Egbert Carlssen
Ein Stadtjunker in Braunschweig
Egbert Carlssen

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Erstes Buch.

Die beiden Bürgermeister.

Erstes Kapitel

Im Gewitter

Die Sonne neigte sich dem Untergange zu, der kurze Herbsttag ging zu Ende, Aber es war kein Herbsttag gewesen, wie sie sonst der September bringt, voll sonnigen Glanzes, doch auch voll köstlich erfrischender Luft; man hätte sich im Juli wähnen können, eine solch' drückende Schwüle herrschte. Im Westen stand eine düstere Wolkenwand, welcher die Sonne entgegensank, glühende Pfeile versendend, wie bestrebt, die kurze Zeit ihrer Herrschaft noch recht auszunützen. Und als hätten diese glühenden Pfeile gezündet, so strahlten in feurigem Glanze die Turmkreuze der Stadt Braunschweig und auch wohl hie und da ein Fenster in den Türmen, welche in gleichmäßigen Abständen die Stadtmauer krönten. Am östlichen Horizont aber erschienen in wunderbarer Klarheit die Hügelketten des Elme-Waldes in sanften Wellenlinien, so nahe dem Auge gerückt, daß man glauben mochte, in einer halben Stunde sie zu erreichen.

Zwischen den Stoppelfeldern schritt langsam der Stadt zu ein jugendliches Paar, er im enganliegenden hellblauen Scheckenrock, am lose über die Lenden herabhängenden Gürtel den kurzen Dolch, auf der Schulter die Armbrust – sie im braunroten, den Oberkörper nicht minder eng umschließenden Gewande, einen leichten Mantel mit roter Gugel über den Arm tragend. Sie hielt den Kopf etwas vornübergeneigt, während er eifrig auf sie hineinsprach, um ihren Mund lag ein stilles Lächeln, und als sie ihn jetzt ansah und mit einem freundlichen, ja herzlichen Blick bestätigend sagte: »Gewiß waren es schöne Zeiten« – da war ihr Antlitz rosig überglänzt, als wie vom Widerschein der alten schönen Zeiten.

»Und dann, Ilse«, fuhr er lebhaft fort, »wißt Ihr wohl noch, als Ihr auf dem Birnbaume saßet, auf dem großen, hinten im Garten? Ihr waret immer höher und immer höher hinauf geklettert, eine Birne hoch oben lockte Euch gar so sehr – und als Ihr sie gepflückt und verzehrt hattet, nun, da wußtet Ihr nicht, wie wieder herunter kommen, denn hinaufsteigen ist schon leichter, als herunterklettern; da fingt Ihr an zu schreien –«

»Zu schreien, Rolef? Geschrieen habe ich nicht.«

»Nun, nun, sagen wir also rufen. Ihr rieft: Rolef –«

»Ich fragte nur: wie komme ich wohl wieder herunter?« Das rosige Antlitz senkte sich tief herab, war die Rosenfarbe doch zu glühendem Purpur geworden.

»Nun also, Ihr fragtet«, wiederholte Rolef, »wie komme ich wohl wieder herunter. Und zur Antwort kletterte ich Euch nach und brachte Euch glücklich auf festen Grund und Boden.«

Ilse erwiderte nichts; erst nachdem sie eine Zeit lang schweigend neben ihm gegangen, hob sie den Kopf und ihn ruhig ansehend sagte sie: »Das geht allen Leuten so, daß sie sich gern ihrer Kinderjahre erinnern.«

Es lag etwas Abweisendes in den Worten, aber Rolef bemerkte das nicht oder wollte es nicht bemerken, denn er erwiderte: »Nur dann, wenn sie sich auch gern derjenigen erinnern, mit denen sie diese verlebt haben.«

Aber die Bemerkung hatte Jungfrau Ilse nun eben gar nicht hören wollen. Das Glück ihrer Kinderjahre sollte nichts Besonderes sein, weil Rolef teil daran gehabt. Und nun stellte er seinen Anteil daran gar als dasjenige hin, um dessentwillen sie gern an jene Zeit zurückdachte. Die Anmaßung mußte bestraft werden.

»Weiß nicht, ob Ihr recht habt, Rolef Doring«, sagte sie mit kühlem Achselzucken und hochmütigem Lächeln, »aber ich meine, dann könnte Euch die Erinnerung eben nicht angenehm sein. Oder denkt Ihr gern zurück an meinen Vetter, den Junker Vörsfelde? Wißt Ihr noch, wie oft Ihr seine schwere Hand habt fühlen müssen?«

Rolef biß sich auf die Lippen. Der Junker Vörsfelde war freilich keine angenehme Erinnerung. Um einige Jahre älter als Rolef und daher demselben an körperlichen Kräften überlegen, aber beschränkten Geistes, streitsüchtig und übelwollend, hatte der Junker den jüngeren Spielgenossen oft genug seine schwere Hand fühlen lassen. Und wäre es die schwere Hand noch allein gewesen! Aber wie viel höhnische Bemerkungen, wie viel Spott und Stichelreden hatte Rolef in Ilses Gegenwart von dem Übermütigen hinnehmen müssen. Und Ilse hatte ihn dann nicht einmal bedauert, sondern wohl gar noch dazu gelacht. Nein, der Junker Vörsfelde war keine angenehme Erinnerung.

Und eben dessen Gestalt jetzt herauf zu beschwören! Aber so ging es immer, wenn er mit Ilse zusammen war. Erst war sie freundlich, ja herzlich, aber ging er dann darauf ein und schlug auch einen vertraulicheren Ton an, so ward sie plötzlich eine andere und aus der Jugendfreundin ward die stolze Bürgermeisterstochter. Warum er nur immer von neuem so mit sich spielen ließ? Er warf einen prüfenden Blick auf die schlanke Gestalt, welche an seiner Seite dahin schritt. Wie sie so anmutig den Kopf trug! Und wie anmutig war dieser Kopf selbst, war die ganze holde Erscheinung. Ach, er wußte wohl, warum er des Spiels nicht überdrüssig wurde!

Die Sonne sank tiefer, und höher stieg die schwarze Wolkenwand. Ein Luftzug erhob sich und schwoll allmählich zu einem starken Winde an. Aber derselbe hatte nichts Erfrischendes, er war heiß wie die übrige Luft und wühlte am Wege Staubwolken auf. Doch unser Paar verschmähte es, seine Schritte zu beschleunigen, vor ihnen lag noch glänzender Sonnenschein, die verderbendrohenden Wolken waren in ihrem Rücken.

»Wollten der Junker Vörsfelde und ich uns jetzt mit einander messen«, erwiderte Rolef auf Ilses letzte Worte, »so möchte der Ausgang vielleicht ein anderer sein als damals, wo er den Vorteil älterer Jahre für sich hatte.« »Er sich mit Euch messen«, meinte Ilse achselzuckend, »er ist zum Schilde geboren.«

»Oho und wir Dorings nicht? Wir sind freie Leute von Alters her, so gut als die Vörsfeldes. Wir sitzen auf freiem Eigen seit Menschengedenken, ehe noch die Herzoge hier ihre Burg bauten. Die Vörsfeldes aber sind Dienstmannen geworden und haben ihr Eigen den Herzogen zu Lehen aufgetragen.«

Ilse lächelte überlegen, »Aber beim Turnier in Göttingen«, spottete sie, »seid Ihr Stadtjunker doch nicht zugelassen.«

Das Blut stieg Rolef zu Kopf. »Weil sie uns fürchten«, rief er, »und weil sie uns hassen. Ja zuckt nur hochmütig mit den Schultern. Sie fürchten die Städte und hassen sie deshalb. Uns Stadtjunker, wie Ihr höhnend sagt, aber am meisten, weil sie uns beneiden, die wir frei geblieben und reich geworden sind, während sie im Gefolge eines Herrn reiten oder als Wegelagerer auf der Straße liegen müssen.«

»Warum sprecht Ihr so laut?« fragte Ilse gelassen. »Meinetwegen braucht Ihr die Stimme nicht zu erheben, ich höre ganz gut.«

Immer stärker war der Wind geworden und immer größere Staubwolken hatte er aufgewirbelt. Nun schwand auch der Sonnenschein vor ihnen; denn die schwarzen Wolken hatten die Sonne erreicht und mit ihrem trüben Schleier verhüllt. Ein Tropfen fiel auf Ilses Hand. »Was ist das?« rief sie, sich umwendend. »Regen?«

Auch Rolef wandte sich. »Nun, das kann gut werden«, meinte er, die gewaltigen Wolken betrachtend, welche sich heranwälzten. Der Wind fuhr heulend über das Feld und jagte ihnen Staubmassen untermischt mit einzelnen Regentropfen ins Gesicht.

Aller Spott war von Ilses Antlitz verschwunden. »O weh«, klagte sie, schnell ihren Weg fortsetzend, »wir haben noch wenigstens eine Stunde; wie werde ich nach Hause kommen?«

»Naß«, meinte Rolef lakonisch.

»Das ist Euch freilich gleichgiltig. Aber so beeilt Euch doch. Warum bleibt Ihr denn stehen?«

»Ich sehe mir den Wagen drüben an.«

»Dazu ist's jetzt die Zeit.«

»Wenn Ihr darin säßet, könntet Ihr trocken nach Hause kommen.«

»Ihr verspottet mich, das ist nicht ritterlich.«

Rolef war an einer Biegung des Weges stehen geblieben, zu welcher derselbe durch eine sumpfige Wiese gezwungen wurde, die sich zur Oker hinabsenkte. Jenseit des Flusses stand der Wagen, dem Rolef seine Aufmerksamkeit widmete, ein hoher, vierräderiger Karren, mit einem leinenen Plan überspannt. Er stand in der That noch, der Fuhrmann mochte wohl im Schatten der hohen Buchen, welche drüben emporragten, und nahe dem kühlenden Wasser eine Rast gehalten haben. Jetzt durch das nahende Unwetter aufgeschreckt, spannte er seine Gäule wieder ein.

»Ich denke nicht an Spott«, versetzte der junge Mann. »Wenn Ihr den Wagen erreichtet, wäre Euch in der That am besten geholfen.«

»Das können wir auch im Gehen besprechen.«

»Doch nicht. Wenn wir diesen Weg weiter verfolgen, ist es unmöglich, den Wagen zu erreichen. Ihr müßt hier hinüber.«

Ein Blick genügte, um die Richtigkeit von Rolefs Behauptung zu erkennen. Jenseit des Flusses, wo der Karren hielt, führte die alte Landstraße von Goslar her, die Oker abwärts, auf Braunschweig zu. Der Weg aber, auf dem sich unser Paar befand, lief den Fluß aufwärts, um erst eine ziemliche Strecke weiter oberhalb auf einem Steg die Oker zu überschreiten und sich mit der Landstraße zu verbinden. Bis man auf diesem Umweg die Stelle erreichte, wo sich jetzt der Wagen befand, war derselbe ohne Zweifel längst fortgefahren.

Dies sah auch Ilse ein. Sie hemmte ihren Schritt und fragte: »Wie soll ich hier hinüber kommen? Kann ich fliegen?«

»Ich will Euch tragen.«

»Durch den Fluß?«

»Er ist hier nicht tief und wird mir kaum über die Kniee gehen. Auf Ehre und Gewissen bringe ich Euch gut hinüber.«

Immer dichter fielen die schweren Regentropfen, Blitze zuckten durch das Gewölk und der Donner rollte lang hin über den Himmel. Anno Domini 1373, in welchem unsere Erzählung beginnt, sagt man, seien Frauen und Mädchen weniger zart gewesen als heutzutage und weniger empfindlich gegen des Wetters Unbill. Mag sein, aber sonderlich erbaut wird auch keine gewesen sein von der Aussicht, noch fast eine Stunde wandern zu müssen unter strömendem Regen, bei Donner und Blitz. Daher war Ilse auch schnell entschlossen.

»Kommt«, sagte sie kurz und schritt unverzagt in die sumpfige Wiese hinein, rüstig vorwärts, ob ihr auch Wasser und Schlamm manchmal bis über den Knöchel gingen. Am Ufer der Oker angekommen hob Rolef die schlanke Gestalt leicht empor und hielt sie fest in seinen kräftigen Armen. Dann stieg er hinein in den Fluß, welcher bald durchwatet war, in der That ging ihm das Wasser nicht weit über die Kniee. Als sie drüben angelangt waren, hatte der Fuhrmann das Anschirren seiner Pferde beendet und war im Begriff auf den Wagen zu klettern.

»Nach Braunschweig?« fragte ihn Rolef, welcher Ilse sanft hatte zur Erde gleiten lassen.

Der Fuhrmann nickte und faßte nach Zügel und Peitsche.

»Nehmt die Jungfrau mit, damit sie dem Unwetter entgeht.«

Der Fuhrmann ließ prüfend seine Blicke über Ilses Gestalt gleiten. Auch noch ein anderes Gesicht schaute bei dem Klang der fremden Stimme unter dem Plan hervor, ein rotbärtiges Gesicht mit zwei funkelnden graublauen Augen.

»Mein Vater wird's Euch Dank wissen«, sagte Ilse vortretend, »er ist der Altstadt Bürgermeister.«

»Für einen Menschen ist noch Platz«, meinte das bärtige Gesicht mit den funkelnden Augen.

Der Fuhrmann rückte zur Seite und Rolef half Ilse auf den Wagen. Ein Händedruck und ein freundlicher Blick belohnte ihn für seine Dienste. Dann zogen die Pferde an, der Fuhrmann schnalzte mit der Zunge und knallte mit der Peitsche, die Gäule fielen in einen schwerfälligen Trab und langsam entschwand das Gefährt Rolefs Blicken.


Es war nicht nur Zufall gewesen, daß Rolef Doring heute Ilse vam Damme begegnet war.

Rolef, welcher Ilses Thun und Treiben immer sehr viel Aufmerksamkeit schenkte, hatte in Erfahrung gebracht, daß dieselbe im Laufe des Nachmittages zu dem Meierhofe ihres Vaters hinausgehen würde. Da hatte es ihn auch aus den Mauern der Stadt getrieben, er hatte die Armbrust genommen und war über die Stoppelfelder gestreift. Doch wurde er dem Wilde heute nicht gefährlich, seine Aufmerksamkeit blieb lediglich durch die Beobachtung des Weges in Anspruch genommen, auf welchem Ilse vom Hofe zurückkommen mußte. Erst als er sie auf demselben erblickte, legte er einen Pfeil auf die Armbrust und sandte ihn aufs Geratewohl dem Himmel zu, um sich doch den Anschein zu geben, als sei er ganz vertieft ins edle Weidwerk. Dann trat er wie von ungefähr auf die Jungfrau zu, klagte über das Mißgeschick, welches ihn auf seiner heutigen Jagd verfolge, und den Faden der Unterhaltung weiterspinnend, schloß er sich ihr an, ohne daß irgend etwas Auffallendes dabei gewesen wäre. Das hatte sich alles ganz natürlich gemacht.

Rolef lächelte still vor sich hin, daß ihm dies so gut gelungen. Aber dann wurde er wieder ernst. Wie lange sollte das noch so fortgehen mit ihnen Beiden? Er konnte sich kein Leben denken ohne Ilse, wie sie ja auch dagewesen war und seine Sorge um sie und seine Liebe zu ihr, so weit seine Erinnerung reichte. Die vam Dammes und die Dorings gehörten beide zu den ältesten Geschlechtern der Stadt, zu jenen uralten Freien, deren Höfe neben und vor dem herrschaftlichen Dorfe Brunswick bestanden hatten und mit ihm zur Stadt Braunschweig zusammengeschmolzen waren, als, begünstigt durch die Kreuzung der großen Handelswege von Süd nach Nord, von Magdeburg nach Bardewik, und von West nach Ost, vom Rhein zur Elbe, Handel und Wandel dem bäuerlichen Leben ein Ende machten. Aber inmitten des wachsenden Handelgetriebes und des steigenden Reichtums bewahrten sie sich ihre Eigenart als Freisassen, sie saßen auf eigenem Erbe, nicht auf herrschaftlichem Boden, wie die Umwohnenden, und niemals war von ihnen Zins oder Bede gezahlt. Ohne die Vorteile zu verschmähen, welche der Handel ihnen bot, ja mit Geschick und Umsicht durch ihn die ererbte Wohlhabenheit zum Reichtum steigernd, blieben sie daneben Landwirte, und als ritterbürtig geachtet, nahmen sie als etwas Selbstverständliches das Regiment der Stadt in Anspruch. Nicht viele solcher Familien gab es noch in Braunschweig, wie die Dorings und vam Dammes.

Häufig im Laufe der Zeiten mit einander verschwägert, hatten sie fest zusammengestanden gegen oben und unten, sowohl gegen Eingriffe des Landesherrn, wie gegen die begehrlichen Gelüste der Gilden und gemeinen Leute, welche schon seit langem Teil am Regiment zu gewinnen trachteten. Als Bürgermeister der Altstadt hielten die zeitigen Häupter beider Familien die Zügel der Herrschaft in Händen – auch Rolefs Vater war Bürgermeister; wie wir wissen, waren die Kinder mit einander groß geworden und viele Augen in Braunschweig betrachteten sie schon als ein Paar. Wer hätte dem freudiger zugestimmt, als Rolef, aber niemand wußte auch besser als er, wie weit er noch von diesem Ziele entfernt war. Nicht nur das machte ihm Sorge, daß die frühere Einigkeit zwischen den Vätern in den letzten Jahren bedeutend abgenommen hatte, ja fast ins Gegenteil umgeschlagen war, das hätte seine Gedanken weniger in Anspruch genommen, wäre er nur Ilses sicher gewesen. Aber er hatte ja heute wieder erleben müssen, wie Ilse unvermutet den vertraulichen Ton mit einem hochmütig abweisenden wechselte, als erschrecke sie wie vor einem plötzlich auftauchenden Gespenst vor dem Gedanken, daß er ihr mehr sei oder jemals mehr werden könne, als ein anderer, ein Fremder. Oder war das nun einmal so ihre Art; war sie so kraus und launisch wie das wilde Harzwasser, die Prinzessin Ilse, welche schäumend und brausend ihren Weg sucht, vom Brocken hinab, hinunter zur Oker? –

Das Gewitter war jetzt ganz zum Ausbruch gekommen, in Strömen rauschte der Regen hernieder, Blitz und Donner folgten sich fast unmittelbar. Aber eben dies war geeignet, Rolef heiterer zu stimmen. Je ärger das Unwetter tobte, desto mehr freute er sich, daß er Ilse seiner Unbill noch rechtzeitig entzogen. Jetzt mußte der Wagen schon vor dem vam Dammeschen Hause halten, ja Ilse mußte schon ausgestiegen sein und konnte sich im schützenden Zimmer Glück wünschen zu ihrer schnellen Heimkehr. Da durchzuckte Rolef plötzlich ein Gedanke, welcher ihn unwillkürlich einen Augenblick still stehen lieh. Der Fuhrmann würde doch auch Ilse richtig vor ihrem elterlichen Hause absetzen? Die Männer im Wagen waren Fremde gewesen, Rolef hatte ihre Gesichter nie vorher gesehen. Sie hatten angegeben, sie führen nach Braunschweig, aber es war eine unsichere Zeit, viel Gesindel war unterwegs, Ilse war in ihrer Gewalt, wer stand ihm dafür, daß sie nicht am Stadtthore vorbei fuhren und einer der vielen Raubburgen in der Umgegend zueilten oder einem Schlupfwinkel diebischen Gesindels?

Die Jungfrau vam Damme war ein guter Fang, Ilse selbst hatte sich als Tochter des Bürgermeisters zu erkennen gegeben, also mochten die Schnapphähne hohes Lösegeld zu erpressen hoffen. Rolef wurde es siedend heiß bei dem Gedanken und dann lief es ihm wieder eiskalt über den Rücken. Er ging nicht mehr, er lief so schnell ihn seine Beine tragen mochten. Am Thore mußte er Gewißheit erhalten, ob der Wagen wenigstens in die Stadt eingebogen sei. Die Dunkelheit der Nacht brach schon herein, als er dasselbe erreichte, doch war die über den Stadtgraben führende Zugbrücke noch nicht aufgezogen. Auch die Thorflügel waren noch weit geöffnet und in der quer unter dem Walle sich durchziehenden Thorwölbung herrschte ungewöhnliches Leben. Da brannten rotglühende Pechfackeln, da glänzten blinkende Waffen, ja Rolef gewahrte sogar die stattliche Gestalt seines Vaters und daneben die kurze, dicke Figur des alten vam Damme, umgeben von Ratmannen, alle in festlichen Gewändern und geschmückt mit ihren goldenen Ketten. Die beiden Bürgermeister waren augenblicklich diejenigen, denen der Jüngling am wenigsten zu begegnen wünschte. Er hielt sich daher möglichst verborgen und spähte nach dem Thorwärter. Endlich ward er desselben habhaft. Aber als er ihm den fraglichen Wagen beschrieb und fragte, ob ein solcher hier durchs Thor gefahren sei, zuckte der Mann mit den Achseln und meinte, er könne sich dessen nicht erinnern.

Als Ilse das Gefährt bestiegen hatte, war ihr der hinterste Teil des Wagens angewiesen worden, wo sie vor dem Regen am geschütztesten sei. Den beiden Männern schenkte sie nach einer kurzen Musterung wenig Beachtung, dieselben saßen auf der vorderen Bank, der Jungfrau den Rücken zuwendend, sprachen leise mit einander und lachten auch wohl dazwischen. Monoton rauschte der Regen hernieder, tiefe Dämmerung herrschte unter dem dichten Plan des Wagens, es war ein Platz wie gemacht zum Denken und Träumen. Dem überließ sich denn auch Ilse und wir wollen nicht verschweigen, daß in diesen Träumen Rolef Doring eine große Rolle spielte, ja auch das wollen wir hinzusetzen, daß von den fürsprechenden und abweisenden Gedanken, welche in Ilse für und gegen den Jüngling stritten, die ersteren heute entschieden das Übergewicht hatten, so sehr, daß sie leise vor sich hinflüsterte: »Er ist doch ein herzensguter Mensch.« Und dabei errötete sie, trotzdem niemand die Worte gehört hatte.

Die Feuchtigkeit, welche allmählich auch durch die dichte Leinwand des Plans drang, störte Ilse aus ihrem Sinnen auf und ließ sie den Wunsch empfinden, bald aus ihrer immerhin noch recht unbehaglichen Lage befreit und unter dem schützenden Dache des elterlichen Hauses zu sein. »Sind wir noch nicht am Thor?« fragte sie die Männer, aber sie erhielt keine Antwort. Noch einmal fragte sie – lauter – wieder keine Antwort! Da beugte sie sich vor und berührte mit der Hand die Schulter des Rotbärtigen, indem sie zum dritten Male wiederholte:

»Sind wir noch nicht am Thor?«

Der Mann drehte sich um: »An welchem Thor?« fragte er.

»Nun, am Ludgeri-Thor, das ist das nächste.«

»Durch das fahren wir nicht.«

»So laßt mich dort aussteigen, wenn wir vorbei kommen.«

»Das geht nicht an, wir sind schon daran vorbei.«

»Schon daran vorbei?« wiederholte Ilse fragend und sah dabei forschend in das Gesicht des Rotbärtigen. Da durchzuckte sie ebenso plötzlich wie Rolef der Gedanke, daß die Männer falsches Spiel mit ihr spielten. Hastig warf sie sich zurück und riß am hinteren Ende des Plans. Das Leinen gab nach und ehe noch einer der Männer sie daran hindern konnte, war sie vom Wagen gesprungen. Zwar stürzte sie zu Boden, doch schnell wieder auf den Füßen, floh sie davon. Sie hörte, wie einer der Männer, der ebenfalls vom Wagen gesprungen, ihr etwas nachrief. Aber sie achtete nicht darauf, nur die Schritte des nacheilenden Verfolgers klangen ihr in die Ohren. Es war eine wilde Jagd, Ilses Vorsprung nur gering, ihre Kräfte denen des Rotbärtigen nicht gewachsen. Aber als sie nahe daran war zu verzweifeln, erreichten noch andere Töne Ilses Ohr und zwar von der entgegengesetzten Seite, Pferdegetrappel, Waffenklirren, Menschenstimmen, Da setzte sie die letzten Kräfte daran, und einen scheuen Blick zurückwerfend, gewahrte sie, daß ihr Verfolger stehen geblieben war, drohend die Hand nach ihr ausstreckte, dann Kehrt machte und hastigen Schrittes seinem Wagen zueilte. Sobald er denselben erreicht hatte, hieb der Fuhrmann auf die Pferde und das Gefährt verschwand in der Dämmerung des hereinbrechenden Abends.

Ilse blieb stehen und schöpfte tief Athem. Dann suchte sie sich zu orientieren. Das war nicht leicht bei den dunkelnden Abendschatten. Aber sie fand sich doch zurecht. Der Wagen war in der That, ohne daß Ilse es bemerkt, am Ludgeri-Thor vorbeigefahren, indem er, statt links in die Stadt einzulenken, zunächst die Straße nach Magdeburg eingeschlagen hatte, dann aber rechts von derselben auf einen Feldweg abgebogen war.

Auf diesem befand sich Ilse jetzt, jedoch nur in geringer Entfernung von der Landstraße. Die Jungfrau eilte mit rüstigen Schritten derselben zu. Auf ihr mochte sie trotz des hereinbrechenden Abends immerhin noch das Stadtthor erreichen, ehe dasselbe geschlossen und die Zugbrücke aufgezogen wurde. Aber kaum war sie am Kreuzweg angelangt, da wurde sie durch einen neuen Anblick aufgehalten.

Um eine vorspringende Waldecke kam auf der Landstraße ein Trupp gewappneter Ritter in langsamem Schritt. Es waren dieselben, welche sich schon von Weitem durch den Hufschlag ihrer Pferde und das Klirren ihrer Waffen verraten hatten. Zwar hatten sie eben dadurch Ilses Rettung bewirkt, aber trotzdem waren sie für die Jungfrau eine neue Gefahr. Sie eilte deshalb, sich hinter einem an der Landstraße stehenden Busche zu verbergen, bis die Reiter vorüber seien.

Langsam kamen dieselben näher, jetzt ritt die Spitze des Zuges an ihr vorüber. Aber sei es nun, daß der Jungfrau, Kleid durch die Büsche schimmerte, sei es, daß sie bemerkt war, ehe sie sich hatte verbergen können, unbeachtet blieb sie nicht. Einer der Reiter lenkte vom Zuge ab, auf den Busch zu und schaute neugierig über denselben hinüber in Ilses angsterfülltes Antlitz.

Es war ein dickes rotes Gesicht, was unter dem offenen Eisenhelm hervorsah. Auf dem Helm spreizte sich ein silberner Greif, das Wappentier der Vörsfeldes. Für Ilse hätte es des Zeichens nicht bedurft, um in dem Neugierigen ihren Vetter, den Junker Vörsfelde zu erkennen.

»Um, des Himmels willen, Vetter, verratet mich nicht«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

»Vetter?« lachte der Geharnischte. »Ich weiß nur Eine in Braunschweig, die mich so nennen darf. Und die wird nicht abends – und doch – bei Sankt Magnus! – Ihr seid es, Base!«

Es kamen noch andere Reiter auf die Gruppe zu, Ilse blieb nichts übrig, als hinter dem Busch hervorzutreten, indem sie zu dem Junker sagte: »Ich vertraue auf Euren ritterlichen Schutz, Vetter.«

Auch der Reiter an der Spitze des Zuges hielt jetzt sein Pferd an und sah zu ihnen hinüber. »Den sichersten Schutz findet Ihr beim Herzog«, lachte Vörsfelde, und indem er sie bei der Hand faßte, führte er die halb Widerstrebende auf den vorderen Reiter zu. »Meine Base, des Bürgermeisters vam Damme Tochter«, sagte er, vor demselben anhaltend.

Ilse hatte in die Erde sinken mögen vor Scham, wie sie so dastand, den gaffenden Blicken der Ritter ausgesetzt, durchnäßt, mit Kot bespritzt. Aus der Schar der Gewappneten wurde manch spöttisches Wort laut, aber der, den Vörsfelde als den Herzog bezeichnet hatte, sah mit einem ernsten Blick im Kreise umher und sagte: »Der Bürgermeister vam Damme ist mir ein lieber Freund.« Da schwiegen die Spötter.

»Das Unwetter hat mich überrascht auf dem Rückwege von unserm Hofe«, stammelte Ilse.

»Wollt Ihr unser Geleit annehmen, Jungfrau«, sagte der Herzog, »so soll es mich freuen, Euch Eurem Vater zuzuführen.« Und auf einen Wink des hohen Herrn stieg der Junker Vörsfelde von seinem Gaul und hob die zitternde Ilse hinauf.

»Es ist der Herzog Ernst von Braunschweig«, raunte er ihr dabei zu.

Der Herzog ließ Ilses Pferd neben dem seinen führen. Er mochte wohl die Art seines Gefolges kennen und meinen, daß die Jungfrau vor spöttischen Reden am sichersten sei an seiner Seite. Und mit Wohlgefallen Ilses liebliches Antlitz betrachtend, sagte er:

»Wir wollen Eure Stadt besuchen und vor allem Euren Vater. Unseres Bruders Liebden, Herzog Magni fürstliche Gnaden, haben, wie Euch wohl nicht unbekannt, nach des Himmels Ratschluß den Tod gefunden auf dem Felde der Ehre. Und es sind manche unterwegs, welche mir rauben möchten, was mir von seinem Erbe gebühret von Gott und Rechts wegen. Da will ich mein Recht wahren, so weit meine Kräfte vermögen.«

Und der Herzog sprach noch mancherlei von seinem Recht und welche Hilfe er von ihrem Vater erhoffe und wo er ihn zuletzt gesehen und wie er vor langen Jahren bei ihm gewohnt in dem stattlichen Hause mit den sieben Türmen gegenüber dem Schuhhofe am Altstadt-Markte.

So näherten sie sich dem Stadtthor. Da faßte sich Ilse ein Herz und sagte: »Fürstliche Gnaden, so mein Vater Euer Freund ist, so solltet Ihr ihn nicht dadurch erschrecken, daß er mich plötzlich an Eurer Seite erblicke, und zwar in diesem Aufzuge. Seht, dort beginnen schon der Stadt Außenhäuser. Laßt mich hier absteigen, daß ich mich in einem derselben verberge, bis man Euch feierlich eingeholt hat; hinterher mag es mir dann gelingen, unbemerkt durchs Thor zu schlüpfen und meines Vaters Haus zu erreichen.«

Der Herzog lachte: »Wohl hätten wir Euch gern selbst Eurem Vater übergeben, aber Ihr habt recht, er möchte sich erschrecken und man hat uns gesagt, er sei stark beleibt geworden. Für beleibte Leute taugt aber der Schrecken nichts, er treibt ihnen das Blut zu Kopf. Thut deshalb, wie es Euch beliebt.«

Da dankte Ilse dem hohen Herrn mit freundlichen Worten und glitt schnell vom Pferde. Ihrem Vetter nickte sie nur flüchtig zu, dann verschwand sie in einem der niedrigen Häuser, welche zur Seite der Landstraße außerhalb des Thores standen. Dort mochte sie um so eher Unterkommen zu finden hoffen, als dasselbe einer früheren Magd des vam Dammeschen Hauses gehörte.


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