber er ging dennoch hin.


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