Fjodr Dostojewski
Schuld und Sühne
Fjodr Dostojewski

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V

Dieser trat bereits in das Zimmer und machte dabei ein Gesicht, als müßte er mit aller Gewalt an sich halten, um nicht vor Lachen loszuplatzen. Ihm folgte mit verdrießlicher, grimmiger Miene der lange, ungelenke Rasumichin, vor Verlegenheit rot wie eine Päonie. Sein Gesicht und seine ganze Figur waren wirklich in diesem Augenblicke lächerlich und rechtfertigten Raskolnikows Heiterkeit. Ohne noch vorgestellt zu sein, verbeugte sich Raskolnikow vor dem Hausherrn, der mitten im Zimmer stand und sie fragend anblickte, und wechselte mit ihm einen Händedruck, wobei er immer noch durchblicken ließ, welche Anstrengung es ihm mache, seine Lustigkeit zu unterdrücken und auch nur die wenigen zur Vorstellung erforderlichen Worte zu sprechen. Aber kaum war es ihm gelungen, eine ernste Miene anzunehmen und etwas Unverständliches zu murmeln, da blickte er auf einmal wieder, wie unwillkürlich, Rasumichin an und konnte sich nun nicht mehr beherrschen: das unterdrückte Lachen brach um so unaufhaltsamer heraus, je stärker es bis dahin zurückgedrängt war. Der gewaltige Ingrimm, mit welchem Rasumichin dieses anscheinend von Herzen kommende Lachen aufnahm, verlieh dieser ganzen Szene den Anschein einer durchaus echten Lustigkeit und, was das wichtigste war, der Natürlichkeit. Rasumichin erhöhte, als ob er es darauf angelegt gehabt hätte, diesen Eindruck noch durch sein Benehmen; er schrie: »Hol's der Teufel!« schwenkte dabei mit dem Arm und traf ein kleines rundes Tischchen, auf dem ein leergetrunkenes Teeglas stand. Alles fiel zu Boden; das Glas ging klirrend in Scherben.

»Recht so, meine Herren! Immer heiter und vergnügt!« rief Porfirij Petrowitsch fröhlich.

Es bot sich jetzt folgender Anblick dar: Raskolnikow lachte und lachte und vergaß darüber ganz, daß seine Hand noch in der des Hausherrn lag; aber er verstand, das richtige Maß innezuhalten, und wartete nur auf den passenden Augenblick, um möglichst bald und möglichst natürlich damit aufzuhören. Rasumichin, der durch das Umfallen des Tischchens und das Zerbrechen des Glases ganz und gar aus der Fassung gekommen war, blickte finster auf die Scherben, spuckte aus, drehte sich kurz um und trat ans Fenster, wo er den andern den Rücken zukehrte, ein furchtbar ärgerliches Gesicht schnitt und durchs Fenster schaute, ohne etwas zu sehen. Porfirij Petrowitsch lachte und war gern bereit, weiter mitzulachen, bedurfte aber offenbar der Aufklärung. In einer Ecke hatte auf einem Stuhle Sametow gesessen; beim Eintritt der Besucher hatte er sich erhoben und stand nun erwartungsvoll da. Den Mund hatte er zu einem Lächeln auseinandergezogen; aber er betrachtete den ganzen Auftritt mit Erstaunen und einer Art von Mißtrauen; Raskolnikow gegenüber zeigte er sogar eine gewisse Verlegenheit. Durch Sametows unerwartete Anwesenheit fühlte sich Raskolnikow unangenehm überrascht.

›Das muß ich auch noch mit in Betracht ziehen!‹ dachte er.

»Ich muß um Entschuldigung bitten«, begann er mit gekünstelter Verlegenheit, »mein Name ist Raskolnikow.«

»O bitte, bitte, sehr angenehm, und Sie kamen in so angenehmer Weise herein . . . Aber will denn der da nicht einmal guten Tag sagen?« erwiderte Porfirij Petrowitsch und wies mit einer Kopfbewegung auf Rasumichin hin.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, warum er auf mich so wütend ist. Ich habe ihm nur unterwegs gesagt, er sehe aus wie ein Romeo, und habe ihm die Beweisgründe dafür angeführt; weiter ist meines Wissens nichts gewesen.«

»Dummkopf!« rief Rasumichin, ohne sich umzudrehen.

»Es müssen also doch wohl sehr ernste Gründe vorgelegen haben, wenn er wegen dieses einen Wörtchens so böse wurde!« meinte Porfirij lachend.

»Na ja, nun fängst du auch noch an, du Untersuchungskommissar du! Hol euch alle der Kuckuck!« rief Rasumichin ärgerlich, fing dann aber auf einmal selbst an zu lachen und trat mit wieder ganz vergnügtem Gesichte, als sei gar nichts vorgefallen, auf Porfirij Petrowitsch zu.

»Nun, abgetan! Ihr seid allesamt Narren. Also zur Sache: das hier ist mein Freund Rodion Romanowitsch Raskolnikow; erstens wünscht er deine Bekanntschaft zu machen, da er schon viel von dir gehört hat, und zweitens führt ihn eine kleine geschäftliche Angelegenheit zu dir. Ah, Sametow! Wie kommst du denn hierher? Seid ihr denn miteinander bekannt? Verkehrt ihr schon lange?«

›Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?‹ fragte sich Raskolnikow beunruhigt.

Sametow wurde anscheinend verlegen, jedoch nur ein klein wenig.

»Wir haben uns ja doch gestern bei dir kennengelernt«, antwortete er in ungezwungenem Tone.

»Na, da bleibt mir ja eine Mühe erspart: in der vorigen Woche hat er mir fortwährend zugesetzt, ich möchte ihn irgendwie mit dir, Porfirij, bekannt machen; und nun habt ihr einander auch ohne meine Beihilfe gründlich berochen . . . Wo ist denn dein Tabak?«

Porfirij Petrowitsch war im Hausanzuge: er trug einen Schlafrock, sehr saubere Wäsche und ausgetretene Pantoffeln. Er war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, etwas unter Mittelgröße, wohlgenährt und sogar mit einem kleinen Embonpoint ausgestattet, vollständig glattrasiert, mit kurzgeschorenem Haar auf dem großen, runden Kopfe, der hinten eine besonders hervortretende Wölbung zeigte. Sein dickes, rundes, etwas stumpfnasiges Gesicht hatte eine kränkliche, dunkelgelbe Farbe, dabei aber doch etwas Energisches und sogar Spöttisches. Dieses Gesicht wäre selbst gutmütig zu nennen gewesen, wenn dem nicht der Ausdruck der Augen widersprochen hätte; diese hatten einen feuchten, wässerigen Glanz und waren von fast weißen Wimpern bedeckt, die fortwährend zuckten, als ob sie jemandem zuzwinkerten. Der Blick dieser Augen stand in einem eigentümlichen Gegensatze zu der ganzen Figur, die etwas Weibisches an sich hatte; sie erhielt dadurch einen weit ernsteren Charakter, als ihn der erste Anblick hatte annehmen lassen.

Sobald Porfirij Petrowitsch hörte, daß der Besucher ein kleines geschäftliches Anliegen an ihn habe, bat er ihn sogleich, auf dem Sofa Platz zu nehmen, setzte sich selbst in die andre Ecke und wendete sich dem Besucher zu, mit dem Ausdrucke der Erwartung, daß nun unverzüglich die Darlegung des Anliegens erfolgen werde. Er bekundete dabei jene Art von forcierter und übermäßig ernster Aufmerksamkeit, die den andern zu bedrücken und zu verwirren geeignet ist, namentlich wenn er diese Eigenheit noch nicht kennt, und namentlich wenn das, was er auseinandersetzen will, nach seinem eigenen Urteile in gar keinem Verhältnisse zu der außerordentlich gespannten Aufmerksamkeit steht, mit der er beehrt wird. Aber Raskolnikow trug in kurzer, bündiger Darlegung klar und bestimmt sein Anliegen vor und war mit sich selbst so zufrieden, daß er die Zeit auch noch dazu benutzte, Porfirij recht genau zu betrachten. Auch Porfirij Petrowitsch wandte die ganze Zeit über kein Auge von ihm. Rasumichin hatte an demselben Tische ihnen gegenüber Platz genommen und folgte mit eifrigem Interesse und starker Ungeduld der Auseinandersetzung der Angelegenheit, wobei er fortwährend seine Augen von dem einen zum andern wandern ließ, was sich etwas wunderlich ausnahm.

›Du Esel!‹ schimpfte Raskolnikow ihn im stillen.

»Sie müssen eine Eingabe an die Polizei machen«, antwortete Porfirij in rein geschäftlichem Tone, »dieses Inhalts: Sie hätten von dem und dem Vorfall gehört, also von diesem Morde, und bäten nun Ihrerseits, man möge den Untersuchungskommissar, in dessen Händen die Sache liege, davon benachrichtigen, daß die und die Gegenstände Ihr Eigentum seien und Sie den Wunsch hätten, sie einzulösen, . . . oder so ähnlich . . . Man wird Ihnen das übrigens aufsetzen.«

»Das ist ja eben die Sache«, erwiderte Raskolnikow, möglichst bemüht, verlegen zu scheinen, »daß ich augenblicklich gar keine Geldmittel besitze . . . und nicht einmal imstande bin eine solche Kleinigkeit . . . Sehen Sie, ich möchte jetzt nur die Erklärung abgeben, daß diese Gegenstände mir gehören und daß ich, sowie ich wieder Geld habe . . .«

»Nun, das macht ja keinen Unterschied«, antwortete Porfirij Petrowitsch, der Raskolnikows Eröffnung über seine pekuniäre Lage sehr kühl aufnahm. »Übrigens können Sie, wenn Sie wollen, in demselben Sinne auch direkt an mich schreiben, so: ›Nachdem ich das und das erfahren habe, bezeichne ich die und die Sachen als mein Eigentum und bitte . . .‹«

»Doch auf gewöhnlichem Papier? Nicht etwa auf Stempelpapier?« unterbrach ihn Raskolnikow hastig, um wieder sein Interesse für die pekuniäre Seite der Angelegenheit hervorzukehren.

»Oh, auf ganz gewöhnlichem!«

Plötzlich, so schien ihm, sah ihn Porfirij Petrowitsch mit unverhohlenem Spotte an; denn er kniff die Augen zusammen, und es machte den Eindruck, als ob er ihm zuzwinkerte. Indessen war es Raskolnikow doch vielleicht nur so vorgekommen, da es nur einen Augenblick dauerte. Jedenfalls: etwas Derartiges war geschehen. Raskolnikow hätte darauf schwören mögen, daß er ihm – mochte der Teufel wissen, warum – zugezwinkert habe.

›Er weiß es!‹ Dieser Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Lappalien belästigt habe«, fuhr er, etwas aus der Fassung gebracht, fort. »Meine Sachen sind höchstens fünf Rubel wert; aber sie sind mir besonders teuer als Andenken an die Personen, von denen ich sie bekommen habe, und ich muß gestehen, als ich davon hörte, bekam ich einen großen Schreck . . .«

»Darum fuhrst du also auch gestern so auf, als ich zu Sossimow sagte, Porfirij nähme die Verpfänder ins Verhör?« warf Rasumichin mit unverkennbarer Absicht dazwischen.

Das war nicht mehr zu ertragen. Raskolnikow konnte sich nicht beherrschen und blitzte ihn mit seinen zornfunkelnden schwarzen Augen böse an. Aber sogleich kam er wieder zur Besinnung.

»Du machst dich wohl über mich lustig, Bruder?« wandte er sich an ihn mit geschickt gespielter Empfindlichkeit. »Ich gebe zu, daß ich in meiner Besorgnis um diese Sachen, die in deinen Augen nur Schund sind, vielleicht zu weit gehe; aber darum braucht man mich noch nicht für egoistisch oder habgierig zu halten; in meinen Augen sind diese beiden geringwertigen Gegenstände eben durchaus kein Schund. Ich habe dir schon vorhin gesagt, daß diese silberne Uhr, die allerdings nur einen sehr geringen materiellen Wert hat, das einzige Stück ist, das aus der Hinterlassenschaft meines Vaters übrig ist. Über mich kannst du meinetwegen lachen; aber meine Mutter ist jetzt hier angekommen«, hier wandte er sich auf einmal an Porfirij, »und wenn sie erführe«, er drehte sich schnell wieder zu Rasumichin und gab sich besondere Mühe, seiner Stimme einen zitternden Klang zu geben, »daß diese Uhr verlorengegangen wäre, so würde sie rein in Verzweiflung sein, kann ich dir sagen! Das ist bei Frauen nun einmal so!«

»Aber nein, nein! So habe ich es ja gar nicht gemeint! Ganz im Gegenteil!« rief Rasumichin tief gekränkt.

›Habe ich das auch gut gemacht?‹ überlegte Raskolnikow ängstlich im stillen. ›Kam es auch natürlich heraus? Habe ich auch nicht zu stark aufgetragen? Warum habe ich das von den Frauen gesagt?‹

»Ah, Ihre Frau Mutter ist hergekommen?« erkundigte sich Porfirij Petrowitsch.

»Ja.«

»Wann denn?«

»Gestern abend.«

Porfirij schwieg und schien etwas zu überlegen.

»Verlorengehen konnten Ihre Pfandstücke in keinem Falle«, fuhr er kühl und ruhig fort. »Ich habe schon lange erwartet, daß Sie zu mir kommen würden.«

Und als hätte er nichts Besonderes gesagt, stellte er bedächtig den Aschbecher vor Rasumichin hin, der die Asche von seiner Zigarette achtlos hatte auf den Teppich fallen lassen. Raskolnikow fuhr zusammen; aber Porfirij schien es nicht zu bemerken, sondern immer noch mit Rasumichins Zigarette seine Sorge zu haben.

»Was? Was? Erwartet hast du ihn? Hast du denn gewußt, daß auch er da etwas versetzt hatte?«

Porfirij Petrowitsch wandte sich direkt an Raskolnikow:

»Ihre beiden Sachen, der Ring und die Uhr, waren bei ihr in ein und dasselbe Stück Papier eingewickelt, und auf dem Papier stand, deutlich mit Bleistift geschrieben, Ihr Name sowie auch das Datum, wann sie die Sachen von Ihnen erhalten hatte . . .«

»Das haben Sie sich ja aber außerordentlich scharf eingeprägt!« erwiderte Raskolnikow mit ungeschicktem Lächeln, wobei er sich große Mühe gab, ihm gerade in die Augen zu sehen; ohne genau zu überlegen, fuhr er fort: »Ich meine, weil es sich doch gewiß um sehr viele Verpfänder handelte, so daß es Ihnen schwer werden mußte, alle einzelnen im Gedächtnis zu behalten . . . Aber trotzdem erinnern Sie sich so genau an alle, und . . . und . . .«

›Das war dumm von mir! Sehr schwach! Warum habe ich das nur noch hinzugefügt?‹ dachte er.

»Beinahe alle Verpfänder haben sich jetzt schon gemeldet; nur Sie waren noch nicht gekommen«, antwortete Porfirij mit einem kaum bemerkbaren Anflug von Spott.

»Ich war nicht recht gesund.«

»Auch davon habe ich gehört. Ich habe auch gehört, daß Sie aus irgendwelchem Anlaß mit Ihren Nerven in Unordnung gekommen seien. Sehen Sie nicht auch heute etwas blaß aus?«

»Ich bin gar nicht blaß, . . . im Gegenteil, ich bin vollkommen gesund!« entgegnete mit plötzlich verändertem Tone Raskolnikow, unhöflich und ärgerlich.

Die Wut kochte in ihm, und er konnte ihrer nicht mehr Herr werden.

›In der Wut werde ich unbedacht reden!‹ fuhr es ihm wieder durch den Kopf. ›Warum martern sie mich denn eigentlich?‹

»Nicht recht gesund, sagt er, wäre er gewesen!« mischte sich Rasumichin ein. »Na, das ist denn aber doch eine Verdrehung! Bis gestern war er ohne Besinnung und phantasierte . . . Denk dir mal, Porfirij, er konnte sich kaum auf den Füßen halten; aber sowie wir, ich und Sossimow, gestern den Rücken gewandt hatten, zog er sich an, lief heimlich fort und trieb sich fast bis Mitternacht umher, und zwar in vollständigem Fieberzustande, sage ich dir; kannst du dir so etwas vorstellen? Ein ganz merkwürdiger Fall!«

»Wirklich in vollständigem Fieberzustande? Sagen Sie mal, ist das möglich?« rief Porfirij und schüttelte in einer Art, wie man das sonst bei Weibern sieht, den Kopf.

»Ach, dummes Zeug! Glauben Sie doch so etwas nicht! Übrigens glauben Sie es ja sowieso nicht!« Die letzten Worte ließ sich Raskolnikow in seiner Wut entschlüpfen.

Jedoch Porfirij Petrowitsch schien diese sonderbare Bemerkung gar nicht gehört zu haben.

»Aber dein Weggehen läßt sich doch überhaupt nur aus deinem Fieberzustande erklären!« ereiferte sich Rasumichin. »Warum bist du ausgegangen? Zu welchem Zwecke? Und warum gerade heimlich? Hattest du etwa damals deinen gesunden Verstand? Jetzt, wo alle Gefahr geschwunden ist, kann ich ja offen mit dir darüber reden!«

»Ich konnte die beiden gestern schlechterdings nicht mehr ausstehen«, wandte sich Raskolnikow an Porfirij und lächelte dabei dreist und herausfordernd, »darum lief ich ihnen davon, um mir eine andre Wohnung zu mieten, damit sie mich nicht auffinden könnten, und nahm eine beträchtliche Geldsumme mit. Herr Sametow hier hat das Geld gesehen. Nun, Herr Sametow, war ich gestern bei Verstande, oder hatte ich Fieber? Entscheiden Sie den Streit!«

Er hätte in diesem Augenblicke Sametow am liebsten erwürgt. Die Art, wie dieser ihn bisher schweigend angesehen hatte, brachte ihn auf.

»Meiner Ansicht nach redeten Sie sehr verständig und sogar schlau; nur waren Sie von einer übermäßigen Reizbarkeit«, erwiderte Sametow trocken.

»Und heute erzählte mir Nikodim Fomitsch«, sagte Porfirij Petrowitsch, »er habe Sie gestern zu sehr später Stunde in der Wohnung eines überfahrenen Beamten getroffen . . .«

»Na ja! Also die Geschichte mit diesem Beamten!« fiel Rasumichin ein. »Hast du dich dabei etwa nicht verrückt benommen? Sein letztes Geld hat er der Witwe zum Begräbnis geschenkt. Wenn du ihr beispringen wolltest, so hättest du ihr fünfzehn, meinetwegen zwanzig Rubel geben sollen; na, und wenn du nur drei Rubel für dich behalten hättest; aber nein, alle fünfundzwanzig hast du ihr hingegeben.«

»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, von dem du nichts weißt, und das war dann der Grund für meine Freigebigkeit gestern . . . Herr Sametow hier weiß, daß ich einen Schatz gefunden habe! . . . Verzeihen Sie nur«, wandte er sich mit zitternden Lippen an Porfirij, »daß wir Sie mit solchem gleichgültigen Gerede eine halbe Stunde lang belästigen. Sie möchten uns gewiß gern loswerden, nicht wahr?«

»Aber ich bitte Sie, ganz im Gegenteil, ganz – im – Gegenteil! Wenn Sie wüßten, wie lebhaft ich mich für Sie interessiere! Sie zu sehen und reden zu hören, hat für mich einen ganz besonderen Reiz, . . . und ich gestehe, es ist mir eine Freude, daß Sie endlich einmal die Güte hatten, zu mir zu kommen . . .«

»Na, dann setze uns doch wenigstens Tee vor; die Kehle ist einem ja ganz trocken geworden!« rief Rasumichin.

»Ein sehr guter Gedanke! Ich hoffe, daß die Herren alle teilnehmen. Willst du aber nicht etwas Substantielleres vor dem Tee haben?«

»Damit bleib mir vom Leibe!«

Porfirij Petrowitsch ging hinaus, um Tee zu bestellen.

In Raskolnikows Kopfe wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Er war im höchsten Grade gereizt.

›Das großartigste ist, daß sie nicht einmal heimlich tun und nicht einmal die äußere Form wahren mögen! Was hattest du denn für Anlaß, wenn du mich gar nicht kennst, mit Nikodim Fomitsch über mich zu sprechen? Folglich wollen sie es gar nicht mehr verhehlen, daß sie wie eine Hundemeute hinter mir her sind! Sie speien mir ganz offen ins Gesicht!‹ Er zitterte vor Wut. ›Nun, so schlagt doch einfach zu und spielt nicht erst lange mit mir wie die Katze mit der Maus! Das ist doch keine Manier, Porfirij Petrowitsch; das werde ich mir denn doch wohl von dir nicht gefallen lassen! Ich stehe auf und schleudere euch allen die volle Wahrheit ins Gesicht; dann könnt ihr sehen, wie ich euch verachte!‹ Er atmete nur mühsam. ›Wie aber, wenn mir das alles nur so vorkäme? Wenn das lediglich von mir ein Wahngebilde wäre und ich mich ganz und gar im Irrtum befände, mich nur aus Unerfahrenheit ärgerte und es nicht verstände, meine unwürdige Rolle durchzuführen? Vielleicht steckt gar keine Absicht hinter alledem? Alle ihre Worte klingen ganz gewöhnlich; aber es liegt doch noch etwas Besonderes darin . . . All das kann man in jeder Situation sagen; aber es hat doch einen Beigeschmack. Warum sagte er einfach: »bei ihr«? Warum setzte Sametow hinzu, ich hätte »schlau« geredet? Warum reden sie in einem solchen Tone? Ja, . . . dieser Ton . . . Rasumichin hat doch auch mit dabei gesessen; warum ist denn dem nichts auffällig erschienen? Diesem harmlosen Tölpel fällt eben nie etwas auf. Ich fiebere wieder ordentlich! . . . Hat mir Porfirij vorhin zugezwinkert oder nicht? Es ist gewiß Unsinn; wozu hätte er das tun sollen? Wollen sie meine Nerven reizen oder mich hänseln? Entweder ist alles ein Wahngebilde, oder sie wissen davon! Sogar Sametow ist frech . . . Ob Sametow wirklich frech ist? Sametow hat die Sache die Nacht über durchdacht. Das habe ich gleich geahnt, daß er das tun würde! Er benimmt sich hier wie zu Hause, und doch ist er zum erstenmal da. Porfirij behandelt ihn gar nicht wie einen Gast, sondern sitzt so, daß er ihm den Rücken zuwendet. Sie haben einander gründlich berochen, wie sich Rasumichin ausdrückt! Gewiß hat meine Angelegenheit dazu den Anlaß gegeben! Sie haben zweifellos, ehe wir kamen, von mir gesprochen! . . . Ob sie wohl von meinem gestrigen Besuche in der Wohnung wissen? Wenn sich nur alles recht schnell abspielte! . . . Als ich sagte, ich wäre gestern weggelaufen, um mir eine Wohnung zu mieten, ließ er diese Bemerkung vorbeigehen und knüpfte nicht daran an . . . Was ich da vom Wohnungssuchen gesagt habe, das war ganz geschickt gemacht: das kann mir später noch zustatten kommen! . . . Im Fieberzustande, wird es dann heißen! . . . Ha-ha-ha! Er weiß über den ganzen gestrigen Abend Bescheid! Nur von der Ankunft meiner Mutter wußte er nichts! . . . Und auch das Datum hat die alte Hexe mit Bleistift daraufgeschrieben! . . . Aber ihr irrt euch, ich ergebe mich nicht! Das sind ja noch keine Tatsachen; das sind nur leere Vermutungen! Nein, liefert mal erst Tatsachen! Auch mein Besuch in der Wohnung ist keine beweiskräftige Tatsache; der erklärt sich aus dem Fieberzustande; ich weiß schon, was ich ihnen zu sagen habe . . . Wissen sie das von der Wohnung? Ich gehe nicht fort, ehe ich das nicht erfahren habe! Weshalb bin ich nur hergekommen? Daß ich mich jetzt so ärgere, das könnte möglicherweise als ein tatsächlicher Schuldbeweis dienen! Scheußlich, daß ich so reizbar bin! Vielleicht ist es aber auch gerade gut; ich spiele ja die Rolle eines Kranken . . . Er tastet an mir herum. Er wird mich noch aus der Fassung bringen. Weshalb bin ich nur hergekommen?‹

Alles das fuhr ihm wie ein Blitz durch den Kopf.

Porfirij Petrowitsch kam in einem Augenblick wieder zurück. Er schien auf einmal ganz vergnügt geworden zu sein.

»Den gestrigen Abend bei dir spüre ich noch im Kopfe, Bruder, . . . das hat mich völlig kaputt gemacht!« sagte er in ganz anderm Tone als vorher zu Rasumichin.

»Nun, war es interessant? Ich verließ euch ja gestern gerade bei dem interessantesten Punkte. Wer hat denn gesiegt?« fragte dieser.

»Selbstverständlich niemand. Wir gerieten auf die uralten Streitfragen und schwebten in den Wolken.«

»Stelle dir mal vor, Rodja, auf was für ein Thema die gestern zu sprechen kamen: gibt es Verbrechen oder nicht? Ich sagte ihnen, sie wären verrückt geworden mit ihrem Debattieren!«

»Was ist dabei Verwunderliches? Das ist ja eine ganz gewöhnliche soziale Streitfrage«, antwortete Raskolnikow zerstreut.

»Die Frage war nicht in dieser Weise formuliert«, bemerkte Porfirij.

»Nicht ganz so, das ist richtig«, bestätigte ihm Rasumichin schnell, der nach seiner Gewohnheit in Eifer und Hitze geriet. »Höre mal zu, Rodja, und sage mir deine Meinung; du tust mir einen Gefallen damit. Ich wollte gestern bei dem Gerede der Kerle aus der Haut fahren und wartete ungeduldig auf dich; ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen würdest . . . Zuerst wurde die Ansicht der Sozialisten vorgebracht. Diese Ansicht ist ja bekannt: das Verbrechen ist ein Protest gegen die Abnormität der sozialen Einrichtungen – basta, weiter nichts; andre Ursachen werden nicht anerkannt, basta! . . .«

»Das stellst du doch ganz falsch dar!« rief Porfirij Petrowitsch. Er wurde sichtlich lebhafter und lachte fortwährend bei Rasumichins Anblicke, wodurch dieser immer noch mehr in Rage geriet.

»Andre Ursachen werden von ihnen nicht anerkannt!« unterbrach ihn Rasumichin erregt. »Ich stelle es nicht falsch dar! Ich will dir Bücher zeigen, die sie darüber geschrieben haben; immer heißt es bei ihnen: ›die Gesellschaft ist daran schuld‹, weiter nichts. Das ist ihr beliebtes Schlagwort! Daraus folgt dann ohne weiteres, daß, wenn es gelingt, die Gesellschaft normal einzurichten, mit dem Wegfall jedes Anlasses zu einem Proteste sofort auch alle Verbrechen verschwinden und alle Menschen im Nu gerecht werden. Aber die Natur wird von ihnen nicht in Betracht gezogen; die wird in diesen Erwägungen ignoriert, die wird nicht als Faktor in die Rechnung eingesetzt. Nach ihrer Ansicht verhält es sich nicht so, daß die Menschheit auf historischem, organischem Wege sich weiterentwickelt und schließlich zum Normalzustande gelangt, sondern ein soziales System, das Produkt eines mathematischen Kopfes, wird sofort die ganze Menschheit in Ordnung bringen und sie im Nu gerecht und sündlos machen, schneller als jeder organische Prozeß, ohne jede historische und organische Entwicklung! Daher haben sie auch eine solche instinktive Abneigung gegen die Geschichte; ›die Geschichte‹, sagen sie, ›ist ein Gemenge von Schändlichkeiten und Dummheiten‹, und erklären alles nur aus der Dummheit. Darum haben sie auch eine solche Abneigung gegen den organischen Lebensprozeß: eine lebendige Seele brauchen sie nicht! Eine lebendige Seele verlangt zu leben; eine lebendige Seele fügt sich nicht in einen Mechanismus; eine lebendige Seele ist mißtrauisch; eine lebendige Seele opponiert! Aber den Menschen, der in ihr System paßt, den kann man aus Kautschuk machen; und wenn er auch einen Kadavergeruch hat – dafür ist er auch nicht lebendig, dafür ist er auch willenlos, dafür ist er auch sklavisch und rebelliert nicht. Kurz, sie denken an nichts als an die Aufführung der Mauern und die Anordnung der Korridore und Zimmer in ihrer großen Phalanstère. Die Phalanstère ist fertig; aber die menschliche Natur dafür passend zu machen, damit sind sie noch nicht fertig. Die menschliche Natur will leben; sie hat ihren organischen Entwicklungsprozeß noch nicht abgeschlossen; sie auf den Kirchhof zu bringen, damit ist es noch zu früh! Mit der kahlen Logik kann man sich über die Natur nicht hinwegsetzen! Die Logik sieht vielleicht drei mögliche Arten voraus, wo es ihrer eine Million gibt! Diese ganze Million beiseite zu schieben lediglich mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit beim Aufbau des Systems, das ist allerdings die leichteste Lösung der Aufgabe. Das ist von einer verführerischen Übersichtlichkeit, und das Denken spart man dabei ganz. Und das ist die Hauptsache: man spart dabei das Denken! Das ganze geheimnisvolle Problem des Lebens läßt sich dann auf zwei Druckseiten abtun!«

»Na, nun ist er aber in Zug gekommen; jetzt schlägt er gehörig die Trommel! Wenn er nun aufhören soll, muß man ihm die Hände festhalten!« rief Porfirij lachend. »Stellen Sie sich das nur vor«, wandte er sich an Raskolnikow, »ebenso ging es gestern abend zu, und immer sechs Stimmen zugleich, und überdies hatte er die Streitenden vorher mit Punsch bewirtet – können Sie sich davon eine Vorstellung machen? – Nein, Bruder, du irrst dich: ›die Gesellschaft‹ ist bei den Verbrechen allerdings ein sehr wesentlicher Faktor; das kannst du mir glauben.«

»Das weiß ich selbst, daß sie ein wesentlicher Faktor ist; aber beantworte mir mal diese Frage: wenn ein Mann von vierzig Jahren ein zehnjähriges Mädchen mißbraucht, hat ihn dann ›die Gesellschaft‹ dazu genötigt?«

»Nun, wenn man es genau nimmt, trägt vielleicht auch daran ›die Gesellschaft‹ mit die Schuld«, bemerkte Porfirij mit auffälligem Ernste. »Ein Verbrechen an einem kleinen Mädchen läßt sich sehr wohl auf ›die Gesellschaft‹ als Ursache zurückführen.«

Rasumichin wurde ordentlich wütend.

»Na«, schrie er, »wenn du willst, so werde ich dir sofort beweisen, daß die weiße Farbe deiner Wimpern einzig und allein daher kommt, daß der Moskauer Glockenturm Iwan Welikij zweihundertfünfzig Fuß hoch ist, und ich will dir das klar, genau, progressiv und sogar mit liberaler Nuance beweisen. Dazu mache ich mich anheischig. Nun, willst du wetten?«

»Ich nehme die Wette an! Wir wollen doch mal hören, wie er das beweisen wird!«

»Ach, er tut ja immer nur so, der Kerl!« rief Rasumichin, vom Stuhle aufspringend, mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Es lohnt sich gar nicht, mit dir über etwas zu reden! Das ist alles bei ihm Verstellung; du kennst ihn bloß noch nicht, Rodja! Auch gestern nahm er für die Verfechter dieser Ansicht Partei, nur um sie alle zum Narren zu halten. Und was er gestern für Zeug zusammengeredet hat, o Gott, o Gott! Und die hatten ihre helle Freude an ihm! . . . Solche Verstellung ist er imstande vierzehn Tage lang durchzuführen. Im vorigen Jahre – ich weiß nicht, wie er dazu kam – redete er uns ein, er wolle Mönch werden; zwei Monate lang blieb er bei dieser Behauptung! Vor kurzem wollte er uns weismachen, er würde sich verheiraten; es wäre alles schon zur Hochzeit bereit. Sogar einen neuen Anzug ließ er sich machen. Wir gratulierten ihm schon. Keine Braut, nichts war da; alles Flunkerei!«

»Das ist wieder eine Verdrehung von dir! Den Anzug hatte ich mir schon vorher machen lassen. Eben dieser neue Anzug brachte mich erst auf den Gedanken, euch alle hinters Licht zu führen.«

»Sind Sie wirklich ein solcher Meister in der Kunst, sich zu verstellen?« fragte Raskolnikow lässig.

»Sie glauben es wohl nicht? Warten Sie nur, ich werde Sie auch noch einmal anführen – ha-ha-ha! Nein, wissen Sie, ich wollte Ihnen noch etwas im Ernste sagen. Wir reden hier über Streitfragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleine Mädchen usw.: dabei ist mir jetzt ein Aufsatz von Ihnen eingefallen, der mich übrigens schon immer interessiert hat. ›Über das Verbrechen‹ oder wie Sie ihn betitelt haben; ich habe die Überschrift vergessen, ich besinne mich nicht darauf. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst zu lesen.«

»Meinen Aufsatz? In der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst?« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe allerdings vor einem halben Jahre, als ich die Universität verließ, durch die Lektüre eines Buches angeregt, einen solchen Aufsatz geschrieben; aber ich habe ihn damals der Wissenschaftlichen Wochenschrift und nicht der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst eingereicht.«

»Aber erschienen ist er in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst.«

»Die Wissenschaftliche Wochenschrift ging ein; darum wurde er nicht gedruckt . . .«

»Ganz richtig; aber die Wissenschaftliche Wochenschrift wurde bei ihrem Eingehen mit der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst verschmolzen, und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten in der letzteren. Haben Sie das nicht gewußt?«

Raskolnikow wußte wirklich nichts davon.

»Aber ich bitte Sie! Sie können doch von der Zeitschrift ein Honorar für Ihren Aufsatz verlangen! Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie leben so zurückgezogen, daß Ihnen nicht einmal Dinge, die Sie direkt angehen, bekannt sind. Was ich Ihnen gesagt habe, ist eine Tatsache!«

»Hurra, Rodja! Ich habe auch nichts davon gewußt!« rief Rasumichin. »Ich gehe noch heute in den Lesesaal und lasse mir die Nummer geben! Vor zwei Monaten ist es gewesen? Weißt du das Datum, Porfirij? Nun, das tut nichts; ich werde den Aufsatz schon finden. Das ist ja famos! Und davon sagt er einem nichts!«

»Woher haben Sie denn erfahren, daß der Aufsatz von mir war? Er war doch nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«

»Das habe ich nur zufällig erfahren, und erst in diesen Tagen. Vom Redakteur; ich bin mit ihm bekannt . . . Der Aufsatz hat mich außerordentlich interessiert.«

»Soweit ich mich erinnere, erörterte ich den Seelenzustand des Verbrechers während seiner ganzen Beschäftigung mit dem Verbrechen.«

»Jawohl, und Sie behaupten, daß die eigentliche Ausführung des Verbrechens immer von einem Krankheitszustande begleitet sei. Sehr originell, in der Tat; aber . . . was mich interessierte, war eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein Gedanke, den Sie am Ende Ihres Aufsatzes äußern, aber leider nur andeuten, ohne ihn klar auszuführen . . . Kurz, wenn Sie sich erinnern, es wird dort darauf hingedeutet, daß es auf der Welt Individuen gibt, die allerlei Exzesse und Verbrechen begehen können, . . . das heißt, nicht bloß können, sondern ein Recht dazu haben, und daß für sie die Gesetze nicht geschrieben sind.«

Raskolnikow lächelte über diese gewaltsame, absichtliche Entstellung seines Gedankens.

»Wie? Was ist das? Ein Recht, Verbrechen zu begehen? Aber doch nicht, weil ›die Gesellschaft‹ daran schuld wäre?« erkundigte sich Rasumichin ganz erschrocken.

»Nein, nein, nicht eigentlich deswegen«, antwortete Porfirij. »Der Kern der Sache ist, daß in Herrn Raskolnikows Aufsatze alle Menschen in gewöhnliche und außerordentliche eingeteilt werden. Die gewöhnlichen sind zum Gehorsam verpflichtet und haben kein Recht, das Gesetz zu überschreiten, eben deswegen, weil sie nur gewöhnliche Menschen sind. Aber die außerordentlichen haben das Recht oder gar die Pflicht, allerlei Verbrechen zu begehen und in jeder Weise das Gesetz zu übertreten, eben darum, weil sie außerordentliche Menschen sind. So steht es ja wohl in Ihrem Aufsatze, wenn ich nicht irre?«

»Aber wie denn? So kann es doch unmöglich dastehen?« murmelte Rasumichin verblüfft.

Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte gleich von vornherein durchschaut, wie die Sache lag und wohin er gebracht werden sollte; seinen Aufsatz hatte er ganz gut im Gedächtnis. Er beschloß, die Herausforderung anzunehmen.

»Ganz so steht es allerdings nicht in meinem Aufsatze«, begann er schlicht und bescheiden. »Indessen gebe ich zu, daß Sie den Gedanken annähernd richtig wiedergegeben haben, und wenn Sie das gern hören, sogar vollständig richtig . . .« (Er tat so, als mache es ihm Vergnügen, zuzugeben, daß die Wiedergabe vollständig richtig sei.) »Der Unterschied ist nur der, daß ich gar nicht behaupte, außerordentliche Menschen müßten und sollten unter allen Umständen allerlei Exzesse begehen, wie Sie sagen. Ich meine sogar, der Druck eines solchen Aufsatzes wäre gar nicht gestattet worden. Sondern ich habe ganz einfach darauf hingedeutet, daß ein außerordentlicher Mensch das Recht habe, . . . das heißt, nicht ein offizielles Recht, sondern sozusagen ein persönliches Recht, seinem Gewissen die Überschreitung gewisser Hindernisse zu gestatten, aber einzig und allein in dem Falle, wenn die Durchführung seiner Idee (die mitunter vielleicht der gesamten Menschheit Heil und Segen bringt) dies verlangt. Sie äußerten sich dahingehend, daß mein Aufsatz unklar wäre; ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Vielleicht irre ich mich nicht, wenn ich annehme, daß Ihnen dies erwünscht ist; nun schön! Meine Ansicht ist also folgende: Wenn die Entdeckungen Keplers und Newtons infolge irgendwelcher Umstände den Menschen schlechterdings nicht anders hätten bekannt werden können als dadurch, daß das Leben von einem, von zehn, von hundert usw. Menschen zum Opfer gebracht wurde, die der Veröffentlichung dieser Entdeckungen störend oder hindernd im Wege standen, so hätte Newton das Recht und sogar die Pflicht gehabt, . . . diese zehn oder hundert Menschen zu beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Menschheit bekannt zu machen. Daraus folgt jedoch durchaus nicht, daß Newton das Recht gehabt hätte, jeden beliebigen Menschen, der ihm gerade in die Quere kam, totzuschlagen oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Ferner entwickelte ich, meiner Erinnerung nach, in meinem Aufsatze den Gedanken, daß alle . . . nun, sagen wir zum Beispiel alle Gesetzgeber und Führer der Menschheit, von den ältesten angefangen, und dann weiter Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon und so fort – daß diese alle, ohne Ausnahme, Verbrecher waren, schon allein deswegen, weil sie durch die neuen Gesetze, die sie gaben, die alten, von den Vätern überkommenen und von der Gesellschaft für heilig erachteten Gesetze verletzten und natürlich auch vor Blutvergießen nicht zurückschraken, wenn allein dieses Blutvergießen (und es handelte sich dabei oft um ganz unschuldiges Blut, das heldenmütig bei der Verteidigung der alten Gesetze vergossen wurde) ihnen zur Durchführung ihrer Absichten helfen konnte. Es ist sogar beachtenswert, daß die allermeisten dieser Wohltäter und Führer der Menschheit skrupellos Ströme von Menschenblut vergossen haben. Kurz, ich kam zu dem Ergebnis, daß nicht nur die eigentlich großen Männer, sondern auch diejenigen, die nur einigermaßen fähig sind, neue Bahnen einzuschlagen, das heißt, die nur einigermaßen imstande sind, etwas Neues zu sagen, daß diese alle zufolge ihrer Natur Verbrecher sein müssen – selbstverständlich mehr oder weniger. Sonst würde es ihnen schwer werden, aus den alten Bahnen herauszukommen; und andrerseits, in den alten Bahnen zu verharren, damit können sie sich auch nicht bescheiden, wiederum zufolge ihrer Natur, und meiner Ansicht nach dürfen sie sich sogar nicht einmal damit bescheiden. Kurz, Sie sehen, daß bis dahin in meinen Ausführungen nichts besonders Neues liegt. Das alles ist schon tausendmal gedruckt und gelesen worden. Was meine Einteilung der Menschen in gewöhnliche und außerordentliche anlangt, so gebe ich zu, daß sie einigermaßen willkürlich ist; aber ich stelle ja auch keine bestimmten Zahlen auf. Wert lege ich nur auf meinen Hauptgedanken, und dessen Inhalt ist eben der, daß die Menschen nach einem Naturgesetze sich tatsächlich in zwei Klassen scheiden: in eine niedrige, die der gewöhnlichen Menschen, das heißt sozusagen das Material, das lediglich zur Fortpflanzung der Menschheit dient, und in eigentliche Menschen, das heißt solche, die die Gabe oder das Talent besitzen, in ihrem Wirkungskreise ein neues Wort auszusprechen. Unterabteilungen gibt es hier natürlich unzählige; aber die unterscheidenden Merkmale der beiden Klassen sind doch recht scharf ausgeprägt: die erste Klasse, also das Material, um einen zusammenfassenden Ausdruck zu gebrauchen, bilden diejenigen Menschen, die ihrer Natur nach konservativ und wohlgesittet sind, in ruhigem Gehorsam dahinleben und mit Vergnügen gehorsam sind. Meiner Ansicht nach haben diese auch die Pflicht, gehorsam zu sein, weil das ihre Bestimmung ist, und darin liegt für sie durchaus nichts Erniedrigendes. Die Vertreter der zweiten Klasse dagegen übertreten sämtlich das Gesetz; sie sind Zerstörer oder neigen wenigstens zur Zerstörung, je nach dem Maße ihrer Fähigkeiten. Die Verbrechen dieser Menschen sind selbstverständlich nach Grad und Art sehr verschieden; größtenteils verlangen sie, in sehr mannigfaltigen Erscheinungsformen, die Zerstörung des Bestehenden zum Zwecke der Erreichung von etwas Besserem. Sollte aber ein solcher Mensch im Interesse seiner Idee es als nötig erkennen, selbst über Leichen und durch Blut vorwärtszuschreiten, so kann er nach meiner Ansicht sich innerlich, in seinem Gewissen, selbst die Erlaubnis erteilen, auch durch Blut dahinzuschreiten, jedoch nur in dem Umfange, wie es zur Verwirklichung der Idee erforderlich ist – wohl zu merken. Nur in diesem Sinne rede ich in meinem Aufsatze von einem Rechte dieser Menschen, Verbrechen zu begehen (Sie erinnern sich, daß wir von einer juristischen Frage ausgingen). Übrigens ist kein Anlaß, sich über diese ganze Sache besonders aufzuregen; die große Masse erkennt dieses Recht der außerordentlichen Menschen fast niemals an, sondern köpft und hängt sie (mehr oder weniger) und erfüllt dadurch in durchaus rechtmäßiger Weise ihre konservative Bestimmung; nur ist der weitere Verlauf oft der, daß in den nachfolgenden Generationen ebendiese große Masse die Hingerichteten auf Piedestale stellt und feiert (auch hier setze ich hinzu: mehr oder weniger). Die erste Klasse ist stets die Beherrscherin der Gegenwart, die zweite die der Zukunft. Die ersten erhalten die Welt und vermehren sie numerisch; die andern bewegen die Welt und führen sie zum Ziele. Die einen und die andern haben eine völlig gleiche Existenzberechtigung. Kurz, nach meiner Ansicht haben alle ein gleich wohlbegründetes Recht; und: vive la guerre éternelle! Natürlich, bis das neue Jerusalem kommt!«

»Also glauben Sie doch, daß das neue Jerusalem einmal kommen wird?«

»Das glaube ich«, antwortete Raskolnikow fest. Er blickte bei diesen Worten, wie schon während seiner ganzen langen Darlegung, zu Boden, wo er sich einen Punkt auf dem Teppich ausgesucht hatte.

»Und . . . und . . . und glauben Sie an Gott? Verzeihen Sie meine dreiste Frage!«

»Ich glaube an ihn«, erwiderte Raskolnikow; dabei blickte er auf und sah Porfirij an.

»Und . . . und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?«

»J–ja. Wozu diese Fragen?«

»Glauben Sie daran im buchstäblichen Sinne?«

»Allerdings.«

»So, wirklich! . . . Nun, ich fragte nur so aus neugierigem Interesse; entschuldigen Sie. Aber wenn ich auf unser voriges Thema zurückkommen darf, gestatten Sie einen Einwand: die außerordentlichen Menschen werden doch nicht immer hingerichtet; manche haben doch auch ein ganz entgegengesetztes Los.«

»Sie meinen: sie triumphieren noch bei Lebzeiten? O ja, manche erreichen das noch bei Lebzeiten, und dann . . .«

»Dann fangen sie selbst an, hinzurichten?«

»Wenn es nötig ist, ja; und, wissen Sie, das ist eigentlich meist der Fall. Ihre Bemerkung war sehr scharfsinnig.«

»Danke. Aber nun, bitte, sagen Sie mir noch eins: wodurch soll man diese außerordentlichen Menschen von den gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es vielleicht schon bei der Geburt derartige Merkmale? Ich werfe diese Frage deshalb auf, weil hier doch möglichst große Klarheit, sozusagen eine mehr äußerliche Bestimmbarkeit erforderlich wäre; entschuldigen Sie die Besorgnis, die mir als einem im praktischen Leben stehenden, ordnungsliebenden Manne naheliegt; aber könnte man da nicht zum Beispiel eine besondere Kleidung einführen, oder daß sie irgendein Abzeichen trügen, etwa einen Stempel oder so etwas? Denn Sie werden selbst zugeben müssen, wenn es da zur Konfusion kommen sollte und einer aus der einen Klasse sich einbildete zur andern Klasse zu gehören und nun anfinge, ›alle Hindernisse zu beseitigen‹, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, dann würde doch . . .«

»Oh, das kommt sehr häufig vor. Diese Ihre Bemerkung ist sogar noch scharfsinniger als die vorige.«

»Danke.«

»Keine Ursache! Aber bedenken Sie, daß ein derartiger Irrtum nur von seiten der ersten Klasse möglich ist, das heißt, von Seiten der gewöhnlichen Menschen, wie ich sie mit einem vielleicht sehr wenig glücklich gewählten Ausdrucke genannt habe. Trotz der ihnen angeborenen Neigung zum Gehorsam, lieben (vermöge einer lebhaften Phantasie, wie sie selbst den Kühen nicht versagt ist) es dennoch sehr viele von ihnen, sich für Bahnbrecher und Zerstörer zu halten und sich auf neue Ideen zu kaprizieren, und zwar durchaus in gutem Glauben. Und diejenigen, die wirklich neue Werte schaffen, werden von ihnen dabei oft gar nicht beachtet und sogar als rückständig und niedrigdenkend geringgeschätzt. Aber eine erhebliche Gefahr kann meines Erachtens dadurch nicht hervorgerufen werden, und Sie haben wirklich keinen Anlaß zur Besorgnis; denn besonders weit geht diese Sorte von Menschen in ihren Exzessen niemals. Für ihr verblendetes Handeln könnte man ihnen ja manchmal die Rute geben, damit sie nicht vergessen, an welchen Platz sie gehören; aber auch nicht mehr. Auch bedarf es dabei gar nicht einmal eines Vollstreckers der Strafe; sie werden sich schon selbst die Rute applizieren, weil sie sehr moralisch sind: manche erweisen einander wechselseitig diesen Dienst, andere besorgen es bei sich eigenhändig . . . Sie legen sich dabei allerlei öffentliche Bußen auf – das macht sich sehr hübsch und erbaulich; kurz, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen . . . Dafür ist das Gesetz da.«

»Nun, wenigstens in dieser Hinsicht haben Sie mich einigermaßen beruhigt; aber da ist noch ein anderer heikler Punkt: bitte, sagen Sie doch, gibt es viele solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, also solche ›Außerordentlichen‹? Ich bin natürlich durchaus bereit, mich denen zu beugen; aber Sie müssen selbst zugeben, es wäre doch eine ängstliche Geschichte, wenn ihrer gar zu viele wären; nicht wahr?«

»Oh, auch darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Raskolnikow in demselben Tone fort. »Menschen mit neuen Ideen, ja selbst Menschen, die auch nur einigermaßen fähig sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt in außerordentlich geringer Anzahl geboren; es ist sogar geradezu merkwürdig, wie spärlich sie sind. Nur das eine ist klar: die Ordnung, in welcher die Menschen aller dieser Klassen und Unterabteilungen geboren werden, ist gewiß in bestimmter, genauer Weise durch ein Naturgesetz geregelt. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich zur Zeit unbekannt; aber ich glaube, daß es existiert und in der Folgezeit auch zu unserer Kenntnis gelangen kann. Das gewaltige Gros der Menschen, das Material, existiert in der Welt nur zu dem Zwecke, um schließlich durch eine Art von Anstrengung, durch einen bis jetzt noch geheimnisvollen Vorgang, vermittels irgendwelcher Kreuzung der Familien und Arten ein bestimmtes Resultat zu erzielen, nämlich einen einzigen, auch nur leidlich selbständig denkenden Menschen – sagen wir auf tausend einen – hervorzubringen. Mit größerer Selbständigkeit wird vielleicht einer auf zehntausend geboren (die Zahlen gebe ich nur beispielsweise, zur Veranschaulichung). Mit noch größerer einer auf hunderttausend. Von genialen Menschen kommt einer auf Millionen, und von den ganz großen Genies, die zur Vervollkommnung des Menschengeschlechtes beitragen, vielleicht eines auf viele tausend Millionen Menschen. Kurz, in die Retorte, in der sich dieser ganze Prozeß vollzieht, habe ich nicht hineingeschaut. Aber ein bestimmtes Gesetz existiert sicher und muß existieren; bloßer Zufall kann da nicht vorliegen.«

»Sagt mal, macht ihr beide nur Spaß?« rief Rasumichin endlich. »Wollt ihr euch wechselseitig zum besten haben, oder wie ist das? Sitzen die beiden Menschen da und machen sich einer über den andern lustig! Oder hast du im Ernst geredet, Rodja?«

Raskolnikow hob sein bleiches, beinahe trauriges Gesicht und sah ihn an, ohne zu antworten. Und einen merkwürdigen Eindruck machte auf Rasumichin im Gegensatze zu diesem stillen, traurigen Gesichte der unverhohlene, dreiste, verletzende Spott auf dem Gesichte Porfirijs.

»Nun, Bruder, wenn du wirklich im Ernste geredet hast, so . . . Du hast natürlich ganz recht, wenn du sagst, daß das nicht neu sei und daß wir es ähnlich schon tausendmal gelesen und gehört hätten; aber was tatsächlich an alledem originell und, zu meinem Schrecken, dein ausschließliches geistiges Eigentum ist, das ist die Erlaubnis, die du den Menschen erteilst, nach ihrem Gewissen Blut zu vergießen; und das tust du sogar mit einem wahren Fanatismus, nimm's nicht übel! . . . Das ist also wohl auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes. Diese, diese Erlaubnis, nach eigenem Gewissen Blut zu vergießen, die . . . die ist nach meiner Meinung schrecklicher, als es eine offizielle, gesetzliche Erlaubnis, Blut zu vergießen, sein würde . . .«

»Durchaus richtig, diese ist schrecklicher«, stimmte ihm Porfirij bei.

»Nein, da hast du dich von deinem Eifer hinreißen lassen! Da liegt ein Irrtum vor. Ich will deinen Aufsatz durchlesen . . . Du hast dich hinreißen lassen! So kannst du ja gar nicht denken . . . Ich werde es lesen.«

»In meinem Aufsatze steht das alles nicht; da sind nur Andeutungen gegeben«, erwiderte Raskolnikow.

»Jawohl, jawohl«, sagte Porfirij und rückte erregt auf seinem Stuhle hin und her, »jetzt ist es mir ziemlich klar geworden, wie Sie das Verbrechen ansehen; aber . . . entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit (ich belästige Sie gar zu sehr; ich schäme mich selbst) – sehen Sie mal: Sie haben mich vorhin recht beruhigt in bezug auf Fälle irrtümlicher Vermengung der beiden Klassen; aber . . . es beunruhigen mich dabei immer noch allerlei in der Praxis mögliche Fälle! Wenn nun ein Mann oder ein Jüngling sich einbildet, er sei ein Lykurg oder ein Mohammed – in spe natürlich – und nun munter beginnt, alle Hindernisse zu beseitigen . . . Er sagt sich, der Weg zum Ziele sei lang, und zur Zurücklegung dieses Weges brauche er Geld, . . . und nun fängt er an, sich das Geld zu diesem Wege zu beschaffen, . . . Sie verstehen?«

Sametow prustete in seiner Ecke plötzlich vor Lachen los. Raskolnikow wandte die Augen gar nicht zu ihm.

»Ich muß zugeben«, antwortete er ruhig, »daß solche Fälle nicht ausbleiben können. Dumme, eitle Menschen sind dieser Versuchung besonders ausgesetzt, namentlich die Jugend.«

»Sehen Sie wohl! Nun, und was dann?«

»Dann hat es auch noch nicht viel zu sagen«, antwortete Raskolnikow lächelnd, »ich bin doch jedenfalls nicht daran schuld. Es ist nun einmal so und wird nie anders werden. Der hier« (er wies auf Rasumichin) »sagte eben, ich gäbe die Erlaubnis zum Blutvergießen. Nun, was macht das? Die Gesellschaft hat sich doch durch Verschickung nach Sibirien, durch Gefängnisse, Untersuchungskommissare und Zuchthäuser genug und übergenug gesichert: wozu sich da also beunruhigen? Mag man den Verbrecher suchen!«

»Und wenn wir ihn finden?«

»Dann mag er bestraft werden.«

»Sie denken außerordentlich logisch. Und wie steht es mit seinem Gewissen?«

»Was kümmert Sie sein Gewissen?«

»Nun, ich frage nur so – aus Humanität.«

»Wer ein Gewissen hat, der mag leiden, wenn er zur Erkenntnis seines Irrtums kommt. Auch das ist eine Strafe für ihn, die noch zur Zuchthausstrafe hinzukommt.«

»Nun, und die wirklich Genialen«, fragte Rasumichin mit finsterer Miene, »also die, denen das Recht zu morden gegeben ist, die sollen gar nicht leiden, auch nicht für vergossenes Blut?«

»Was soll hier der Ausdruck ›sollen‹? Es handelt sich hier weder um eine Erlaubnis noch um ein Verbot. Mag ein solcher leiden, wenn ihm sein Opfer leid tut. Wo eine umfassende Erkenntnis und ein tief empfindendes Herz vorhanden sind, da bleiben auch Leid und Schmerz nicht aus. Die wahrhaft großen Menschen müssen, wie ich glaube, auf der Welt eine große Traurigkeit empfinden«, fügte er in düsterem Nachdenken hinzu, gar nicht im Gesprächstone.

Er blickte auf, sah alle nachdenklich an, lächelte und griff nach seiner Mütze. Er war gar zu ernst geworden im Vergleich mit der Lustigkeit bei seinem Eintritte, und er fühlte das. Alle standen auf.

»Na, mögen Sie nun auf mich schimpfen oder nicht, auf mich wütend werden oder nicht, ich kann nicht umhin, noch ein Wort hinzuzufügen«, sagte Porfirij Petrowitsch zum Schluß. »Gestatten Sie mir nur noch eine kleine Frage (ich mache mir Vorwürfe, Sie so zu belästigen); nur einen einzigen kleinen Einfall möchte ich aussprechen, nur um ihn nicht zu vergessen . . .«

»Schön, sagen Sie Ihren kleinen Einfall!« erwiderte Raskolnikow, der ernst und blaß vor ihm stand und wartete.

»Ich meine so: . . . Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich mich am passendsten ausdrücken soll . . . Der Einfall ist zu komisch, . . . aus dem Gebiete der Psychologie . . . Ich meine so: als Sie Ihren Aufsatz schrieben, da haben Sie selbst sich doch notwendigerweise, he-he-he, wenigstens ein ganz klein bißchen auch für einen außerordentlichen Menschen gehalten, der ›etwas Neues sprechen‹ könne, in dem Sinne, wie Sie diesen Ausdruck gebrauchen . . . Ist's nicht so?«

»Sehr möglich!« erwiderte Raskolnikow geringschätzig. Rasumichin machte eine Bewegung.

»Wenn nun dem so ist, hätten Sie sich wirklich selbst entschlossen, na, in einer bestimmten Lage, angesichts irgendwelcher Schicksalsschläge und Bedrängnisse oder auch zur Förderung des Wohles der ganzen Menschheit – hätten Sie sich entschlossen, über ein Hindernis hinwegzuschreiten? . . . Nun, zum Beispiel, zu morden und zu rauben?«

Wieder machte es den Eindruck, als zwinkere er ihm mit dem linken Auge zu und lache lautlos – genau wie eine Weile vorher.

»Wenn ich wirklich über ein Hindernis hinwegschritte, so würde ich es Ihnen natürlich nicht sagen«, antwortete Raskolnikow mit herausfordernder, hochmütiger Verachtung.

»Nicht doch, ich frage ja doch nur aus ganz harmlosem Interesse, eigentlich nur, um Ihren Aufsatz besser verstehen zu können, vom rein literarischen Gesichtspunkte aus.«

›Pfui, wie unverhohlen und unverschämt er redet!‹ dachte Raskolnikow mit Ekel.

»Gestatten Sie mir, Ihnen zu erklären«, entgegnete er trocken, »daß ich mich nicht für einen Mohammed oder Napoleon halte und überhaupt für keinen Menschen von solcher Art; da ich also ein derartiger Mensch nicht bin, so kann ich Ihnen auch keine befriedigende Auskunft darüber geben, wie ich handeln würde.«

»Nun, lassen Sie's gut sein; wer hält sich jetzt bei uns in Rußland nicht für einen Napoleon?« erwiderte Porfirij auf einmal in außerordentlich familiärer Redeweise. Sogar in seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.

»Wenn nur nicht auch so ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna in der vorigen Woche mit dem Beile totgeschlagen hat!« platzte der im Winkel sitzende Sametow heraus.

Raskolnikow schwieg und blickte Porfirij unverwandt und fest an. Rasumichin machte ein ingrimmiges, finsteres Gesicht; schon vorher war ihm manches seltsam vorgekommen; er blickte zornig um sich. Eine Minute verging in düsterem Schweigen. Raskolnikow wandte sich um, um fortzugehen.

»Wollen Sie schon gehen?« fragte Porfirij freundlich und streckte ihm überaus liebenswürdig die Hand hin. »Es ist mir sehr, sehr angenehm gewesen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Und was Ihr Gesuch anlangt, so seien Sie ganz unbesorgt. Schreiben Sie es nur so, wie ich Ihnen sagte. Das beste wäre, wenn Sie selbst einmal zu mir in mein Bureau kämen, . . . wenn es sich so macht, in diesen Tagen, . . . meinetwegen morgen. Ich bin so um elf Uhr bestimmt da. Dann wollen wir alles in Ordnung bringen . . . und uns ein bißchen unterhalten . . . Sie, als einer der letzten, die am Tatort gewesen sind, könnten uns auch vielleicht irgendwelche Mitteilung machen . . .«, fügte er mit der gutmütigsten Miene hinzu.

»Sie wollen mich amtlich, mit allen Formalitäten, vernehmen?« fragte Raskolnikow scharf.

»Wozu? Vorläufig ist das durchaus nicht erforderlich. Sie haben mich mißverstanden Sehen Sie, ich möchte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, . . . und ich habe schon mit allen andern Verpfändern gesprochen, . . . mit einigen habe ich auch ein Zeugenverhör angestellt, . . . und Sie, als der letzte . . . Ja, halt einmal!« rief er, als freue er sich über einen Gedanken, der ihm gekommen sei. »Da fällt mir ein, . . . wie hatte ich es nur vergessen können! . . .« wandte er sich an Rasumichin. »Du hast mir doch damals von diesem Nikolai die Ohren vollgeredet, . . . na, ich weiß ja selbst, weiß ja selbst«, wandte er sich zu Raskolnikow, »daß der Bursche unschuldig ist; aber was sollte ich tun? Und auch den Dmitrij habe ich belästigen müssen . . . Also die Sache ist die, um mich kurz zu fassen: als Sie damals auf der Treppe vorbeikamen, . . . erlauben Sie, Sie waren doch zwischen sieben und acht Uhr dort?«

»Jawohl!« antwortete Raskolnikow und sagte sich in demselben Augenblicke mit einem unbehaglichen Gefühle, daß er diese Antwort nicht hätte zu geben brauchen.

»Also, als Sie zwischen sieben und acht Uhr auf der Treppe vorbeikamen, haben Sie da nicht im ersten Stockwerk, in einer offenstehenden Wohnung – erinnern Sie sich? – zwei Gesellen oder wenigstens einen von ihnen gesehen? Sie waren da mit Anstreichen beschäftigt; haben Sie sie nicht bemerkt? Das ist für die beiden Leute sehr, sehr wichtig! . . .«

»Anstreicher? Nein, ich habe keine gesehen . . .«, antwortete Raskolnikow langsam, als ob er in seinen Erinnerungen herumsuche; gleichzeitig spannte er, fast erliegend unter der Qual, seine ganze Geisteskraft an, um möglichst schnell zu erkennen, worin eigentlich die Falle bestand, und um ja nichts zu übersehen. »Nein, ich habe keine Gesellen gesehen, und eine solche offenstehende Wohnung habe ich auch nicht bemerkt . . . Aber ich erinnere mich, daß im dritten Stockwerk« (er hatte die Falle jetzt vollständig erkannt und triumphierte) »ein Beamter aus seiner Wohnung auszog . . . gegenüber von Aljona Iwanownas Wohnung, . . . daran erinnere ich mich, . . . daran erinnere ich mich ganz deutlich; . . . Soldaten trugen ein Sofa hinaus und drückten mich dabei gegen die Wand; . . . aber Anstreicher, nein, ich kann mich nicht erinnern, daß Anstreicher dagewesen wären, . . . und eine offenstehende Wohnung habe ich auch nirgends gesehen. Nein, nirgends . . .«

»Aber was redest du denn eigentlich, Porfirij!« rief Rasumichin, der sich nun auch besonnen und die Sache überlegt hatte. »Die Anstreicher haben ja doch am Tage des Mordes dort gearbeitet, und er war zwei Tage vorher da! Wie kannst du nur so fragen?«

»Donner ja! Das habe ich verwechselt!« rief Porfirij und schlug sich vor die Stirn. »Hol's der Teufel, diese Geschichte macht mich noch ganz kopfverdreht!« mit diesen Worten wandte er sich, wie um Entschuldigung bittend, an Raskolnikow. »Es ist für uns von größter Wichtigkeit, zu erfahren, ob jemand die beiden Leute zwischen sieben und acht in der Wohnung gesehen hat, und da bildete ich mir jetzt eben ein, Sie könnten uns vielleicht Auskunft geben . . . Ich habe es rein verwechselt!«

»Man muß eben seine Gedanken mehr zusammennehmen«, bemerkte Rasumichin ingrimmig.

Diese letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesprochen. Porfirij Petrowitsch begleitete sie außerordentlich liebenswürdig bis an die Tür. Beide traten finster und mürrisch auf die Straße hinaus und sagten während der ersten Schritte kein Wort. Raskolnikow holte aus tiefster Brust Atem.


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