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Raskolnikow ging hinter ihm her.
»Was soll denn das bedeuten?« rief Swidrigailow, sich umwendend. »Ich habe Ihnen doch wohl gesagt . . .«
»Das bedeutet, daß ich jetzt bei Ihnen bleiben werde.«
»Wa-as?«
Beide blieben stehen und blickten einander etwa eine Minute lang an, als ob einer den andern messen wollte.
»Aus allem, was Sie in Ihrer halben Betrunkenheit gesagt haben«, begann Raskolnikow schroff, »schließe ich mit Bestimmtheit, daß Sie Ihre nichtswürdigen Anschläge gegen meine Schwester nicht nur nicht aufgegeben haben, sondern sich sogar mehr denn je damit beschäftigen. Ich weiß, daß meine Schwester heute früh einen Brief erhalten hat. Auch Ihr unruhiges Wesen jetzt während unseres ganzen Zusammenseins ist mir verdächtig. Sehr möglich allerdings, daß es sich bei Ihnen um irgendeine andere Frauensperson handelt, die Sie irgendwo en passant gefunden haben; aber diese Möglichkeit ist für mich belanglos. Ich wünsche mir persönlich Gewißheit zu verschaffen . . .«
Raskolnikow wäre wohl selbst kaum imstande gewesen, genauer anzugeben, was er eigentlich vorhatte und wovon er sich persönlich Gewißheit zu verschaffen wünschte.
»Nun sehen Sie mal! Wenn Sie es wünschen, werde ich gleich die Polizei rufen.«
»Tun Sie das!«
Wieder standen sie einander eine Minute lang gegenüber. Schließlich veränderte Swidrigailows Gesicht seinen Ausdruck. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß Raskolnikow sich vor dieser Drohung nicht fürchtete, nahm er auf einmal eine sehr heitere, freundschaftliche Miene an.
»Was sind Sie für ein eigentümlicher Mensch! Ich habe absichtlich mit Ihnen noch nicht über Ihre eigene Angelegenheit gesprochen, obwohl mich natürlich die Neugier plagt. Das ist ja eine ganz romanhafte Geschichte. Ich wollte es eigentlich auf eine andere Gelegenheit verschieben; aber Sie bekommen es ja wahrhaftig fertig, sogar einen Toten in Harnisch zu bringen . . . Na, dann kommen Sie mit; aber ich sage Ihnen im voraus: ich gehe jetzt nur für einen Augenblick zu mir nach Hause, um mir Geld einzustecken; dann schließe ich die Wohnung zu, nehme mir eine Droschke und fahre für den ganzen Abend nach den ›Inseln‹. Also, was haben Sie davon, mich zu begleiten?«
»Zunächst will ich nach Ihrer Wohnung mitgehen, aber nicht zu Ihnen, sondern zu Sofja Semjonowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht an der Beerdigung ihrer Stiefmutter teilgenommen habe.«
»Ganz, wie es Ihnen beliebt; aber Sofja Semjonowna ist nicht zu Hause. Sie ist mit den drei Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer vornehmen alten Dame, mit der ich noch von früher her bekannt bin und die zum Patronat mehrerer Waisenhäuser gehört. Ich habe diese Dame ganz bezaubert, indem ich ihr für die drei Kleinen der verstorbenen Katerina Iwanowna eine Summe Geldes brachte; außerdem habe ich auch noch den Waisenanstalten eine Zuwendung gemacht. Schließlich habe ich ihr noch Sofja Semjonownas Geschichte erzählt, mit allen Details, ohne etwas zu verschleiern. Das machte auf sie ganz gewaltigen Eindruck. Darum ist nun auch Sofja Semjonowna heute nach dem . . . schen Hotel hinbestellt worden, wo meine Bekannte nach der Heimkehr von der Sommerfrische in die Stadt einstweilen wohnt.«
»Schadet nichts; ich komme doch mit.«
»Wie es Ihnen beliebt; nur kann ich mich Ihnen heute nicht länger widmen. Aber mich geht's ja nichts an, was Sie tun! Da sind wir schon gleich zu Hause. Sagen Sie mal, ich bin überzeugt, Sie sind eben deshalb so mißtrauisch gegen mich, weil ich bisher so zartfühlend war, Sie nicht mit Fragen zu belästigen, . . . Sie verstehen mich wohl? Das war Ihnen gewiß gar zu auffällig; ich möchte sogar wetten, daß die Sache so zusammenhängt. Na, wenn man das davon hat, da soll einer nun noch zartfühlend sein!«
»Und an der Tür horchen!«
»Aha, damit kommen Sie mir!« erwiderte Swidrigailow lachend. »Ich hätte mich auch wirklich gewundert, wenn Sie unter den vorliegenden Umständen diesen Punkt unerwähnt gelassen hätten. Ha-ha! Ich habe zwar einiges verstanden, was Sie damals dort für Faxen machten und was Sie dem jungen Mädchen selbst erzählten; aber wie war denn das Ganze eigentlich? Ich bin vielleicht ein ganz rückständiger Mensch und kann nichts mehr ordentlich begreifen. Erklären Sie mir die Sache, liebster Freund, ich bitte Sie inständigst! Erleuchten Sie meinen Geist mit den neuesten Ideen!«
»Sie haben gar nichts hören können; was Sie da sagen, ist alles gelogen!«
»Ich rede ja gar nicht von dem faktischen Inhalte des Gehörten (wiewohl ich übrigens wirklich einiges gehört habe), sondern bloß davon, daß Sie immer ächzen und seufzen und stöhnen! Der Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rege. Jetzt verlangen Sie nun sogar, daß man nicht einmal mehr an der Tür horchen soll. Wenn Sie so streng denken, dann gehen Sie doch zur Behörde hin und erklären Sie: ›So und so ist es mir ergangen, ich habe das und das getan; es war mir in der Theorie ein kleiner Irrtum passiert.‹ Wenn Sie aber der Ansicht sind, an der Tür dürfe man nicht horchen, wohl aber dürfe man alte Weiber mit irgendeinem Gegenstande, der einem gerade in die Hände kommt, zu seinem Vergnügen totschlagen, dann fahren Sie schleunigst nach Amerika! Fliehen Sie, junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit dazu. Ich rate es Ihnen aufrichtig. Haben Sie etwa kein Geld zur Reise? Ich will Ihnen welches geben.«
»Das liegt durchaus nicht in meiner Absicht!« unterbrach ihn Raskolnikow ärgerlich.
»Ich verstehe (übrigens, machen Sie sich keine Unbequemlichkeiten: Sie haben ja nicht nötig, viel zu reden, wenn Sie nicht mögen); ich kann mir auch denken, mit was für Fragen Sie sich jetzt beschäftigen: doch wohl mit moralischen, nicht wahr? Mit Fragen über Rechte und Pflichten in der bürgerlichen und menschlichen Gesellschaft? Lassen Sie doch dergleichen Überlegungen jetzt beiseite; warum wollen Sie sich damit jetzt noch abgeben? He-he! Etwa, weil Sie immer noch Bürger und Mensch geblieben sind? Aber wenn das der Fall ist, hätten Sie sich nicht mit solchen Geschichten befassen sollen; von Sachen, über die man nicht Bescheid weiß, muß man die Finger lassen. Na, schießen Sie sich doch tot; wie wär's? Oder haben Sie keine Lust?«
»Es scheint, Sie wollen mich absichtlich reizen, nur damit ich Sie jetzt verlasse . . .«
»Sie sind ein wunderlicher Kauz; aber da sind wir ja schon an Ort und Stelle; bitte schön, steigen Sie die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Sofja Semjonownas Wohnung; sehen Sie, es ist niemand da! Sie glauben es nicht? Fragen Sie doch bei Kapernaumows; da pflegt sie den Schlüssel abzugeben. Da ist ja auch madame de Kapernaumow selbst; da können wir ja gleich fragen. Was? (Sie spricht etwas undeutlich.) Ausgegangen ist sie? Wohin? Nun, haben Sie es jetzt gehört? Sie ist nicht zu Hause und kommt vielleicht erst spät am Abend zurück. Na, dann kommen Sie jetzt zu mir mit herein. Sie wollten ja doch auch zu mir kommen, nicht wahr? Na, sehen Sie, da sind wir in meiner Wohnung. Frau Rößlich ist nicht zu Hause. Diese Frau ist fortwährend in geschäftlicher Tätigkeit; aber sie ist eine gute Frau, dessen kann ich Sie versichern . . . Vielleicht könnte sie Ihnen nützlich sein, wenn Sie ein bißchen vernünftiger sein wollten. Na, sehen Sie, bitte: ich nehme aus dem Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier (sehen Sie mal, wieviel ich noch von derselben Sorte habe), und dieses wandert noch heute zum Bankier. Na, haben Sie gesehen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der Schreibtisch wird zugeschlossen, die Wohnung wird zugeschlossen, und nun sind wir wieder auf der Treppe. Na, wenn's Ihnen recht ist, nehmen wir uns eine Droschke. Ich will ja nach den ›Inseln‹. Haben Sie nicht Lust, eine kleine Spazierfahrt zu machen? Hier, ich nehme diese Droschke nach der Jelagin-Insel. Wie? Sie wollen nicht? Also bleiben Sie Ihrer Absicht doch nicht treu? Lassen Sie uns doch fahren; warum denn nicht? Es scheint allerdings, als ob ein Regen kommt; aber das schadet nichts; wir ordnen an, daß das Verdeck in die Höhe geschlagen wird . . .«
Swidrigailow saß bereits im Wagen. Raskolnikow kam zu der Ansicht, daß sein Verdacht, wenigstens für den Augenblick, unbegründet sei. Ohne ein Wort zu antworten, drehte er sich um und ging wieder zurück nach dem Heumarkte zu. Hätte er sich auch nur ein einziges Mal umgewendet, so würde er noch gesehen haben, wie Swidrigailow, nachdem er nicht mehr als hundert Schritte gefahren war, den Kutscher ablohnte und auf das Trottoir trat. Gleich darauf bog Raskolnikow um eine Ecke, so daß er nun auch gar nicht mehr die Möglichkeit hatte, den andern zu beobachten. Ein Gefühl tiefen Ekels trieb ihn dazu, sich von Swidrigailow zu entfernen. ›Wie konnte ich auch nur einen Augenblick lang von diesem rohen Bösewicht, von diesem gemeinen Wüstling und Schurken etwas erwarten!‹ rief er unwillkürlich in Gedanken aus. Freilich war dieses sein Urteil zu eilig und leichtfertig. Es war in Swidrigailows ganzem Wesen etwas, was ihm wenigstens eine gewisse Originalität, man könnte fast sagen, etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine Schwester betraf, so blieb Raskolnikow doch mit Bestimmtheit bei seiner Überzeugung, daß Swidrigailow nicht gesonnen war, sie in Ruhe zu lassen. Es wurde ihm aber jetzt gar zu schwer, ja geradezu unerträglich, an all dies zu denken und es immer wieder zu überlegen!
Seiner Gewohnheit gemäß war er, sobald er allein geblieben war, schon nach zwanzig Schritten tief in Gedanken versunken. Als er auf die Brücke trat, blieb er am Geländer stehen und blickte auf das Wasser hinab. Unterdessen stand Awdotja Romanowna in einiger Entfernung hinter ihm.
Er war ihr am Anfang der Brücke begegnet, war aber an ihr vorbeigegangen, ohne sie zu beachten. Dunja hatte ihn noch nie in diesem Zustande auf der Straße gesehen und war überrascht und erschrocken. Sie blieb stehen und wußte nicht, ob sie ihn anrufen sollte oder nicht. Auf einmal bemerkte sie den aus der Richtung des Heumarktes her eilig herankommenden Swidrigailow.
Aber dieser schien sich bei seiner Annäherung großer Vorsicht und Heimlichkeit zu befleißigen. Er betrat die Brücke nicht, sondern blieb seitwärts auf dem Trottoir stehen und gab sich die größte Mühe, von Raskolnikow nicht gesehen zu werden. Dunja hatte er schon längst bemerkt und machte ihr Zeichen. Wie es ihr schien, bat er sie mit seinen Zeichen, den Bruder nicht anzurufen, sondern in Ruhe zu lassen, und forderte sie auf, zu ihm hinzukommen.
Dunja tat dies. Sachte ging sie um ihren Bruder herum und trat zu Swidrigailow.
»Wir wollen recht schnell gehen«, flüsterte ihr dieser zu. »Ich möchte nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft etwas merkt. Ich habe mit ihm nicht weit von hier in einem Restaurant gesessen, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und habe mich nur mit Mühe von ihm wieder losgemacht. Er hat aus einer mir unbekannten Quelle von meinem Briefe an Sie Kenntnis erhalten und argwöhnt daher etwas. Sie haben ihm doch jedenfalls nichts davon gesagt? Aber wenn Sie es nicht getan haben, wer kann es sonst gewesen sein?«
»Da sind wir ja schon um die Ecke«, unterbrach ihn Dunja, »und mein Bruder kann uns nicht mehr sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich nicht weiter mit Ihnen gehe. Sagen Sie mir alles hier; das läßt sich alles auch auf der Straße sagen.«
»Erstens läßt sich das schlechterdings nicht auf der Straße sagen; zweitens müssen Sie auch Sofja Semjonowna anhören; drittens will ich Ihnen gewisse Beweismittel zeigen . . . Na, und schließlich, wenn Sie nicht einwilligen, mit in meine Wohnung zu kommen, so lehne ich es ab, Ihnen irgendwelche Mitteilungen zu machen, und entferne mich sofort. Dabei bitte ich Sie, nicht zu vergessen, daß das höchst interessante Geheimnis Ihres geliebten Bruders völlig in meinen Händen ist.«
Dunja blieb unentschlossen stehen und schaute Swidrigailow forschend an.
»Wovor fürchten Sie sich denn?« bemerkte er ruhig. »Wir sind hier in einer Stadt und nicht auf dem Lande. Und auf dem Lande haben Sie mir mehr Schaden zugefügt als ich Ihnen; hier aber . . .«
»Ist Sofja Semjonowna von meinem Kommen benachrichtigt?«
»Nein, ich habe ihr keine Silbe davon gesagt und bin nicht einmal ganz sicher, ob sie auch jetzt zu Hause ist. Aber sie ist wahrscheinlich da. Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt; an einem solchen Tage pflegt man keine Besuche zu machen. Vorläufig will ich noch mit niemand über diese Angelegenheit reden und bereue sogar zum Teil, daß ich Ihnen davon Mitteilung gemacht habe. Die geringste Unvorsichtigkeit kann hierbei die Wirkung einer Denunziation haben. Ich wohne gleich hier, in diesem Hause; Sie sehen, wir sind schon da. Da steht der Hausknecht, der zu unserem Hause gehört; der kennt mich ganz genau; sehen Sie, er grüßt; er sieht, daß ich mit einer Dame komme, und hat sich sicherlich bereits Ihr Gesicht gemerkt; das kann Ihnen aber zustatten kommen, wenn Sie sich nun einmal so sehr fürchten und mir Böses zutrauen. Entschuldigen Sie, daß ich so unzart rede. Ich selbst wohne in einer möblierten Wohnung. Sofja Semjonowna wohnt neben mir Wand an Wand, gleichfalls in einem möblierten Zimmer. Die ganze Etage ist in dieser Weise vermietet. Also haben Sie keinen Anlaß, sich wie ein kleines Kind zu ängstigen. Oder bin ich wirklich ein so furchtbarer Mensch?«
Swidrigailows Gesicht verzog sich zu einem freundlich überlegenen Lächeln; aber in Wirklichkeit war ihm nicht nach Lächeln zumute. Das Herz pochte ihm heftig, und der Atem stockte ihm in der Brust. Er sprach absichtlich recht laut, um seine wachsende Aufregung zu verbergen; aber Dunja nahm diese besondere Aufregung gar nicht wahr; seine Bemerkung, daß sie sich wie ein kleines Kind vor ihm ängstige und daß er ihr als ein furchtbarer Mensch erscheine, hatte sie gar zu sehr gereizt.
»Obwohl ich weiß, daß Sie ein . . . ehrloser Mensch sind, fürchte ich mich dennoch nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran!« sagte sie anscheinend ruhig, aber ihr Gesicht war sehr blaß.
Swidrigailow blieb bei Sonjas Wohnung stehen.
»Erlauben Sie, daß ich nachsehe, ob sie zu Hause ist . . . Nein. Schade! Aber ich weiß, daß sie wahrscheinlich sehr bald zurückkommen wird. Wenn sie ausgegangen ist, so kann sie nur zu einer mir bekannten Dame gegangen sein, um mit ihr über die Waisen Rücksprache zu nehmen, die nun auch ihre Mutter verloren haben. Ich habe mich auch da der Sache angenommen und Fürsorge getroffen. Sollte Sofja Semjonowna nicht binnen zehn Minuten zurückgekehrt sein, so werde ich sie nachher zu Ihnen nach Ihrer Wohnung schicken; wenn Sie es wünschen, heute noch. Na, und da ist auch meine Wohnung. Da sind meine beiden Zimmer. Nebenan, durch diese Tür verbunden, befindet sich die Wohnung meiner Wirtin, einer Frau Rößlich. Nun sehen Sie hierher, ich will Ihnen meine wichtigsten Beweismittel zeigen: aus meinem Schlafzimmer führt diese Tür hier nach zwei ganz leeren Stuben, die zu vermieten sind. Hier sind sie, . . . dies müssen Sie sich mit besonderer Aufmerksamkeit ansehen . . .«
Swidrigailow bewohnte zwei ziemlich geräumige möblierte Zimmer. Dunja blickte mißtrauisch um sich, bemerkte aber nichts Auffälliges, weder in der Ausstattung noch in der Lage der Zimmer, wiewohl sie allerdings hätte bemerken können, zum Beispiel daß Swidrigailows Wohnung zwischen zwei anderen Wohnungen lag, von denen die eine unbewohnt, die andere so gut wie unbewohnt war. Sie hatte ihren Eingang nicht unmittelbar vom Korridor aus, sondern durch zwei fast leere Zimmer der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Swidrigailow, nachdem er eine verschlossene Tür aufgeschlossen hatte, dem jungen Mädchen eine gleichfalls leere Wohnung, die zu vermieten war. Dunja wollte auf der Schwelle stehenbleiben, da sie nicht begriff, warum er sie aufforderte, das anzusehen; aber Swidrigailow beeilte sich, ihr dies zu erklären.
»Hier, sehen Sie einmal dorthin, in dieses zweite große Zimmer. Beachten Sie die Tür dort; sie ist verschlossen. Neben der Tür steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in beiden Zimmern. Den habe ich aus meiner Wohnung dorthin gebracht, um es beim Zuhören bequemer zu haben. Dort gleich hinter der Tür steht Sofja Semjonownas Tisch; da saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Ich aber saß hier auf dem Stuhle und horchte, zwei Abende hintereinander, jedesmal etwa zwei Stunden lang – da konnte ich doch gewiß etwas erfahren, meinen Sie nicht?«
»Sie horchten?«
»Ja, allerdings; aber nun kommen Sie in meine Wohnung; hier ist nicht einmal eine Sitzgelegenheit.«
Er führte Awdotja Romanowna in sein erstes Zimmer zurück, das ihm als Wohnzimmer diente, und bot ihr einen Stuhl an. Er selbst setzte sich an das andere Ende des Tisches, gegen sieben Fuß von ihr entfernt; aber in seinen Augen leuchtete schon eben jenes Feuer, vor dem sie früher einmal so heftig erschrocken war. Sie fuhr zusammen und sah sich noch einmal mißtrauisch um. Sie tat das ganz unwillkürlich; ihr Mißtrauen zu zeigen lag offenbar nicht in ihrer Absicht. Aber die einsame Lage von Swidrigailows Wohnung war ihr nun doch schließlich aufgefallen. Sie wollte ihn schon fragen, ob nicht wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, unterließ es aber . . . aus Stolz. Außerdem quälte ein anderes, unvergleichlich viel größeres Leid als die Furcht für ihre eigene Person ihr Herz. Sie duldete unerträgliche Qualen.
»Da ist Ihr Brief«, begann sie und legte den Brief auf den Tisch. »Ist denn das, was Sie da schreiben, überhaupt möglich? Sie deuten auf ein Verbrechen hin, das mein Bruder begangen habe. Sie deuten zu bestimmt darauf hin; wagen Sie nicht etwa sich jetzt herauszureden. Schon vor Ihrer Mitteilung habe ich von diesem dummen Gerede gehört; aber ich glaube kein Wort davon. Es ist eine schändliche, lächerliche Verdächtigung; ich weiß, wie und woher sie entstanden ist. Beweise können Sie nicht haben; Sie machten sich anheischig, mir Beweise zu liefern: nun, so reden Sie denn! Aber ich sage Ihnen im voraus, daß ich Ihnen nicht glauben werde. Ich werde Ihnen nicht glauben!«
Dunja sagte das schnell und hastig, und für einen Augenblick stieg ihr das Blut ins Gesicht.
»Wenn Sie es für so ganz ausgeschlossen gehalten hätten, daß Sie es glauben könnten, so hätten Sie es doch gewiß nicht riskiert, allein zu mir zu kommen. Warum sind Sie denn gekommen? Nur aus Neugier?«
»Foltern Sie mich nicht, reden Sie, reden Sie!«
»Das muß man sagen: Sie sind ein tapferes Mädchen. Ich habe wahrhaftig gedacht, Sie würden Herrn Rasumichin bitten, Sie hierher zu begleiten. Aber er war auf der Straße weder bei Ihnen noch in der Nähe; ich habe gut Umschau gehalten. Das ist kühn von Ihnen; Sie wollten offenbar Rodion Romanowitsch schonen. Ja, Sie sind in jeder Hinsicht ein himmlisches Wesen . . . Was nun Ihren Bruder anlangt, ja, was soll ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn ja in diesem Augenblick selbst gesehen. Wie sieht er nur aus!«
»Das ist doch wohl nicht das einzige, worauf sich Ihre Behauptung gründet?«
»Gewiß nicht, vielmehr auf seine eigenen Worte. Zwei Abende nacheinander ist er zu Sofja Semjonowna hierher gekommen. Ich habe Ihnen gezeigt, wo sie gesessen haben. Er hat ihr eine vollständige Beichte abgelegt. Er ist ein Mörder. Er hat eine alte Beamtenwitwe, eine Wucherin, bei der auch er einige Sachen versetzt hatte, ermordet; desgleichen hat er deren Schwester ermordet, eine Händlerin namens Lisaweta, die unvermutet bei der Mordtat dazukam. Er hat sie beide mit einem Beile, das er mitgebracht hatte, erschlagen. Er hat sie ermordet, um sie zu berauben, und er hat auch geraubt; er hat Geld und einige Wertsachen weggenommen . . . Er selbst hat das alles Wort für Wort Sofja Semjonowna erzählt; sie ist die einzige, die von dem Geheimnisse weiß. Aber sie ist bei dem Morde weder durch Rat noch durch Tat beteiligt gewesen, erschrak vielmehr über die Mitteilung gerade ebenso wie Sie jetzt. Sie können beruhigt sein: sie wird ihn nicht verraten.«
»Es ist nicht möglich!« murmelte Dunja mit leichenblassen Lippen, nach Atem ringend. »Es ist nicht möglich. Er hatte ja dazu nicht den geringsten Grund, gar keinen Anlaß . . . Es ist eine Lüge, eine Lüge!«
»Er wollte rauben, das ist der ganze Grund. Er hat Geld und Wertsachen genommen. Allerdings hat er, nach seiner eigenen Aussage, weder von dem Gelde noch von den Wertsachen Gebrauch gemacht, sondern sie irgendwo unter einen Stein gelegt, wo sie noch liegen. Aber das hat er eben nur deshalb getan, weil er sich nicht getraute, davon Gebrauch zu machen.«
»Aber ist es denn denkbar, daß er imstande gewesen sein sollte, zu stehlen und zu rauben? Daß ihm so etwas auch nur hätte in den Sinn kommen können?« rief Dunja und sprang von ihrem Stuhle auf. »Sie kennen ihn ja doch, Sie haben ihn gesehen; kann denn ein Mensch wie er ein Dieb sein?«
Ihr Ton klang, als ob sie Swidrigailow anflehte; all ihre Angst hatte sie vergessen.
»Da gibt es tausend und abertausend verschiedene Arten und Schattierungen, Awdotja Romanowna. Der gewöhnliche Dieb stiehlt mit dem Bewußtsein, daß er ein Schuft ist; ich habe aber auch schon einmal gehört, daß ein Mann besseren Standes die Post überfallen und ausgeplündert hat; wer weiß, ob der nicht tatsächlich der Ansicht war, etwas ganz Anständiges getan zu haben! Selbstverständlich hätte auch ich es ebensowenig wie Sie geglaubt, wenn ich es von irgendeinem anderen gehört hätte. Aber meinen eigenen Ohren mußte ich glauben. Er hat Sofja Semjonowna auch alle seine Beweggründe auseinandergesetzt; die wollte zuerst ihren Ohren nicht trauen; aber ihren Augen, ihren eigenen Augen mußte sie schließlich doch Glauben schenken. Er selbst hat es ihr ja alles persönlich erzählt.«
»Was waren das für . . . Beweggründe?«
»Das ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es liegt dabei (ja, wie soll ich Ihnen das nur klarmachen?) eine eigenartige Theorie zugrunde, dieselbe Anschauung, nach der auch ich zum Beispiel finde, daß eine einzige Übeltat erlaubt ist, wenn der Hauptzweck ein guter ist. Eine einzige üble Tat gegenüber hundert guten! Auch ist es sicherlich für einen jungen Mann von hervorragender Begabung und maßlosem Ehrgeiz ein empörender Gedanke, sich sagen zu müssen, daß seine ganze Laufbahn, all seine künftigen Lebensziele sich anders gestalten würden, wenn er nur dreitausend Rubel hätte, daß er aber diese dreitausend Rubel eben nicht hat. Nehmen Sie als anstachelnde Momente noch hinzu: den Hunger, die enge Wohnung, die deutliche Erkenntnis der Kläglichkeit seiner eigenen sozialen Stellung und im Verein damit der Stellung seiner Schwester und seiner Mutter. Die Hauptursachen aber waren Eitelkeit und Stolz, vielleicht indessen, Gott mag's wissen, daneben auch bessere Motive. Ich breche nicht den Stab über ihn; bitte, glauben Sie das nicht; das steht mir auch gar nicht zu. Es spielte dabei auch eine besondere Theorie eine Rolle (eine Theorie, die nach etwas klingt), nach der die Menschen in zwei Gruppen eingeteilt werden, sehen Sie wohl, in Material und in besondere Menschen, das heißt solche Menschen, für die wegen ihres hohen geistigen Ranges die Gesetze nicht geschrieben sind, sondern die vielmehr selbst für die übrigen Menschen, für dieses Material, für den Kehricht, Gesetzgeber sind. Man muß sagen: eine ganz leidliche Theorie, une théorie comme une autre. Ganz gewaltig hat ihm Napoleon imponiert, das heißt eigentlich hat ihm das imponiert, daß so viele geniale Menschen keine Bedenken trugen, eine einzelne Übeltat zu begehen, sondern, ohne erst lange zu reflektieren, über die Schranken hinwegschritten. Er scheint sich eingebildet zu haben, daß auch er ein genialer Mensch sei; ich meine, er ist eine Zeitlang davon überzeugt gewesen. Sehr niederdrückend war ihm und ist ihm auch noch der Gedanke, daß er zwar verstanden habe, eine Theorie aufzustellen, aber nicht imstande gewesen sei, über die Schranken ohne lange Reflexionen hinwegzuschreiten, und daß er somit kein genialer Mensch sei. Na, und das ist für einen ehrgeizigen jungen Mann demütigend, namentlich in unserer Zeit . . .«
»Und sollte er keine Gewissensbisse gehabt haben? Sie sprechen ihm also jedes moralische Gefühl ab? So ein Mensch ist er doch nicht!«
»Ach, Awdotja Romanowna, diese Begriffe sind jetzt bei uns arg in Verwirrung geraten; übrigens, eine besondere Ordnung hat wohl nie darin geherrscht. Die Russen haben überhaupt eine schrankenlose Natur, Awdotja Romanowna, ganz wie ihr Land, und neigen außerordentlich stark zum Phantastischen, Ordnungslosen; aber eine solche Neigung zur Schrankenlosigkeit ist, wenn sich nicht besondere Genialität damit vereint, ein Unglück. Wissen Sie wohl noch, wie oft wir beide in ebendiesem Sinne über ebendieses Thema gesprochen haben, wenn wir nach dem Abendessen im Garten auf der Terrasse saßen? Gerade diese Neigung zur Schrankenlosigkeit machten Sie mir damals noch zum Vorwurf. Wer weiß, vielleicht haben wir manchmal gerade in derselben Zeit davon gesprochen, wo er hier lag und sich seinen Plan ausdachte. Bei uns in der gebildeten Gesellschaft gibt es ja eigentlich keine durch das Herkommen geheiligten Grundsätze, Awdotja Romanowna; es müßte denn sein, daß sich jemand dergleichen aus Büchern zusammenstellt oder aus Chroniken ausgräbt. Aber das sind doch meist nur Gelehrte, und, wissen Sie, das sind in ihrer Art rechte Schlafmützen, so daß es für einen Mann von Welt unpassend wäre, es ihnen nachzutun. Übrigens kennen Sie ja meine Anschauungen über diese ganze Frage; ich stehe entschieden auf dem Standpunkte, niemand zu verurteilen. Ich selbst bin ein Nichtstuer und halte an diesem Lebensprinzip fest. Wir haben uns darüber ja schon wiederholt unterhalten. Ich hatte sogar das Glück, durch meine Ansichten Ihr Interesse zu erregen . . . Aber Sie sind ja so blaß, Awdotja Romanowna!«
»Ich kenne diese Theorie meines Bruders. Ich habe in einer Zeitschrift eine Abhandlung von ihm gelesen über Menschen, denen alles erlaubt ist . . . Rasumichin hat sie mir gebracht.«
»Rasumichin? Eine Abhandlung Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Hat er eine solche Abhandlung geschrieben? Das war mir nicht bekannt. Die wird gewiß sehr interessant sein! Aber wo wollen Sie denn hin, Awdotja Romanowna?«
»Ich will mit Sofja Semjonowna sprechen«, antwortete Dunja mit schwacher Stimme. »Wie komme ich zu ihr? Sie ist vielleicht schon zurückgekehrt; ich will unter allen Umständen so schnell wie möglich mit ihr sprechen. Mag sie . . .«
Awdotja Romanowna war nicht imstande, den Satz zu Ende zu sprechen; ihr Atem war wie abgeschnürt.
»Sofja Semjonowna wird erst spät am Abend zurückkommen. Ich muß das annehmen; es war zu erwarten, daß sie sehr bald zurückkommen würde oder, wenn nicht, erst sehr spät.«
»Ah, du lügst also! Ich sehe, . . . du lügst, . . . du hast alles gelogen! . . . Ich glaube dir nicht! Nein! Nein!« rief Dunja in wahrer Wut und ganz außer sich.
Fast ohnmächtig sank sie auf einen Stuhl nieder, den ihr Swidrigailow schnell hinrückte.
»Was ist Ihnen, Awdotja Romanowna? Kommen Sie doch zu sich! Hier ist Wasser! Trinken Sie einen Schluck!«
Er bespritzte sie mit Wasser. Dunja zuckte zusammen und kam wieder zum Bewußtsein.
»Das hat stark gewirkt!« murmelte Swidrigailow mit finsterem Gesichte vor sich hin. »Beruhigen Sie sich, Awdotja Romanowna! Denken Sie daran, daß er Freunde hat. Wir wollen ihn schon retten, ihm durchhelfen. Wenn Sie es wünschen, bringe ich ihn ins Ausland. Ich habe Geld; in längstens drei Tagen beschaffe ich ihm einen Paß. Und was den Mord betrifft, den er begangen hat, so wird er in seinem Leben noch viele gute Taten tun, so daß das alles wieder wettgemacht wird; darüber mögen Sie ruhig sein. Er kann noch ein großer Mann werden. Nun, wie geht es Ihnen jetzt? Wie fühlen Sie sich?«
»Schlechter Mensch! Sie höhnen noch! Lassen Sie mich . . .«
»Wohin? Wo wollen Sie denn hin?«
»Zu ihm. Wo ist er? Sie wissen es? Wie kommt es, daß diese Tür verschlossen ist? Wir sind doch durch diese Tür hereingekommen, und jetzt ist sie verschlossen. Ich habe gar nicht gemerkt, daß Sie sie zuschlossen; wann haben Sie das getan?«
»Ich mußte doch verhüten, daß das, was wir hier besprächen, von anderen Leuten gehört würde. Ich höhne ganz und gar nicht; aber ich bin es allerdings überdrüssig, in dem bisherigen Tone weiterzureden. Wohin wollen Sie in dieser Verfassung gehen? Oder wollen Sie bewirken, daß seine Schuld bekannt wird? Sie werden ihn zur Raserei bringen, und er wird sich selbst anzeigen. Ich muß Ihnen sagen, daß man ihn bereits verfolgt, ihm auf der Fährte ist. Sie werden ihn bloß verraten. Warten Sie doch; ich habe ihn eben gesehen und mit ihm gesprochen; er ist noch zu retten. Warten Sie doch, setzen Sie sich, wir wollen es zusammen überlegen. Darum habe ich Sie ja eben gebeten, zu mir zu kommen, um darüber mit Ihnen allein Rücksprache zu nehmen und alles ordentlich zu überlegen. Aber so setzen Sie sich doch hin!«
»Auf welche Weise können Sie ihn retten? Ist denn noch Rettung möglich?«
Dunja setzte sich. Swidrigailow setzte sich neben sie.
»Das alles wird von Ihnen abhängen, von Ihnen, von Ihnen allein«, begann er mit funkelnden Augen, fast im Flüstertone; er war so erregt und verwirrt, daß er manche Worte nicht deutlich herausbekam.
Dunja wich erschrocken von ihm zurück. Auch er zitterte am ganzen Körper.
»Sie . . . ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet! Ich . . . ich werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich werde ihn sofort wegbringen; ich selbst werde ihm einen Paß besorgen, oder zwei Pässe, einen für ihn, einen für mich. Ich habe Freunde, ich stehe mit geschäftskundigen Leuten in Verbindung . . . Wollen Sie? Auch für Sie will ich einen Paß nehmen, . . . auch für Ihre Mutter . . . Wozu brauchen Sie diesen Rasumichin? Ich liebe Sie auch, . . . ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den Saum Ihres Kleides küssen, ich bitte Sie darum! Ich bitte Sie darum! Ich kann es nicht mehr anhören, wie es raschelt. Sagen Sie mir: ›tu das!‹ und ich tue es! Alles will ich tun. Ich will das Unmögliche vollbringen. Woran Sie glauben, daran will auch ich glauben. Ich will alles, alles tun! Sehen Sie mich nicht so an, sehen Sie mich nicht so an! Sie töten mich mit diesem Blicke . . .«
Er redete wie im Fieber. Es war, als wäre er plötzlich trunken geworden. Dunja sprang auf und stürzte zur Tür.
»Aufmachen! Aufmachen!« rief sie durch die Tür, um jemand herbeizurufen, und rüttelte an ihr mit beiden Händen. »Aufmachen! Ist niemand da?«
Swidrigailow kam wieder zu sich und stand auf. Ein boshaftes, höhnisches Lächeln trat langsam auf seine immer noch zitternden Lippen; dann sagte er leise und mit Nachdruck:
»Da ist niemand zu Hause. Die Wirtin ist ausgegangen, und es ist vergebliche Mühe, so zu schreien. Sie regen sich unnütz auf.«
»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Tür, sofort, du gemeiner Mensch!«
»Den Schlüssel habe ich verloren und kann ihn nicht wiederfinden.«
»Ah! Das ist Gewalt!« rief Dunja, die leichenblaß geworden war, und stürzte sich in eine Ecke, wo sie schleunigst hinter einem dort stehenden Tischchen Deckung suchte.
Sie schrie nicht, sondern heftete ihren Blick fest auf ihren Peiniger und verfolgte scharf jede seiner Bewegungen. Auch Swidrigailow rührte sich nicht von seinem Platze und stand ihr gegenüber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte wieder die Herrschaft über sich gewonnen, wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war bleich wie vorher, und das höhnische Lächeln war nicht verschwunden.
»Sie sagten soeben ›Gewalt‹, Awdotja Romanowna. Wenn ich wirklich Gewalt beabsichtigen sollte, so können Sie sich wohl selbst sagen, daß ich auch die erforderlichen Maßregeln getroffen haben werde. Sofja Semjonowna ist nicht zu Hause; bis zu Kapernaumows ist es sehr weit; da liegen drei leere, verschlossene Zimmer dazwischen. Schließlich bin ich mindestens noch einmal so stark wie Sie, und außerdem habe ich nichts zu befürchten; denn Sie können auch nachher keine Klage gegen mich anstrengen: Sie werden doch wahrhaftig nicht Ihren Bruder verraten wollen? Auch wird Ihnen nicht einmal jemand glauben: weshalb sollte denn ein junges Mädchen allein zu einem alleinstehenden Manne in die Wohnung gegangen sein? Also selbst wenn Sie Ihren Bruder preisgäben, würden Sie doch nichts gegen mich beweisen können: eine Vergewaltigung ist sehr schwer zu beweisen, Awdotja Romanowna.«
»Schurke!« flüsterte Awdotja entrüstet.
»Nennen Sie mich, wie Sie wollen; aber bitte, beachten Sie, daß ich von Gewalt nur im Sinne einer bloßen Annahme gesprochen habe. Nach meiner persönlichen Überzeugung haben Sie vollkommen recht: eine Vergewaltigung ist eine Gemeinheit. Ich habe von der äußersten Möglichkeit einer Gewalttat auch nur deshalb gesprochen, um Ihnen begreiflich zu machen, daß Sie sich in Ihrem Gewissen nicht beschwert zu fühlen brauchen, wenn Sie . . . wenn Sie sich entschließen, Ihren Bruder freiwillig in der von mir vorgeschlagenen Weise zu retten. Sie haben sich dann einfach den Umständen gefügt, na, meinetwegen auch der Gewalt, wenn dieses Wort nun einmal unentbehrlich ist. Überlegen Sie es sich ein Weilchen: das Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter liegt in Ihren Händen. Ich aber werde Ihr Sklave sein . . . mein ganzes Leben lang . . . Ich will hier warten.«
Swidrigailow setzte sich auf das Sofa, etwa acht Schritte von Dunja entfernt. Für sie bestand nicht der geringste Zweifel an seiner unerschütterlichen Entschlossenheit. Dazu kannte sie ihn zu gut.
Plötzlich zog sie einen Revolver aus der Tasche, spannte den Hahn und legte die Hand mit dem Revolver auf das Tischchen. Swidrigailow sprang auf.
»Aha! Ei, sehen Sie mal!« rief er erstaunt mit boshaftem Lächeln. »Nun, das gibt ja der Sache allerdings eine ganz andere Wendung! Sie erleichtern mir dadurch mein Vorhaben außerordentlich, Awdotja Romanowna! Aber wo haben Sie denn den Revolver her? Etwa von Herrn Rasumichin? Nein doch! Das ist ja mein Revolver! Ein alter Bekannter! Und ich habe damals so danach gesucht! . . . Der Unterricht im Schießen, den ich auf dem Lande Ihnen zu erteilen die Ehre hatte, ist also doch nicht unnütz gewesen!«
»Der Revolver gehörte nicht dir, sondern Marfa Petrowna, die du ermordest hast, du Bösewicht! Du hattest in ihrem ganzen Hause nichts Eigenes. Ich nahm ihn an mich, sobald ich merkte, wozu du fähig bist. Wage es, mir auch nur einen Schritt näherzukommen, so erschieße ich dich; das schwöre ich dir!«
Dunja befand sich in rasender Erregung. Den Revolver hielt sie schußbereit.
»Na, und was soll aus Ihrem Bruder werden? Ich frage nur so aus Neugier!« sagte Swidrigailow, der immer noch an seinem Platze stand.
»Denunziere ihn, wenn du willst! Nicht von der Stelle! Rühre dich nicht! Ich schieße! Du hast deine Frau vergiftet, das weiß ich; du bist selbst ein Mörder!«
»Wissen Sie das auch ganz bestimmt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?«
»Du hast es getan! Du hast mir selbst Andeutungen darüber gemacht; du hast mir gegenüber von Gift gesprochen, . . . ich weiß, du bist weggefahren, um dir welches zu beschaffen, . . . du hattest es bereitliegen . . . Du hast es getan . . . Zweifellos hast du es getan, . . . du Schurke!«
»Und selbst wenn es wahr wäre, so hätte ich es doch nur um deinetwillen . . . so wärest doch nur du die Ursache gewesen.«
»Du lügst! Ich habe dich immer gehaßt, immer . . .«
»Ei, ei, Awdotja Romanowna, Sie haben offenbar vergessen, wie Sie damals in Ihrem Bekehrungseifer schon nachgiebiger wurden und auftauten . . . Ich habe Ihnen das an den Augen angesehen; erinnern Sie sich noch: eines Abends, bei Mondschein, die Nachtigall flötete?«
»Du lügst!« (Dunjas Augen funkelten vor Wut.) »Du lügst, Verleumder!«
»Ich lüge? Na, meinetwegen auch das! Ich habe also gelogen. Es schickt sich nicht, Frauen an solche Dinge zu erinnern.« (Er lächelte.) »Ich weiß, daß du schießen wirst, du reizende Tigerin! Na, dann schieße also!«
Dunja hob den Revolver in die Höhe; sie war totenbleich, die blasse Unterlippe bebte, die großen schwarzen Augen funkelten wie Feuer. Entschlossen blickte sie ihn an und wartete auf die erste Bewegung von seiner Seite. Noch nie hatte er sie so schön gesehen. Er hatte die Empfindung, als ob das Feuer, das in diesem Augenblick aus ihren Augen sprühte, ihn versengte, und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er trat einen Schritt vorwärts, und der Schuß ertönte.
Die Kugel hatte ihm das Haar gestreift und war hinter ihm in die Wand gefahren. Er blieb stehen und lachte leise auf.
»Die Wespe hat gestochen! So ein Mädchen, zielt gerade nach dem Kopfe! . . . Was ist das? Blut!«
Er zog das Taschentuch heraus, um das Blut abzuwischen, das in einem feinen Streifen über seine rechte Schläfe rann; augenscheinlich hatte die Kugel die Kopfhaut eben nur geritzt. Dunja ließ den Revolver sinken und blickte Swidrigailow an, nicht sowohl erschreckt, sondern in einer Art von scheuem Staunen. Es war, als begreife sie selbst nicht, was sie getan hatte und was geschehen war.
»Na ja, das war vorbeigeschossen! Schießen Sie noch einmal; ich warte«, sagte Swidrigailow leise; er lächelte immer noch, aber sein Lächeln hatte jetzt etwas Düsteres, Trübes. »Wenn Sie so stehenbleiben, kann ich Sie ja packen, ehe Sie dazukommen, den Hahn zu spannen!«
Dunja fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und hob den Revolver wieder in die Höhe.
»Lassen Sie von mir ab!« rief sie verzweifelt. »Ich schwöre Ihnen, ich schieße noch einmal; ich . . . werde Sie töten . . .«
»Na, schön, . . . auf drei Schritt Entfernung kann es ja eigentlich gar nicht ausbleiben, daß man einen totschießt. Na, aber wenn Sie mich nicht totschießen, . . . dann . . .«
Seine Augen funkelten und er trat noch zwei Schritte näher.
Dunja drückte ab; aber der Schuß versagte.
»Sie haben nicht sorgfältig geladen. Aber es tut nichts! Sie haben noch eine Patrone darin. Machen Sie Ihren Fehler wieder gut; ich warte.«
Er stand in einer Entfernung von zwei Schritten vor ihr, wartete und sah sie mit wilder Entschlossenheit an; seine Augen flammten in tiefer Leidenschaft. Dunja konnte nicht zweifeln, daß er eher sterben als von ihr ablassen werde. ›Und . . . und nun, auf zwei Schritt, werde ich ihn sicher töten!‹ sagte sie sich.
Plötzlich schleuderte sie den Revolver von sich.
»Sie hat ihn weggeworfen!« sagte Swidrigailow erstaunt und holte tief Atem.
Ihm war, als hätte sich ihm auf einmal eine Last vom Herzen gelöst, und es war wohl nicht allein der Druck der Todesfurcht; die hatte er in diesem Augenblick vielleicht überhaupt kaum empfunden. Es war die Befreiung von einem anderen, krankhaften, düsteren Gefühle, das er in seiner ganzen Bedeutung selbst nicht hätte definieren können.
Er trat an Dunja heran und legte leise seinen Arm um ihre Taille. Sie widersetzte sich ihm nicht; aber sie blickte ihn, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, mit flehenden Augen an. Er wollte etwas sagen; aber es verzogen sich nur seine Lippen; zu sprechen war er nicht imstande.
»Laß mich!« sagte Dunja flehend.
Swidrigailow zuckte zusammen: dieses Du war in ganz anderem Tone gesprochen als vorher.
»Du liebst mich also nicht?« fragte er leise.
Dunja schüttelte verneinend den Kopf.
»Und . . . du wirst es auch nie können? . . . Niemals?« flüsterte er voll Verzweiflung.
»Nein, niemals!« flüsterte Dunja.
In Swidrigailows Seele ging einen Augenblick lang ein furchtbarer, stummer Kampf vor sich. Mit einem unbeschreiblichen Blicke schaute er sie an. Plötzlich löste er seinen Arm von ihrem Körper, wandte sich ab, ging schnell zum Fenster und blieb dort stehen, dem Zimmer den Rücken zuwendend.
Es verging noch ein Augenblick.
»Hier ist der Schlüssel!« Er zog ihn aus der linken Überziehertasche und legte ihn hinter sich auf den Tisch, ohne sich umzudrehen und ohne Dunja anzublicken. »Nehmen Sie ihn und gehen Sie schnell fort!«
Er blickte starr durch das Fenster.
Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.
»Schnell! Schnell!« rief Swidrigailow, der sich immer noch nicht rührte und nicht umwandte.
Aber in diesem »Schnell!« war ein furchtbarer Ton deutlich hindurchzuhören.
Dunja verstand diesen Ton, ergriff den Schlüssel, stürzte zur Tür, schloß sie schnell auf und eilte aus dem Zimmer. Einen Augenblick darauf lief sie wie wahnsinnig und wie betäubt aus dem Hause und rannte am Kanal entlang nach der . . . schen Brücke zu.
Swidrigailow blieb noch etwa drei Minuten lang am Fenster stehen; endlich wandte er sich langsam um, blickte um sich und fuhr sich sachte mit der Hand über die Stirn. Ein sonderbares Lächeln verzerrte sein Gesicht, ein klägliches, trauriges, mattes Lächeln, ein Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das bereits einzutrocknen begann, hatte ihm bei dieser Bewegung die Handfläche beschmutzt; ärgerlich betrachtete er den Fleck; dann befeuchtete er ein Handtuch und wusch sich die Schläfe rein. Auf einmal fiel ihm der Revolver in die Augen, den Dunja von sich geworfen hatte und der gegen die Tür geflogen war. Er hob ihn auf und besah ihn. Es war ein kleiner, dreischüssiger Taschenrevolver alten Systems; es waren darin noch zwei Patronen und ein Zündhütchen vorhanden. Einmal konnte man also noch damit schießen. Er überlegte ein Weilchen, schob dann den Revolver in die Tasche, ergriff seinen Hut und ging hinaus.