Egbert Carlssen
Ein Stadtjunker in Braunschweig
Egbert Carlssen

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Zweites Kapitel

Der Schuster von Lübeck

Voll Ungeduld hatten indessen Bürgermeister und Ratmannen in der Thorwölbung der Ankunft des Herzogs geharrt. Doch was war diese Ungeduld gegen die peinigende Unruhe, welche Rolef Doring quälte? Was sollte er thun, was beginnen? Wo sollte er anfangen zu suchen, wenn der Wagen mit Ilse wirklich nicht in die Stadt hineingefahren war? Aber der Thorwärter konnte ihn übersehen haben, zumal in der Unruhe, welche die Vorbereitungen zum Empfange des Herzogs verursacht hatten. An die Hoffnung klammerte er sich an und es war ein Glück für ihn, daß es ihm unmöglich wurde, durch die Menge, welche das Thor füllte, sich hindurch zu drängen und das vam Dammesche Haus aufzusuchen. Denn hätte er dort erfahren, daß Ilse immer noch nicht zurückgekehrt, so wäre auch diese letzte Hoffnung, an welche er sich so ängstlich klammerte, zerstört worden.

Das Unwetter war vorübergezogen, nun trug man auch Pechpfannen auf die Zugbrücke hinaus und zündete sie an, daß ihre rote Glut sich in dem ruhigen Wasser des Grabens spiegelte. Ja, es schritten noch Fackelträger über die Brücke hinaus und stellten sich vor derselben in weitem Umkreise auf. Und da klangen, als ob das Licht der Fackeln sie hervorgerufen, helle Trompetentöne aus der Dämmerung des Herbstabends heraus und ihnen antworteten vom Thore her die Stadtzinkenisten mit Zinken, Schalmeien, Posaunen und Zimbeln, wählend alle Glocken der Stadt in prachtvollem Chore zu läuten begannen. Von denen im Thore aber löste sich eine Gruppe ab, voran die beiden Bürgermeister der Altstadt, Tile vam Damme und Kort Doring, dann die Bürgermeister der anderen städtischen Gemeinden, der Altewik, des Hagens, des Sacks und der Neustadt, auch manche Ratsmannen und Ratsverwandte. Als dieselben die Brücke überschritten hatten, ritt ihnen gegenüber der Herzog mit seinem Gefolge in den von den Fackeln erhellten Lichtkreis. Voran vier Trompeter, von deren Instrumenten Wimpeln herabhingen mit den Leoparden des Herzogs, dem Lüneburger Löwen und dem silbernen sächsischen Pferde, hinter ihnen der Herzog, und ihm zur Linken, aber etwas zurück, sein Bannerträger, der graubärtige Ritter van Walmede, dann das übrige Gefolge, Ritter und Knappen.

An der Brücke aber schwenkten die Trompeter ab und der Herzog gab seinem Pferde die Sporen und sprengte auf die Gruppe der Bürgermeister und des Rats zu, während sein Gefolge sich zurückhielt. Da ergriff Tile vam Damme das Wort – war er doch nach seinem Amte derjenige, ›der des rades wort sprikt‹ – und begrüßte den Herzog in wohlgesetzter Rede. Der Letztere aber dankte leutselig, zog den Panzerhandschuh von der Rechten und reichte dem Bürgermeister die Hand. Auch den anderen, die da mit Tile vam Damme standen, nickte er freundlich zu und dann ritt er über die Brücke in das Thor hinein. Ihm folgten unmittelbar Bürgermeister und Ratmannen, dann erst Trompeter und Gefolge des Herzogs. Jenseit des Thores aber waren in den mit Fackeln erleuchteten Straßen die Gilden in unabsehbaren Reihen aufgestellt mit ihren Fahnenschwenkern. Und jedesmal, wenn der hohe Herr an einer Fahne vorbei kam, that der Fahnenschwenker sein Möglichstes, das ihm anvertraute schwere Banner hin und her zu schwingen, wie es die Regeln seiner Kunst erheischten. Und jedesmal bliesen dazu die Trompeter des Herzogs ein lustiges Stücklein.

So kam man auf den Altstadtmarkt, wo das Wohnhaus der vam Dammes, »das Haus mit den sieben Türmen« stand. Denn Herzog Ernst hatte das Anerbieten des Bürgermeisters angenommen, bei ihm zu wohnen. Konnte auch im alten Schlosse Heinrichs des Löwen nicht wohl prächtiger und bequemer untergebracht sein, als in diesem stolzen Gebäude. Hieß es doch nicht bloß »zu den sieben Türmen«, sondern es ragten in der That sieben Türme über dasselbe empor und dazwischen prangten hohe Giebel. Wie eine Burg stand es da inmitten der Stadt, und von der Pracht seiner inneren Einrichtung erzählten sich die Bürger Braunschweigs wundersame Dinge.

Wir lassen Tile vam Damme seinen erlauchten Gast in sein Haus geleiten und wenden uns zu einem anderen unweit stehenden Gebäude. Dasselbe konnte sich zwar an Pracht nicht mit dem Palaste des Bürgermeisters messen, doch konnte man es auch neben diesem nicht übersehen, man sah ihm an, daß es ein Haus von Bedeutung war. Und das war es auch in der That, der sogenannte »Schuhhof«, wo zwei der bedeutendsten Gilden Braunschweigs, die Schuster und die Gerber, ihren Mittelpunkt hatten. Hier wurden die sogenannten ›Morgensprachen‹ derselben gehalten, Versammlungen, in denen die inneren und äußeren Angelegenheiten der Gilden verhandelt wurden, hier kehrten die fremden Gewerksgenossen ein, hier war der Stapelplatz für fremde und einheimische Erzeugnisse des Handwerks, und in der geräumigen Schenkstube fand sich bei jeder Gelegenheit zusammen, was sich zum Verband der beiden Gilden rechnen durfte.

Darum waren auch heute Abend, nach dem Einzuge des Herzogs, die Gerber und Schuster mit ihren Fahnen hierher gezogen und Meister Jürgens, der Wirt, hatte alle Hände voll zu thun, um genug des vaterstädtischen Getränkes, der süßen dickflüssigen Mumme oder auch eines dünneren, bitteren Bieres herbei zu schaffen, wie man es nach der Einbecker Art braute. Es war ein lebhaftes Hin- und Herreden in der Schenkstube, denn die Gemüter waren erregt ob der plötzlichen Ankunft Herzogs Ernst. Und war auch jeder dessen gewiß, daß dieselbe etwas zu bedeuten habe, so gingen doch die Meinungen darüber weit aus einander, was dem Besuche des Herzogs zu Grunde liege.

»Ich bleibe dabei«, rief ein breitschulteriger Gerber, »der Bürgermeister hat ihn eingeladen.«

»Ihr irrt Euch, Meister Kamla«, erwiderte ein anderer, ein bedächtig dreinschauender Schuster, »denn wißt Ihr, ich war im Hause wegen der Wildledernen Seiner Gestrengen, da kam erst die Botschaft, der Knappe Isenbüttel brachte sie, ich kannte ihn wohl wieder, denn er war mit dabei, wißt Ihr, als wir nach Einbeck zogen, mit Geleit vom Göttinger Herzog; aber der Herzog steckte mit den Schnapphähnen unter einer Decke und als sie uns angriffen, ritt unser Geleit davon, doch wir wehrten uns unserer Haut –«

»Es ist richtig«, warf ein Dritter ein, dem die Einleitung zu der Geschichte Meister Pechdrahts zu lang wurde, »es ist richtig, der Rat hat nichts davon gewußt. Hals über Kopf kamen sie zusammen und berieten, wie sie den Herzog empfangen sollten. »Und dann wurde fortgeschickt zu den Gildemeistern.«

Der Gerber schüttelte ingrimmig den Kopf, indem er den zinnernen Bierkrug heftig auf den Tisch stieß. »Natürlich«, sagte er höhnend, »dann wurde zu den Gildemeistern geschickt, als der Beschluß über den Empfang des Herzogs bereits feststand; da waren wir gut genug, in den Straßen herumzustehen zu Ehren des Herzogs, zwei Stunden, drei Stunden; hätte man uns darum gefragt, so wäre keiner gekommen. Hat ein Meister denn nichts Besseres zu thun?«

»Das meine ich auch«, stimmten Andere bei. »Wir sind nicht dazu da, zum Schaugepränge zu dienen!«

»Und wär's noch das allein«, rief ein Vierter dazwischen, »aber einen ›Willkommen‹ werden sie dem Herzoge auch geben wollen, und wer wird den anders bezahlen müssen als wir?«

»Es ist geschehen, was Rechtens ist«, meinte der Schuster.

»Das sagt Ihr, weil Ihr die Schuhe Seiner Gestrengen besohlt.«

»Es ist immer dasselbe«, schrie der Gerber Kamla, »der Rat schaltet mit uns, wie es ihm beliebt, mit unserer Zeit, mit unserem Gut und Blut!«

Dem Gildemeister am oberen Ende der langen Tafel wurde die Unterhaltung bedenklich. Er suchte ihr eine andere Richtung zu geben. »Es heißt«, sagte er mit wichtiger Miene, »der Herzog sei gekommen, um sich huldigen zu lassen.«

Die Männer horchten auf. »Ist er der Erbe?« klang es vom unteren Tischende her.

Die Augen wandten sich dem Fragenden zu. Er war ein untersetzter, rotbärtiger Mann, mit grauen, funkelnden Augen. Niemand in der Gesellschaft kannte ihn. Der Gildemeister hielt Jürgens, den Wirt, zurück, welcher soeben den Zinnkrug frisch gefüllt vor ihn hingestellt hatte, und fragte leise: »Wer ist der Mann?«

»Ein Schuster aus Lübeck.«

»Hat er das Handwerk gegrüßt?«

»Wie's der Brauch ist.«

Die Frage des Fremden fand keine Beachtung, aber derselbe ließ sich nicht irre machen. »Hat Herzog Magnus keine Söhne hinterlassen?« fragte er zum zweiten Male.

»Wohl hat er Söhne hinterlassen«, erwiderte der Gildemeister jetzt. »Sie stehen aber unter der Vormundschaft des Göttinger Herzogs.«

»Des Quaden«,Herzog Otto von Göttingen fühlte in der That den Beinamen »der Quade«, das heißt »der Schlechte«. setzte Asche Kamla hinzu.

»Er wird's Euch bald vertreiben, ihn so zu nennen«, lachte der Rotbärtige.

»Meint Ihr? Wir wollen nichts von ihm, der Rat nicht und wir auch nicht. Er ist noch ärger als der verstorbene Magnus.«

»Und der war arg genug«, sagte der Leibschuster Seiner Gestrengen. »Wißt Ihr, warum er stets die silberne Kette trug, daher sie ihn Torquatus nannten? Weil er's in seiner Jugend so arg getrieben, daß ihn sein Vater hängen lassen wollte. Da lachte er und hing sich eine silberne Kette um, daran möge ihn hängen, wer ihn fangen könne.«

»Uns war er stets ein guter Herr«, warf der Gildemeister ein.

»Aber zuletzt hat ihn doch der Teufel geholt!« schrie Asche Kamla.

»Waret Ihr dabei?« fragte der Rotbärtige.

»Seid Ihr gekommen, um Händel zu suchen?« rief Asche Kamla.

»Was denkt Ihr?« erwiderte der Rotbärtige ruhig. »Ich frage nur, weil ich den Hergang weiß von Einem, der dabei war.«

»Als ihn der Teufel holte?«

»Nein, aber als Herzog Magnus der Andere seinen Tod fand. Bei Leveste war's, am Deister. Herzog Magnus war gegen den Grafen v. Schaumburg gezogen, denn er zürnte ihm, weil der Graf, da er doch seines Bruders, Herzog Ludwigs, Witwe geheiratet, dennoch in der lüneburgischen Fehde es mit den Widersachern der Welfen, den Sachsen, gehalten. Und als Magnus mit dem Gegner zusammentraf, gelobte er mit einem Eid, daß er die Nacht im schaumburgischen Lande zubringen wolle. Im Kampfgewühle aber spähte er nach dem Grafen, legte, als er ihn endlich erkannte, die Lanze auf ihn ein, hob ihn aus dem Sattel, sprang dann vom Roß, um sich seiner zu bemächtigen. Beugte sich auch über ihn, um auf das Atmen zu horchen und zu erkunden, ob der Graf noch lebe. Da sprang ein schaumburger Ritter hinzu und durchstach den Herzog hinterrücks mit dem Schwerte, daß er tot zusammenstürzte. Der Graf aber erhob sich unverletzt, und die führerlos gewordenen herzoglichen Scharen vollends zu zersprengen, ward ihm nicht schwer. Als man ihm jedoch von dem Eide des Herzogs erzählte, sprach er: ›So soll mein Schwager darum nicht meineidig werden!‹ ließ die Leiche in sein Land führen und behielt sie dort eine Nacht, ehe er sie zurücksandte.«

Der Bericht ward mit Aufmerksamkeit angehört und hatte dem Erzähler die allgemeine Beachtung zugewandt. Auch wußte sich derselbe diese Aufmerksamkeit noch ferner zu bewahren. Er war ein weit gereister Mann, hatte viel gesehen und viel gehört. Zumal nachdem der Gildemeister gegangen, wurde er zum Mittelpunkt der Gesellschaft. War er doch auch über braunschweigsche Verhältnisse für einen Fremden gut unterrichtet, besonders darüber, wie die stolzen Geschlechter die niederen Leute drückten und wie unrecht es sei, daß die Gilden nicht auch im Rat vertreten wären. Das hörten die Meister gern, und es war spät in der Nacht, als man endlich aufbrach.

Aber wie spät es auch war, das Haus mit den sieben Türmen glänzte noch immer in voller Lichterpracht. Das sah der Fremde, als er von Meister Jürgens, dem Wirt, in sein Gemach geleitet, ans Fenster trat. Er drohte mit der Faust hinüber. »Eure Herrschaft soll ein Ende mit Schrecken nehmen«, murmelte er. »Euer Gestrengen Haus gefällt mir gar wohl, und es wird eine Zeit kommen, wo ich darin Feste geben werde.«

 

Wir haben Rolef Doring verlassen, als er voll banger Sorge um Ilses Schicksal inmitten der festlichen Versammlung im Thore stand, die der Ankunft des Herzogs Ernst harrte.

Endlos deuchte es ihm, bis die Empfangsfeierlichkeiten vorüber und das Thor wieder frei geworden war. Dann eilte er durch dasselbe hindurch und auf Umwegen dem Festzuge voran nach dem Hause mit den sieben Türmen. Er betrat dasselbe durch eine Nebenthür und der Zufall führte ihm Ilses Zofe in den Weg.

»Deine Herrin wird sich rüsten zum Empfange des hohen Gastes«, redete er dieselbe an.

»Ach, sie ist nirgends zu finden«, antwortete das Mädchen. »Seine Gestrengen sind außer sich, das Gewitter muß sie auf dem Meierhofe zurückgehalten haben.«

Rolef wußte nur zu gut, daß dies nicht der Fall war.

Aber was nun? Zunächst zurück zum Thore, vielleicht war der bewußte Wagen inzwischen zur Stadt hineingefahren. Wurde auch diese Hoffnung getäuscht, blieb ihm nichts anderes übrig, als – so schwer ihm das auch werden mußte – Ilses Vater zu benachrichtigen, damit derselbe sofort alle Mittel, welche ihm persönlich und kraft seines Amtes zu Gebote standen, zur Rettung der Tochter aufbieten konnte.

Unter diesen Gedanken erreichte er das Thor. Im Begriff, dasselbe zu betreten, sah er ein weibliches Wesen an sich vorbeihuschen, welche die Gugel tief ins Gesicht gezogen hatte. Trotzdem erkannte er Ilse, ein Alp fiel ihm vom Herzen und unwillkürlich rief er laut und freudig: »Ilse!«

Sie eilte weiter, ohne sich umzusehen, aber er war mit wenigen Schritten neben ihr. »Gott sei gelobt, daß ich Euch wiederfinde«, sagte er, »ich habe namenlose Sorge um Euch ausgestanden.«

»Bitte, haltet mich nicht auf«, erwiderte Ilse kurz, »ich muß eilen, nach Hause zu kommen.«

»Aber Ihr werdet mir erlauben, Euch zu begleiten.«

»Ich will Euch nicht bemühen.«

Wie kalt das klang, wie abweisend! Aber Rolef ließ sich nicht irre machen. »Wie mögt Ihr nur von Mühe reden«, sagte er, »es macht mir ja die größte Freude.«

»Aber mir nicht. Euch verdanke ich die qualvollste Stunde meines Lebens. Und wäre nicht mein Vetter Vörsfelde dazwischen gekommen, würde ich wohl überhaupt nicht mehr leben.«

»Ilse«, flehte Rolef, aber sie zog statt aller Antwort die Gugel noch tiefer ins Gesicht und beschleunigte ihren Schritt noch mehr. Da blieb er zurück. Was konnte es nützen, jetzt auf sie einzusprechen? Augenblicklich war doch keine Verständigung möglich und ein Wortwechsel konnte die Kluft zwischen ihnen nur erweitern.

Das war eine böse Nacht für Rolef Doring. Hätte er sich nur selbst von aller Schuld frei sprechen können! Aber seine Unbesonnenheit, Ilse fremden Leuten anzuvertrauen, war ja an allem Unglück schuld. Und nun hatte auch noch Junker Vörsfelde ihr Retter sein müssen. Das war gar ein unerträglicher Gedanke.

Ohne Schlaf gefunden zu haben, erhob sich Rolef am anderen Morgen von seinem Lager. Sein Vater, mehr und mehr durch die Geschäfte des Amtes in Anspruch genommen, hatte ihm allmählich die ausschließliche Verwaltung des großen Grundbesitzes übertragen, welchen die Familie in der Braunschweiger Feldmark inne hatte. Rolef ließ satteln und ritt zur Stadt hinaus, um sich durch die Besichtigung der Arbeiten auf den verschiedenen Meierhöfen zu zerstreuen. Aber so eingehend er auch alles musterte, seine Gedanken kehrten immer wieder zu den Vorfällen des gestrigen Abends zurück. Erst als die tiefen Glocken von St. Michaelis Mittag läuteten, kehrte er heim, körperlich ermüdet, aber voll innerer Unruhe. Im Begriff, sein Pferd dem Diener zu übergeben, sah er einen Mann in einem weiten grünen Kittel, unter dem eine rote Jacke hervorleuchtete, und eng anliegenden roten Beinkleidern aus dem Hause treten. Das Gesicht fiel ihm auf, wo hatte er es doch schon gesehen? Diese funkelnden, grauen Augen? Und dieser struppige rote Bart? War das nicht einer der Fremden, denen er Ilse anvertraut? Gewiß, ohne Zweifel! Er wollte ihm nachstürmen, da trat sein Vater in die Thüre und rief ihn an.

Rolef kehrte sich kurz um. »Verzeihung, Vater, ich bin gleich zurück. Ich habe jetzt keine Zeit.«

Die Augen des Alten blitzten. »Keine Zeit? Welch' eine Antwort!«

Mißmutig trat Rolef dem Vater einen Schritt näher. »Ein sehr gefährlicher Mensch«, sagte er leise, »hat soeben unser Haus verlassen. Ich muß ihm nach, ihn zur Rede stellen –«

»Du wirst hier bleiben«, unterbrach ihn der Vater. »Eben wegen dieses Mannes habe ich mit Dir zu sprechen. Komm herein.«

Rolef mußte gehorchen. Er kannte seinen Vater genug, um zu wissen, daß derselbe in solchen Augenblicken keinen Widerspruch duldete.

Das Haus der Dorings am Steinmarkte war älter als das Haus mit den sieben Türmen, auch nicht so prächtig anzuschauen als wie dies. Über einem gemauerten Erdgeschoß stieg es bis zu dem steilen Dach im Fachwerk empor; man erkannte das deutlich an den farbig ausgezeichneten und kunstreich sich kreuzenden Balken der oberen Stockwerke, welche Stock für Stock weiter in die Straße hineinragten, mit einer umgekehrten Treppe zu vergleichen. Niedrige Fenster mit kleinen, in Blei gefaßten Scheiben waren die Augen dieses Hauses, aber so ungleich verteilt, auch so verschiedener Größe, daß man wohl sah, wie nicht Rücksicht auf den äußeren Anblick, sondern nur auf die innere Bequemlichkeit, den Erbauer bei ihrer Anordnung bestimmt hatte.

Der Bürgermeister schritt über die geräumige Hausflur, die knarrende Stiege hinauf in sein Wohngemach. Das war ein großes, wenn auch niederes Eckzimmer mit einem weit in die Straße vorspringenden Erker. In diesen setzte sich der Bürgermeister, seinem Sohne aber winkte er, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

»Wo warst Du gestern Abend, als Herzog Ernst in die Stadt einritt?« fragte er.

»Am Ludgeri-Thore.«

»Ich habe Dich nicht unter Deinen Genossen bemerkt.«

»Unbekannt mit des Herzogs Ankunft, kam ich erst spät vom Felde zurück und traf bereits alle im Thore versammelt. Da war keine Zeit mehr, ein Festgewand anzulegen.«

»Mir war es lieb, daß Du nicht unter denen warst, die den Herzog begrüßten. Ich mußte dabei sein, mein Amt zwang mich dazu, nachdem Tile vam Damme mit seinem Anhange einmal den festlichen Empfang durchgesetzt hatte. Sie überraschten uns, so mochte es ihnen gelingen.«

Rolef sah seinen Vater mit großen Augen an.

»Du wunderst Dich«, fuhr dieser fort, »daß ich also vom Herzog Ernst spreche, der uns doch früher ein gnädiger Herr war. Aber seine jetzige Anwesenheit bedeutet nichts Gutes. Vam Damme will ihn für seine Pläne benutzen – Du weißt ja, welche hohen Ideeen er im Kopfe hat. Die hofft er mit des Herzogs Hilfe auszuführen und unterstützt deshalb dessen Ansprüche. Ich aber mag davon nichts wissen. Daher halte Dich fern von dem Hause mit den sieben Türmen und vom Herzog und seinem Gefolge. Doch jenem Manne, der vorhin unser Haus verließ, begegne, wo Du ihn findest, mit Ehrfurcht, und spricht er Dich an, sei ihm zu Diensten und handle nach seinen Wünschen. Er ist mehr, als er scheint.«

»Schilt mich nicht, Vater«, sagte Rolef bescheiden, aber bestimmt, »wenn ich Dir nicht gehorche. Ich habe von jenem Manne Rechenschaft zu fordern. Ihm vertraute ich gestern Abend Ilse vam Damme an, damit er sie in seinem Wagen vor dem Unwetter in die Stadt flüchte. Er aber ist der Jungfrau nahe getreten und nur die Dazwischenkunft des Junkers Vörsfelde hat sie vor dem Schlimmsten bewahrt.«

Da flog ein Lächeln über Kort Dorings strenges Antlitz. »Ich weiß schon davon«, sagte er, »und kann Dir an seiner Statt Rechenschaft geben. Jener, von dem ich sprach, will unerkannt bleiben in Braunschweig und wollte daher ohne Aufsehen zur Stadt hineinfahren. Das war gestern Abend am Ludgeri-Thor nicht möglich, darum fuhr er daran vorbei, doch als Jungfrau Ilse dies gewahr wurde, schöpfte sie Verdacht, sprang unversehens vom Wagen und eilte davon. Er ihr nach, um sie aufzuklären. Aber so schnell war die hurtige Ilse, daß er sie nicht einzuholen vermochte, zumal da er des Herzogs Reisige heranreiten hörte, welche er guten Grund hat, zu vermeiden. So überließ er sie ihrem Schicksale und fuhr davon. Die Gefahr also, von der Jungfrau Ilse Dir erzählt zu haben scheint, hat nur in ihrer Einbildung bestanden, und magst Du schwerlich einen darob zur Rechenschaft ziehen.«

Nachdenklich sah Rolef zu Boden. War diese Darstellung des Vorfalles die richtige? Offenbar war die Quelle, aus welcher sein Vater schöpfte, der Rotbärtige selbst. Das beeinträchtigte die Glaubwürdigkeit. Aber was konnte er dagegen sagen? Hatte Ilse ihn denn überhaupt gewürdigt, ihm die Gefahr näher zu bezeichnen, in der sie geschwebt? Und war es nicht vielleicht Scham gewesen ob ihrer Übereilung, welche sie bestimmt, so schroff ihn abzuweisen, wie sie gestern Abend gethan?

Der Bürgermeister betrachtete ihn aufmerksam, dann sagte er sanfter, als ihm sonst eigen war: »Ich habe wohl manchmal in früheren Jahren gedacht – und auch Deine verstorbene Mutter sprach gern davon – Ihr solltet ein Paar werden, Ilse vam Damme und Du. Hab' Dich deshalb auch gehen lassen, wenn Du dem Mädchen nachliefst und minniglich um sie warbst. Aber jetzt frage ich Dich und erwarte von meinem Sohne eine offene und bestimmte Antwort: Wie stehst Du mit der Jungfrau?«

Rolef zögerte mit der Antwort und eine hohe Röte färbte sein Antlitz. Es war das erste Mal, daß sein Vater mit ihm über seine Liebe sprach. Er rang nach Worten, aber er konnte keine finden. Aber sein Vater schien nicht geneigt, zu warten. »Nun?« fragte Kort Doring, und seine Stimme klang schon minder weich, »nun, seid Ihr einig?«

»Nein«, klang es zaghaft zurück.

»Oder kannst Du der Hoffnung leben, Dir in Bälde die Jungfrau zu gewinnen?«

»Nein.« Das Wort wollte kaum über Rolefs Lippen.

Der Bürgermeister erhob sich. »Gott sei gedankt«, sprach er, und man hörte es den Worten an, wie sie aus tiefster Brust kamen. »Hast Du Dich der Jungfrau vam Damme nicht versprochen und kannst sie mit gutem Gewissen verlassen, so mag sie sich anderswo einen Freier suchen, nur nicht im Hause Doring. Fort mit den Grillen, mein Sohn! Sei ein Mann und härme Dich nicht ob eines Mägdleins, das nichts wissen will von Deiner Liebe.«

»Vater«, begann Rolef, gleichfalls aufstehend, aber der Bürgermeister ließ ihn nicht weiter sprechen. »Kann mir schon denken, was Du für Einreden hast!« rief er, »doch ich mag nichts davon hören. Denk' daran, daß ein Doring zu gut dazu ist, lange einer vam Damme nachzulaufen. Sind Jungfrau'n genug in der Stadt, denen das Herz klopft, wenn sie Dich schmucken Burschen sehen. Die vam Dammes aber sind ein falsches und hochmütiges Geschlecht, des sei versichert. Meide also das Haus mit den sieben Türmen und vergiß nicht, was ich Dir wegen des Fremden gesagt. Er ist mehr, als er scheint. Aber ich habe es nur Dir gesagt, das merke wohl, und hüte Dich, daß Du nicht ihn verrätst und uns.«


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