Fjodr Dostojewski
Schuld und Sühne
Fjodr Dostojewski

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IV

Sossimow war ein hochgewachsener Mensch, ziemlich fett, mit dickem, bläßlichem, glattrasiertem Gesichte und ganz hellblondem, glattem Haar; er trug eine Brille und an einem seiner dicken, fetten Finger einen großen goldenen Ring. Er mochte etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein. Bekleidet war er mit einem weiten, eleganten leichten Paletot und hellen Sommerbeinkleidern; überhaupt waren alle Bestandteile seines Anzuges weit, elegant und höchst adrett, die Wäsche tadellos, die Uhrkette schwer, massiv. Seine Bewegungen waren langsam und scheinbar müde, dabei aber von einer studierten Ungezwungenheit; ein gewisser Hochmut kam, obwohl er sich Mühe gab, ihn zu verbergen, doch fortwährend zum Vorschein. Alle, die ihn kannten, hielten ihn für einen etwas schwerfälligen Menschen, sagten ihm aber nach, daß er seine Sache verstände.

»Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder«, rief Rasumichin. »Sieh nur, er ist wieder zu sich gekommen!«

»Ich sehe, ich sehe. Nun, wie fühlen wir uns denn jetzt, he?« wandte sich Sossimow an Raskolnikow, indem er ihn prüfend anblickte und sich zu ihm auf das Sofa setzte, ans Fußende, wo er es sich sofort nach Möglichkeit bequem machte.

»Er ist immer so hypochondrisch«, fuhr Rasumichin fort. »Wir haben ihm eben die Wäsche gewechselt; da fing er beinahe an zu weinen.«

»Sehr begreiflich; mit der Wäsche hätte es ja auch noch Zeit gehabt, wenn er selbst es jetzt nicht mochte . . . Der Puls ist vorzüglich. Der Kopf tut wohl immer noch ein bißchen weh, nicht wahr?«

»Ich bin gesund, vollständig gesund!« entgegnete Raskolnikow in eigensinnigem, gereiztem Tone; er richtete sich plötzlich auf dem Sofa auf und blickte mit funkelnden Augen um sich, legte sich aber sogleich wieder auf das Kissen zurück und drehte sich nach der Wand zu.

Sossimow beobachtete ihn mit unverwandtem Blicke.

»Sehr gut, . . . alles, wie es sein muß«, sagte er lässig. »Hat er etwas gegessen?«

Rasumichin gab Auskunft und fragte, was ihm gegeben werden dürfte.

»Er kann alles bekommen, . . . Suppe, Tee, . . . Pilze und Gurken natürlich nicht, na, und Fleisch braucht er auch noch nicht, und . . . na ja, es ist ja weiter nichts zu sagen!« Er wechselte einen Blick mit Rasumichin. »Die Medizin weg, alles weg; ich sehe morgen wieder nach . . . Es wäre vielleicht auch heute . . . na ja . . .«

»Morgen abend führe ich ihn spazieren«, erklärte Rasumichin in bestimmtem Tone. »In den Jussupow-Garten, und dann gehen wir in den Kristallpalast.«

»Morgen würde ich noch Ruhe für ihn empfehlen; übrigens . . . ein bißchen Bewegung . . . nun, das wollen wir mal morgen sehen.«

»Jammerschade, heute veranstalte ich gerade eine kleine Festlichkeit aus Anlaß meines Umzuges; es ist bloß ein paar Schritte von hier; da müßte er eigentlich auch mit dabei sein. Er könnte ja auf dem Sofa liegen, und wir würden uns dann um ihn herumsetzen. Aber du, du wirst doch kommen?« wandte sich Rasumichin an Sossimow. »Vergiß es nicht; du hast es mir versprochen.«

»Vielleicht komme ich, aber wohl etwas später. Was gibt es denn bei dir?«

»Es ist alles ganz einfach: Tee, Schnaps, Hering. Pirog gibt es auch. Es kommen nur gute Bekannte.«

»Wer denn?«

»Lauter Leute hier aus der Gegend und fast sämtlich neue Bekannte – ausgenommen etwa den alten Onkel, und ein neuer Bekannter ist der eigentlich auch: er ist erst gestern hier in Petersburg angekommen; er hat hier geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen. Wir sehen einander nur so alle Jahre einmal.«

»Was ist er?«

»Er hat sein ganzes Leben lang als Postmeister in einer Kreisstadt vegetiert, . . . jetzt bezieht er eine kleine Pension, er ist fünfundsechzig Jahre alt. Viel zu sagen ist nicht von ihm; aber ich habe ihn ganz gern. Auch Porfirij Petrowitsch kommt, der Untersuchungskommissar, ein Jurist. Aber du kennst ihn ja . . .«

»Ist der nicht auch irgendwie mit dir verwandt?«

»Nur ganz weitläufig. Aber warum machst du denn so ein böses Gesicht? Du wirst doch nicht deshalb wegbleiben wollen, weil ihr euch einmal miteinander gezankt habt?«

»Der ist für mich Luft.«

»Sehr vernünftig gedacht. Na, dann sind noch ein paar Studenten da, ein Lehrer, ein Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Sametow . . .«

»Sag mir nur um alles in der Welt, was kannst du oder der hier« (Sossimow wies durch eine Kopfbewegung auf Raskolnikow) »mit einem Menschen wie Sametow für Berührungspunkte haben?«

»Nein, diese wählerischen, mäkligen Menschen! Ihr Prinzipienreiter! . . . Du läßt dich ganz und gar durch deine Prinzipien wie durch innere Sprungfedern in Bewegung setzen und wagst gar nichts nach eigenem Willen zu tun. Meine Meinung ist: wenn einer ein guter Mensch ist, so genügt das; weiter brauche ich dann gar nichts über ihn zu wissen. Das ist mein Prinzip. Sametow ist ein ganz prächtiger Mensch.«

»Und macht hohle Hände.«

»Na, und wenn schon, was zum Teufel schert mich das? Meinetwegen mag er hohle Hände machen!« rief Rasumichin, der in eine ihm sonst fremde Aufregung hineingeriet. »Habe ich etwa das an ihm gelobt, daß er hohle Hände macht? Ich habe nur gesagt, daß er in seiner Art gut ist. Und wenn man eine so überscharfe Kritik übt, wie viele Menschen können dann überhaupt als gut bezeichnet werden? Ich bin fest überzeugt, daß unter solchen Umständen ein Käufer für meine eigene Person, einschließlich des gesamten Eingeweides, höchstens eine gebackene Zwiebel geben würde, und auch das nur, wenn er dich dabei noch als Zugabe bekommt! . . .«

»Das ist denn doch zu wenig; ich gebe für dich allein zwei.«

»Und ich für dich nur eine. Du mit deinen Witzen! Sametow ist noch ein junges Bürschchen, und ich treibe noch so mein Späßchen mit ihm; denn man muß ihn freundlich heranziehen und nicht etwa zurückstoßen. Durch Zurückstoßen bessert man einen Menschen nicht, und am allerwenigsten einen jungen Burschen. Bei einem jungen Burschen ist doppelte Vorsicht vonnöten. Ach, ihr Narren mit euren fortschrittlichen Ideen, rein gar nichts versteht ihr! Andre Menschen achtet ihr nicht, euch selbst vergöttert ihr! . . . Aber wenn du es wissen willst: es verbindet uns sogar ein bestimmtes gemeinsames Interesse.«

»Da bin ich neugierig.«

»Ja, es handelt sich um den Maler, d. h. den Anstreicher . . . Wir werden ihn schon losbekommen! Übrigens ist jetzt eigentlich für ihn keine Gefahr mehr; die Sache ist jetzt klar, völlig klar. Wir wollen nur noch ein bißchen Dampf dahinter machen.«

»Was ist das für ein Anstreicher?«

»Habe ich dir denn die Geschichte nicht schon erzählt? Ja, ja, jetzt weiß ich, ich habe dir nur den Anfang erzählt . . . von der Ermordung der alten Pfandleiherin, der Beamtenwitwe, . . . na, in diese Geschichte ist jetzt ein Anstreicher verwickelt worden . . .«

»Von dem Morde hatte ich schon früher gehört als du, und die Sache interessiert mich sogar . . . einigermaßen . . . aus einem bestimmten Grunde . . . Ich habe auch in den Zeitungen davon gelesen. Aber nun . . .«

»Lisaweta ist auch ermordet!« platzte auf einmal Nastasja, zu Raskolnikow gewendet, heraus.

Sie war die ganze Zeit über im Zimmer geblieben und hatte, an die Tür gelehnt, zugehört.

»Lisaweta?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar.

»Jawohl, Lisaweta, die Altwarenhändlerin; kennst du sie nicht? Sie kam manchmal zu uns herunter. Sie hat dir auch einmal ein Hemd ausgebessert.«

Raskolnikow drehte sich nach der Wand, wo er auf der schmutzigen gelben Tapete mit weißen Blümchen sich ein plump gezeichnetes weißes Blümchen mit braunen Strichelchen aussuchte und genau betrachtete: wieviel Blättchen daran seien, was für kleine Zacken an den Blättchen und wieviel Strichelchen. Er fühlte, daß ihm die Hände und Füße taub wurden, als ob sie gelähmt wären; aber er machte nicht einmal einen Versuch, sie zu bewegen, und starrte unverwandt auf das Blümchen.

»Nun also, wie ist das mit dem Anstreicher?« unterbrach Sossimow sehr mißvergnügt Nastasjas Geschwätz.

Diese seufzte und schwieg.

»Der ist nun auch als Mörder verdächtigt worden!« fuhr Rasumichin eifrig fort.

»Was sind denn für Beweise da?«

»Absolut gar keine! Allerdings ist er gerade auf Grund eines Beweismoments festgenommen worden; aber es ist eben kein Beweis, und das ist's, was wir nachweisen müssen. Es ist genau dieselbe Geschichte wie gleich zuerst nach dem Morde, wo sie die beiden Leute, wie heißen sie doch gleich . . ., Koch und Pestrjakow, als verdächtig festnahmen. Pfui! Wie dumm die Polizei hier immerzu verfährt; selbst wenn man die Sache nur von fern betrachtet, ekelt es einen. Pestrjakow kommt vielleicht heute zu mir . . . Übrigens, du weißt ja wohl von diesem Ereignisse schon, Rodja; es passierte noch vor deiner Krankheit, gerade am Abend vor dem Tage, wo du auf dem Polizeibureau in Ohnmacht fielst, als dort davon gesprochen wurde . . .«

Sossimow blickte Raskolnikow neugierig an; dieser rührte sich nicht.

»Weißt du was, Rasumichin? Ich bin ganz erstaunt über dich, was du für ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen bist!« bemerkte Sossimow.

»Kann sein; aber losbekommen werden wir ihn doch!« rief Rasumichin und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Weißt du, was mich dabei am meisten ärgert? Nicht, daß diese Herren von der Polizei sich irren; einen Irrtum kann man immer verzeihen; ein Irrtum ist sogar etwas ganz Gutes, weil er zur Wahrheit führt. Nein, das Ärgerliche ist, daß sie sich irren und von ihrem eigenen Irrtum entzückt sind. Ich schätze Porfirij sehr, aber . . . Was hat sie zum Beispiel gleich anfangs irregemacht? Die Tür war versperrt, und als die beiden mit dem Hausknecht hinaufkamen, war sie offen: folglich haben Koch und Pestrjakow den Mord begangen! Das ist nun ihre Logik!«

»Werde doch nicht so hitzig! Es ist den beiden doch nichts weiter passiert, als daß sie verhaftet wurden, und das war doch ein Ding der Notwendigkeit . . . Übrigens habe ich diesen Herrn Koch schon einmal getroffen; er pflegte, wie sich herausgestellt hat, der Alten verfallene Pfandstücke abzukaufen. Nicht wahr?«

»Ja, er ist ein Gauner! Kauft auch Wechsel auf. Ein unsauberes Gewerbe. Hol ihn der Kuckuck! Verstehst du aber wohl, worüber ich so wütend bin? Über ihre veraltete, abgeschmackte, verdrehte Methode bin ich wütend . . . Und gerade in dieser Sache läßt sich ein ganz neuer Weg finden. Einzig und allein aus den psychologischen Anhaltspunkten läßt sich zeigen, wie man auf die richtige Spur kommen muß. ›Wir haben Fakta‹, sagen sie. Aber Fakta allein tun's nicht; man muß doch auch mit den Fakten umzugehen wissen!«

»Und du verstehst dich darauf?«

»Man kann doch aber nicht schweigen, wo man fühlt und weiß, daß man in der Sache etwas nützen könnte, wenn . . . Donnerwetter noch mal! . . . Kennst du die Geschichte in ihren Einzelheiten?«

»Ich warte immer noch darauf, etwas über den Anstreicher zu hören.«

»Ach so! Na, dann hör mal zu. Gerade zwei Tage nach dem Morde, vormittags, als sie sich auf der Polizei noch mit Koch und Pestrjakow abmühten – obwohl diese sich über jeden ihrer Schritte ausgewiesen hatten; ein absolut zwingender Unschuldsbeweis! –, da kommt plötzlich ein ganz unerwartetes Faktum zum Vorschein. Ein gewisser Duschkin, ein früherer Bauer, der jetzt dem betreffenden Hause gerade gegenüber eine Kneipe hat, erscheint auf dem Polizeibureau und bringt ein Etui mit einem goldenen Ohrgehänge und erzählt eine lange Geschichte. ›Vorgestern abend, bald nach acht‹ – Tag und Stunde! merkst du was? – ›kam zu mir ein Malergeselle, der auch schon früher manchmal am Tage bei mir gewesen war, er heißt Mikolai, und brachte mir dieses Kästchen mit goldenen Ohrringen, es sind auch Steinchen daran, und wollte es bei mir für zwei Rubel versetzen; und auf meine Frage, wo er es herhabe, gab er an, er habe es auf dem Trottoir gefunden. Weiter habe ich ihn darüber nicht befragt‹, sagte Duschkin, ›sondern ihm ein Scheinchen‹, d. h. einen Rubel, ›dafür gegeben; denn ich dachte, wenn ich es ablehne, versetzt er es bei einem andern; vertrinken tut er es doch; da kann das Ding lieber bei mir liegen: gute Hut erhält das Gut. Und sollte sich irgend etwas herausstellen oder etwas Bedenkliches verlauten, so liefere ich es bei der Polizei ab.‹ Na, das mit der guten Absicht war natürlich unverschämt gelogen, denn ich kenne diesen Duschkin; er ist ein Wucherer und Hehler und hat dem Mikolai ein Schmuckstück, das dreißig Rubel wert ist, nicht deshalb abgegaunert, um es ›abzuliefern‹. Er hat es nachher einfach mit der Angst bekommen. Na also, hör zu; dieser Duschkin erzählte nun weiter. ›Diesen Mikolai Dementjew kenne ich von klein auf; er ist auch vom Lande, aus demselben Gouvernement und Kreise wie ich, nämlich aus dem Kreise Saraisk, Gouvernement Rjasan. Mikolai ist zwar kein Säufer, trinkt aber doch gern einmal, und ich wußte, daß er gerade in jenem Hause arbeitete, nämlich die Wände anstrich, zusammen mit Mitrej; und Mitrej ist auch aus demselben Orte. Als er von mir das Scheinchen erhalten hatte, ließ er es sofort wechseln, trank gleich hintereinander zwei Gläschen, steckte das übrige Geld ein und ging weg. Mitrej habe ich damals nicht mit ihm zusammen gesehen. Am andern Tage hörte ich, daß Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna mit einem Beile totgeschlagen worden seien; ich habe sie beide gekannt; und da schöpfte ich Verdacht wegen der Ohrringe; denn es war mir bekannt, daß die Verstorbene Geld auf Pfänder ausgeliehen hatte. Ich ging also in das Haus hinüber und fing an, mich ganz sachte und vorsichtig zu erkundigen, und zu allererst fragte ich, ob Mikolai da sei. Da erzählte mir Mitrej, Mikolai habe die Nacht über gebummelt, sei erst bei Tagesanbruch nach Hause gekommen, ganz betrunken, habe sich dort nur etwa zehn Minuten aufgehalten und sei dann wieder weggegangen; er, Mitrej, habe ihn seitdem nicht mehr gesehen und bringe nun die Arbeit allein zu Ende. Die Wohnung aber, in der sie zu arbeiten hatten, lag im ersten Stockwerk, an derselben Treppe wie die der beiden ermordeten Frauen. Als ich das hörte, habe ich damals niemandem etwas von der Geschichte mit Mikolai gesagt‹, erzählte Duschkin, ›sondern ich versuchte, Einzelheiten über den Mord zu erfahren, und kehrte mit demselben Verdachte nach Hause zurück. Heute morgen nun um acht Uhr‹ – das heißt also zwei Tage nach dem Morde, verstehst du wohl? – ›da kommt auf einmal Mikolai zu mir herein, nicht ganz nüchtern, aber auch nicht übermäßig betrunken; man konnte ganz wohl mit ihm reden. Er setzte sich auf eine Bank und schwieg. Außer ihm war im Lokal in dem Augenblicke nur noch ein fremder Gast anwesend, und dann schlief noch ein andrer, ein mir bekannter Kunde, auf einer Bank, und auch die beiden Kellnerjungen waren da. Ich fragte ihn nun: ›Hast du Mitrej nicht gesehen?‹ »Nein«, meinte er, »ich habe ihn nicht gesehen.« – »Bist du denn gar nicht hier bei eurer Arbeit gewesen?« – »Nein«, meinte er, »seit vorgestern bin ich nicht mehr hier gewesen.« – »Wo hast du denn diese Nacht geschlafen?« – »Auf den Peski, bei Leuten aus unsrer Gegend.« – »Und wo hattest du neulich die Ohrringe her?« fragte ich. – »Die hatte ich auf dem Trottoir gefunden«, – und das sagte er in recht unpassendem Tone und ohne mich anzusehen. – »Hast du gehört«, sagte ich, »daß an demselben Abend und in derselben Stunde an derselben Treppe ein Mord begangen worden ist?« – »Nein«, antwortete er, »ich habe nichts gehört« – und nun hörte er mit weit aufgerissenen Augen zu und wurde auf einmal kreideweiß. Ich erzählte ihm die Geschichte und sah, daß er plötzlich nach seiner Mütze griff und aufstand. Ich wollte ihn festhalten und sagte: »Warte doch, Mikolai, willst du denn nicht ein Gläschen trinken?« Und dabei gab ich einem der Kellnerjungen einen Wink, daß er die Tür zuhalten möchte, und kam hinter dem Schenktische vor. Der aber stürmte aus dem Lokal hinaus auf die Straße und im Galopp davon und in eine Seitenstraße hinein – weg war er. Da war nun mein Verdacht bestätigt; der hat den Mord auf seinem Gewissen, ganz entschieden.‹«

»Na gewiß! . . .« meinte Sossimow.

»Warte, hör mal erst die Geschichte zu Ende! Natürlich wurde alles aufgeboten, um Mikolai ausfindig zu machen; Duschkin wurde festgenommen und Haussuchung bei ihm gehalten; ebenso verfuhr man mit Dmitrij; auch Mikolais Landsleute, bei denen er die Nacht gewesen war, wurden verhört – und vorgestern gelang es, Mikolai selbst zur Stelle zu schaffen. Er war in der Nähe des . . . schen Schlagbaums in einer Herberge festgenommen worden. Er war dort hingekommen, hatte sein silbernes Taufkreuz vom Halse genommen und für das Kreuz ein Mäßchen Schnaps verlangt. Das war ihm verabfolgt worden. Ein paar Minuten darauf ging die Wirtin in den Kuhstall und sah durch eine Ritze, daß er in der daneben liegenden Scheune seinen Gurt an einen Balken gebunden und eine Schlinge gemacht hatte und gerade auf einen Klotz stieg und sich die Schlinge um den Hals legen wollte. Die Frau erhob ein gewaltiges Geschrei, und alles lief zusammen: ›Na, du scheinst ja ein netter Kunde zu sein!‹ hieß es. – ›Bringt mich nach dem und dem Polizeirevier‹, sagte er, ›ich will alles bekennen.‹ Nun, man transportierte ihn mit allen ihm zustehenden Ehrenbezeugungen nach dem betreffenden Polizeirevier, d. h. hierher. Da ging's nun los: ›Wie heißt du? Was bist du? Wie alt bist du?‹ – ›Zweiundzwanzig Jahre‹, usw. usw. Frage: ›Als ihr, du und Mitrej, arbeitetet, habt ihr da nicht jemand in der und der Stunde auf der Treppe gesehen?‹ Antwort: ›Es werden schon Leute vorbeigegangen sein; aber wir haben nicht darauf geachtet.‹ – ›Habt ihr nichts gehört, Lärm oder dergleichen?‹ – ›Wir haben nichts Auffälliges gehört.‹ – ›Hast du schon gleich an jenem Tage erfahren, Mikolai, daß die Witwe Soundso mit ihrer Schwester an diesem Tage zu der und der Stunde ermordet und beraubt worden war?‹ – ›Ich habe gar nichts, rein gar nichts davon gewußt; zum ersten Male habe ich davon zwei Tage darauf von Afanassij Pawlowitsch Duschkin in der Schenke gehört.‹ – ›Und wo hast du das Ohrgehänge herbekommen?‹ – ›Das habe ich auf dem Trottoir gefunden.‹ – ›Warum bist du am andern Tage nicht mit Mitrej zur Arbeit gekommen?‹ – ›Ich hatte mich herumgetrieben und getrunken.‹ – ›Wo ist das gewesen?‹ – ›Da und da.‹ – ›Warum bist du vor Duschkin davongelaufen?‹ – ›Weil ich solche Angst hatte.‹ – ›Wovor hattest du denn Angst?‹ – ›Daß sie mich verurteilen werden.‹ – ›Wie konntest du denn davor Angst haben, wenn du dich ganz unschuldig fühlst?‹ Ob du's mir nun glaubst oder nicht, Sossimow, diese Frage ist tatsächlich gestellt worden, und zwar buchstäblich mit diesen Worten; ich weiß es bestimmt; es ist mir zuverlässig mitgeteilt worden. Was sagst du dazu? Nun?«

»Na, allerdings . . . Aber es liegen doch Beweismomente vor.«

»Ich rede jetzt nicht von den Beweisen, sondern von dieser Fragestellung, von der Art, in der sie ihre Aufgabe auffassen! Na, lassen wir's; weiter! Sie haben ihn also so lange gequetscht und geknetet, bis er endlich gestand: ›Ich habe es nicht auf dem Trottoir gefunden, sondern in der Wohnung, wo ich mit Mitrej arbeitete.‹ – ›Wie ist das zugegangen?‹ – ›Das war so: Mitrej und ich hatten den ganzen Tag bis acht Uhr gearbeitet und wollten eben weggehen, und da nahm Mitrej einen Pinsel und schmierte mir Farbe ins Gesicht, ja, ganz voll Farbe schmierte er mir das Gesicht und lief davon und ich hinter ihm her. Und ich lief ihm nach und schrie, was ich konnte. Und als ich von der Treppe in den Torweg einbog, rannte ich in vollem Lauf gegen den Hausknecht und einige Herren an; aber wieviel Herren da bei ihm waren, erinnere ich mich nicht; und der Hausknecht schimpfte auf mich deswegen, und ein andrer Hausknecht schimpfte auch, und die Frau des Hausknechts kam heraus und schimpfte auch auf uns, und ein Herr kam mit einer Dame in den Torweg und schimpfte auch auf uns, weil Mitrej und ich mitten im Wege lagen: ich hatte Mitrej an den Haaren gefaßt und hingeschmissen und keilte ihn, und Mitrej, der unten lag, hatte mich auch an den Haaren gefaßt und keilte mich auch, und wir taten es nicht im Ernst, sondern in aller Freundschaft, aus Spaß. Und dann machte sich Mitrej los und lief auf die Straße und ich hinter ihm her; aber ich kriegte ihn nicht und ging allein in die Wohnung zurück; denn es mußte doch noch aufgeräumt werden. Ich suchte alles zusammen und wartete auf Mitrej, ob er wohl kommen würde. Und bei der Tür nach dem Flur, an der Wand, in der Ecke, da trat ich auf etwas. Ich sah hin, da lag ein Kästchen, in Papier gewickelt. Ich wickelte das Papier auf, da sah ich an dem Kästchen so ganz kleine Häkchen; ich machte die Häkchen auf, und da waren in dem Kästchen Ohrringe drin . . .‹«

»Hinter der Tür? Hinter der Tür lag es? Hinter der Tür?« rief plötzlich Raskolnikow, sah Rasumichin mit verstörten, angstvollen Augen an und richtete sich langsam, auf den Arm gestützt, auf dem Sofa auf.

»Ja . . . Aber was hast du denn? Was ist mit dir? Was erregt dich denn so?«

Rasumichin richtete sich gleichfalls auf.

»Nichts! . . .« antwortete Raskolnikow mit kaum vernehmbarer Stimme, ließ sich wieder auf das Kissen zurücksinken und drehte sich wieder nach der Wand zu. Alle schwiegen ein Weilchen.

»Er war wohl ein bißchen eingeschlummert und nun noch halb im Schlafe«, sagte Rasumichin endlich mit einem fragenden Blick auf Sossimow.

Dieser machte eine leise, verneinende Bewegung mit dem Kopfe.

»Na, fahr nur fort«, sagte Sossimow. »Was kam dann weiter?«

»Ja, was dann weiter kam! Sowie Nikolai die Ohrringe erblickt hatte, hatte er keine Gedanken mehr für die Wohnung und für Dmitrij, sondern nahm seine Mütze und lief zu Duschkin, erhielt von ihm, wie bereits bekannt war, einen Rubel, log ihm vor, er habe das Kästchen auf dem Trottoir gefunden, und verjubelte das Geld sofort. Aber was den Mord anlangt, so blieb er bei seiner früheren Aussage: ›Ich habe gar nichts davon gewußt, rein gar nichts; erst zwei Tage darauf habe ich davon gehört.‹ – ›Und warum bist du seitdem verschwunden gewesen?‹ – ›Aus Furcht.‹ – ›Und warum wolltest du dich aufhängen?‹ – ›Vor Angst.‹ – ›Wovor denn?‹ – ›Daß man mich verurteilen würde.‹ – Na, da hast du die ganze Geschichte. Was meinst du nun wohl, was sie daraus gefolgert haben?«

»Was ist da zu meinen? Es ist eine Spur, wenn auch nur eine unsichere. Ein Faktum. Du verlangst doch nicht, daß sie deinen Anstreicher in Freiheit setzen sollen?«

»Sie betrachten ihn jetzt geradezu als den Mörder! Sie haben keinerlei Zweifel mehr.«

»Unsinn, du ereiferst dich zu sehr. Nun, aber wie steht's mit den Ohrringen? Du mußt doch selbst zugeben, daß, wenn Ohrringe aus der Truhe des alten Weibes an dem Tage des Mordes und in der Stunde des Mordes in Nikolais Hände gelangen – du mußt doch selbst zugeben, daß er sie dann irgendwie bekommen haben muß. Das hat doch bei einer solchen Untersuchung immer schon eine gewisse Wichtigkeit.«

»Wie er sie bekommen hat! Wie er sie bekommen hat!« rief Rasumichin. »Kannst denn du als Arzt, der du vor allen Dingen die menschliche Natur studieren sollst und dazu mehr Gelegenheit hast als jeder andre – kannst du denn nicht an all diesen Einzelheiten sehen, wes Geistes Kind dieser Nikolai ist? Siehst du denn nicht auf den ersten Blick, daß alles, was er bei den Verhören ausgesagt hat, die heilige Wahrheit ist? Die Ohrringe hat er genauso bekommen, wie er gesagt hat. Er ist auf das Kästchen getreten und hat es aufgehoben!«

»Die heilige Wahrheit! Und dabei hat er selbst eingestanden, daß er das erstemal gelogen hat!«

»Höre mich an, höre aufmerksam zu: der Hausknecht und Koch und Pestrjakow und der andre Hausknecht und die Frau des ersten Hausknechts und eine Bürgerfrau, die gerade damals bei ihr in der Stube des Hausknechts saß, und der Hofrat Krjukow, der gerade in dem Augenblick aus einer Droschke gestiegen war und mit einer Dame am Arm in den Torweg trat – diese alle, also acht bis zehn Zeugen, sagen einstimmig aus, daß Nikolai den Dmitrij auf die Erde geworfen hatte, auf ihm lag und ihn prügelte und daß Dmitrij ihn seinerseits an den Haaren gepackt hatte und ihn auch prügelte. Sie liegen mitten im Wege und versperren die Passage; sie werden von allen Seiten ausgeschimpft und liegen da ›wie die kleinen Kinder‹ (dies buchstäblich der von den Zeugen gebrauchte Ausdruck), liegen einer auf dem andern, kreischen und lachen, lachen beide um die Wette, schneiden dabei die komischsten Gesichter und laufen – der eine hinter dem andern her, um ihn zu greifen – wie Kinder auf die Straße hinaus. Hörst du wohl? Und nun bitte ich zu beachten: oben liegen die noch warmen Körper, hörst du, noch warm; denn so hat man sie gefunden! Wenn die beiden, oder auch nur Nikolai allein, den Mord begangen und dazu noch die Truhe aufgebrochen und ausgeraubt hatten oder auch nur irgendwie an dem Raube beteiligt gewesen waren, so erlaube, daß ich dir nur eine einzige Frage vorlege: läßt sich eine solche Seelenstimmung, also das Kreischen, das Lachen, die kindliche Prügelei im Torweg, vereinigen mit Beilen, Blut, verbrecherischer Schlauheit, Vorsicht, Raub? Soeben haben sie einen Mord begangen, vor nur etwa fünf bis zehn Minuten – denn so kommt es heraus, da die Körper noch warm waren –, und auf einmal denken sie gar nicht weiter an die Leichen und die offene Wohnung, obwohl sie wissen, daß in dem Augenblicke Leute dorthin unterwegs sind, denken auch nicht weiter an die Beute, sondern wälzen sich wie kleine Kinder auf der Erde, lachen und ziehen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich! Und dafür sind zehn übereinstimmende Zeugen vorhanden!«

»Gewiß ist das sonderbar! Selbstverständlich kann es so nicht gewesen sein; aber . . .«

»Nein, Bruder, nicht ›aber‹; sondern wenn der Umstand, daß das Ohrgehänge an demselben Tage und in derselben Stunde sich in Nikolais Händen befand, wirklich einen wichtigen Belastungsgrund gegen ihn bildet (dieser Umstand ist jedoch durch seine Aussagen ohne weiteres aufgeklärt worden, so daß der Belastungsgrund noch strittig ist), so muß man doch auch die entlastenden Momente in Erwägung ziehen, und um so mehr, da diese unbestreitbar sind. Aber was meinst du? Werden nach dem ganzen Charakter unsrer Justiz die Behörden ein solches Moment, das sich einzig und allein auf die psychologische Unmöglichkeit, lediglich auf die Seelenstimmung gründet, als ein unbestreitbares Moment gelten lassen, als ein Moment, das alle belastenden sachlichen Momente, wie sie auch immer beschaffen sein mögen, umstößt? Und sind die Behörden einer solchen Anschauung überhaupt fähig? Nein, sie werden es nicht so auffassen, unter keinen Umständen; sie werden sich darauf versteifen, daß das Kästchen bei diesem Menschen gefunden worden ist und er sich hat aufhängen wollen, ›worauf er nicht hätte verfallen können, wenn er sich nicht schuldig gefühlt hätte!‹ Das ist die Hauptfrage, und das ist der Grund, weswegen ich mich ereifere! Ist es dir nun klar?«

»Ja, das sehe ich, daß du dich ereiferst. Warte mal, ich habe noch vergessen zu fragen: wodurch ist denn bewiesen, daß das Kästchen mit dem Ohrgehänge wirklich aus der Truhe der Alten stammt?«

»Das ist bewiesen«, antwortete Rasumichin stirnrunzelnd und, wie es schien, verdrossen. »Koch hat das Wertstück wiedererkannt und den Verpfänder genannt, und dieser hat einwandfrei nachgewiesen, daß der Gegenstand ihm gehört.«

»Schlimm! Nun noch eins: hat irgend jemand diesen Nikolai während der Zeit gesehen, wo Koch und Pestrjafkow das erstemal hinaufgingen, und läßt sich nicht irgendwie sein Alibi beweisen?«

»Das ist es ja eben, daß ihn niemand gesehen hat«, erwiderte Rasumichin ärgerlich. »Das ist ja das Üble; selbst Koch und Pestrjakow haben, als sie die Treppe hinaufgingen, von den beiden Malern nichts bemerkt; übrigens würde ihr Zeugnis jetzt auch nicht viel zu bedeuten haben. ›Wir haben gesehen‹, sagen sie, ›daß die Wohnung offenstand und also wohl darin gearbeitet wurde; aber wir haben im Vorbeigehen nicht beachtet und können uns nicht erinnern, ob gerade in dem Augenblicke Arbeiter darin waren oder nicht.‹«

»Hm! . . . Der ganze Entlastungsbeweis besteht also darin, daß sie einander geprügelt und gelacht haben. Das ist ja allerdings ein starker Beweis; aber . . . Nun erlaube mal: wie erklärst du selbst denn den ganzen Hergang? Wie erklärst du den Fund der Ohrringe, wenn er sie wirklich da gefunden hat, wo er sie gefunden zu haben angibt?«

»Wie ich das erkläre? Ja, was ist denn da erst noch zu erklären? Die Sache ist ja völlig klar! Wenigstens ist der Weg, den man bei dieser Untersuchung einzuschlagen hat, deutlich gewiesen, und gerade das Kästchen hat ihn gezeigt. Das Ohrgehänge hat der wirkliche Mörder verloren. Der Mörder befand sich oben in der Wohnung, als Koch und Pestrjakow klopften, und hatte von innen zugesperrt. Koch beging die Dummheit, nach unten zu gehen; da sprang der Mörder heraus und lief gleichfalls hinunter; denn einen andern Ausweg hatte er nicht. Auf der Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakow und dem Hausknecht in der leeren Wohnung, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Nikolai aus ihr hinausgelaufen waren; er stand hinter der Tür, als der Hausknecht und die beiden andern daran vorbei nach oben gingen, wartete, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, und ging dann ganz ruhig hinunter, genau in dem Augenblick, wo Dmitrij und Nikolai auf die Straße hinausgelaufen, alle auseinandergegangen waren und sich niemand mehr im Torwege befand. Vielleicht hat ihn auch jemand gesehen, ohne ihn zu beachten; wer achtet bei solchem Verkehr auf einen einzelnen Passanten? Das Kästchen aber hat er aus der Tasche verloren, als er hinter der Tür stand, und er hat nicht gemerkt, daß er es verlor, weil er den Kopf voll andrer Gedanken hatte. Das Kästchen aber beweist klar, daß er gerade dort gestanden hat. So hängt die ganze Geschichte zusammen!«

»Schlau zurechtgelegt! Wirklich schlau, Bruder! Eigentlich überschlau!«

»Wieso denn? Wieso denn?«

»Nun, weil alles gar zu gut klappte . . . und ineinandergriff . . . ganz wie auf dem Theater.«

»Ach . . .«, begann Rasumichin unwillig; aber in diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und es trat eine neue, keinem der Anwesenden bekannte Person ein.


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