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Das flammende Herz

Für einige Tage war ich durch einen seltsamen Brief meinen Arbeiten entrissen … Er hatte mir eine süße Feuerwelle durchs Herz gejagt, und meine Phantasie, bisher geduldig trottend wie ein Maulesel und die wissenschaftliche Fracht schleppend, schlug aus und flog wie ein losgerissenes Husarenpferd davon in sonnige, funkelnde Fernen.

Der Brief –? Es war die gleiche rundrollende Handschrift, die ich – zwanzig Jahre war es her – geliebt hatte, diese Handschrift, die man lieben mußte, weil ein warmer, musikalischer Reiz von ihr ausging, wie von Noten.

Erinnerungen seufzten, Erinnerungen fragten. Wo war die klingende Hand, die diese Zeichen schrieb …?

Ich hatte mich in meiner Einsamkeit mit den Frottole der Damen Lukrezia und Tarquinia Mollinda beschäftigt, aus deren harmonischem Gesang zur Laute eine weiche Welle von Schönheit und Glanz ans Ohr der Mitwelt strömte, und aus deren Werk und Schicksal noch ein wehmutsvoller Hauch bis in unsere Tage weht. Die Kunstgeschichte kann die Schwestern nicht vergessen. Lukrezia war fünfundsiebzigjährig als Nonne gestorben. Aus ihrem Grab aber stieg eine Flamme, weiß und leuchtend, die niemand löschen konnte, bis eines Tages ihrer Schwester Mann, der Fürst von Ferrara, sich dem Blumenhügel näherte, um dort zu beten – da sank die steile, stille Flamme in sich zusammen und war entloschen. Und die Nachtigallen fingen wieder an zu singen, nachdem sie jahrelang geschwiegen hatten.

Nur ein künstlerisches Herz kann dieses Schicksal haben – verglühend sich hingeben und sich hingebend verglühen – und von der Flamme, die nicht sterben wollte, glomm gewiß noch mancher Funke in den Liedern, die Lukrezia zurückgelassen hatte. Man wußte nicht genau, welche Frottole Lukrezia geschaffen, welche Tarquinia; aber ließen stärkere Inbrunst, wahre dichterische Glut sich nicht bestimmen, wenn man, im Licht der schönen Sage, die alten Handschriften verglich?

Allein – es war mir plötzlich einerlei … Lukrezia … Tarquinia … was wollten diese toten Damen? – ich lief zum Klavier, stürmte in die Tasten und jagte mir Klaras Bild hervor: ich konnte sie spielen, ihre Gegenwart zum Atemholen hörbar, fühlbar machen – – ich sah mich selbst mit ihr am Flügel – wie einst – wie einst – Renaissance und Altferraras Fürstengarten versanken wie Dekorationen bei Szenenwechsel, und an ihre Stelle trat ein bürgerliches Wiener Wohnhaus, von den Tagen der Jugend umsponnen wie von einem Rosenstrauch.

Erinnerungen sind Melodien, die zugleich nach Schmerz und Freude klingen, und eine solche war es wohl, die mir aus Klaras Brief entgegenflog: »Immer habe ich deine Bücher gelesen. Und dir geholfen, der du es nicht wußtest. Da du die Leiter des Lebens hinaufstiegst, war ich es, die sie – dir unsichtbar – gehalten hat. Ich war bei dir mit meinen Wünschen, und du bei mir mit deinen Worten …«

Ihre Hände hatten mir die Leiter gehalten! Wie schön! Vielfach hatten diese Hände manchmal doch vergessen, denn es gab in meinem Leben Augenblicke, wo die Geschichte schmählich wackelte. Nun immerhin.

Ich beschloß nach Wien zu fahren. Ich mußte ihre Hände sehen.

Ich suchte nach der Anschrift. Innen war der Brief mit C, dem altvertrauten C unterzeichnet. Außen, auf dem Umschlag stand der Name Cilly Bock. Wer war das? Cilly Bock …? Hatte Clara nicht eine ältere Schwester gehabt? Ein dunkles schweigsames Mädchen trat mir langsam in Erinnerung, ein Wesen mit Leidenschaftsaugen, tief in die Stirn gedrückt. Die hieß wohl Cilly. Manchmal hatte sie uns zugehört und bohrte mich mit ihren Augen an, wenn ich die Vergangenheit etwas eitel deuten darf; meistens aber war sie in die Küche verschwunden, wo sie weiterkochte – ob aus Takt, aus Gram, Verzweiflung? – wer konnte es entscheiden? Ja, Cilly … Wahrscheinlich wohnte Clara jetzt bei dieser stillen Schwester. Gewiß, sie konnte sich von ihr nicht trennen, selbst heute, wo sie langst die große Pianistin, selbst oben auf der Leiter war. Alles ließ sich so gut vorstellen, aus ihrer Wesensart berechnen und bestimmen, daß man es körperlich vor sich sah. Das war im Westen draußen, wo die Stadt in einem Einsamkeitsbedürfnis allmählich in die Kaiserlandschaft übergeht … Laxenburgerstraße … die goldenen Räder der Hofequipagen funkeln vorüber … der Leibjäger auf dem Bock hebt grüßend die weiße Salutierhand … die Stadt zieht sich in alte Gärten zurück, ruht aus vom eigenen Lärm, hier fand sie wie Catull ihr Sirmio.

Die Hausnummer war dreistellig. Konnte eine so hohe Ziffer noch im geschlossenen Straßenzug sein? Nein. Es war kein Haus, war eine Villa hinter Baumwipfeln, weiß und still, im Grunde nicht gewohnt und nicht verpflichtet, eine Nummerntafel zu tragen, ein traumhafter Herrschaftsbesitz, der mehr aus lässigem Nachgeben der behördlichen Form genügte. Ein spiegelgrüner Weiher lag dort vor dem Treppenaufgang, ein Weiher, nicht ein Teich, und eine hellgrüne Trauerweide senkte an Aprilabenden die zarten Kaskaden ihrer Äste zum Spiegel hinab, aus dem sie verkehrt wieder hervorkamen. Auf der weißen Freitreppe, die sich in zwei Balusterarme spaltet, stand Klara jeden Abend in hellem Kleide, im dunklen Haar eine rote Blume, den einen Arm auf der Balustrade, den anderen matt darüber … und daran hing die Hand, die Hand, die zwanzig Jahre gewartet hatte.

Ach, es hatte mir immer eine Wonne durchs Gebein geschauert, wenn wir vierhändig spielten und ich ihre Hand ergriff: ich tat es oft, so oft sie falsch griff, und ich glaubte, sie hat gerne falsch gegriffen … oft und oft … und ich habe ihre Hand allzuoft ergriffen …

Wo mochte das Haus sein –?

Von der letzten Haltestelle der Trambahn mußte ich noch zwanzig Minuten gehen. »Ganz draußen …« hatte der Schaffner gesagt. Es war eine erschöpfte, ermüdete Straße, die nur unlustig ihren Dienst versah. Die Trambahn hatte keine Lust mehr, diese Gegend zu besuchen. Graugelbe kleine Häuser links, mit kleinen, trüben Geschäften. Zur Rechten erhob sich eine kahle rötliche Eisenbahnmauer mit einer öden Nutzstiege, die durch ihre Kahlheit der ganzen Straße etwas unendlich Glückloses gab. An dieser kahlen rötlichen Mauer gab es keinen Winkel, keine Bucht, keine Nische, keine Pflanze, worin ein Keim von Freude, ein lieber seliger Gedanke, ein heimliches Gedenken nisten konnte. Öde Laternen brannten des Abends und beleuchteten unwillig die armselige Mauer mit ihrer Nutzstiege, auf die jetzt schmutzige Männer stiegen, Bahnarbeiter mit Flaschen in den schmierigen Röcken, blaue Bedienstete mit umgehängten Diensttaschen, Leute, aus kahlen Dingen kommend, zu kahlen Dingen gehend. Männer in Hemdärmeln knieten, die Hüte auf dem Kopf, mitten im aufgerissenen Bauch der Straße und schlugen mit kurzen Hämmern auf viereckige Steine. Man sah ihre harten, rohen Fäuste, die nur mit Steinen umzugehen gewohnt waren, und selbst der Schall der Hämmer war mürrisch, feindselig und kahl, als wollten sie dem unterjochten Stein die Seele aus dem Leibe schlagen – – –

Da war die Hausnummer … Ein niedriges, altes Haus, das zwischen Arbeiterhäusern stehen geblieben war. Ein Haus mit kummervollem Antlitz. Einmal war es schön und jung gewesen. Jetzt stand der Hausbesitzer – man sah es förmlich – schon in Unterhandlungen – und aus dem einstöckigen Veteranen mußte etwas in die Luft wachsen, das Pomp und Nutzen versprach.

Im Hof war noch der Brunnen, oben lief der hübsche hölzerne Gang von Tür zu Tür. Eine Frau stand im ersten Stock vor einem Waschtrog und fuhr mit beiden Fäusten über die Rumpel, dann schlug sie das Hemd aus, und hängte es über das Gitter.

»Ja, glei' daneben …!« rief sie auf meine Frage hinab. Sie schrie es förmlich. Ich hatte leise gefragt, wie nach einem Geheimnis; aber in diesem Haus, das sah ich, gab es kein Geheimnis, man erlebte öffentlich, gemeinsam. Sie schrie. Und aus mehreren Wohnungstüren schoben sich auch gleich Frauengesichter hervor, die »den Herrn« musterten, der nach einer der ihren fragte. Sie kannten mich, bevor mich Cilly kommen wußte.

Da stand ich oben. Vor einer unbekannten Frau, in deren Zügen ich nur undeutlich und mit Anstrengung etwas von Cilly, ihren Augen, ihrer Stirn zu erkennen glaubte. Sie nötigte mich in das Zimmer. Das Zimmer … Ich schämte mich meiner gelben Handschuhe. Sie waren plötzlich so herausfordernd, als ließen sie den Besitzer dieser Wohnung einen sozialen Abstand fühlen. Das Zimmer sah aufgeräumt aus, oder vielmehr man sah in diesem Zimmer das Aufgeräumtsein, eine Ausstellung geordneter Sachen und Möbel … Hier war keine trauliche Ecke, ein verträumter Winkel, eine freie, vergessene Spur von Leben; hier war Anordnung in strengen Linien und festen Plätzen. Sie nötigte mich zum Sofa … ja, man konnte nur schwer dazu gelangen, weil der Tisch mit der dünnen grünen Kattundecke dicht davor angeordnet war, und diese Möbel förmlich überrascht waren, da sich jemand dazwischen drängte. Sie waren nur für sich da, das Sofa nicht gewohnt, daß jemand darauf saß, es wäre erschrocken, wenn zwei darauf saßen, die einander an den Händen hielten. An der einen Wand, über dem Tischlerkasten, hing, ein wenig schief, ein Ehrendiplom. So kahl sah diese weiße Papierfläche mit den schönseinwollenden Schriftbuchstaben in das Zimmer hinab, daß ich traurig wurde, so traurig … Es war das Ehrendiplom eines Kegelklubs. »Ja, wie mein Mann noch gelebt hat …« sagte Cilly, indem sie meinen Blick beantwortete, »da sind wir alle Wochen zum Roten Hahn gegangen … sehr eine lustige Gesellschaft … aber seit er g'storben ist …« sie brach ab und strich mit der flachen Hand über das grüne Tischtuch, wie um anzudeuten, daß alles weggewischt sei, Mann und Kegel, Freude und Staub, und sah mit starrem Blick auf ihre Hand hinab. Nur ein flaches Witwendasein war geblieben.

Ich strengte mich nach einem Wort an, aber aus meinem wie zugemauerten Innern wollte nichts hervor. Ich lächelte verlegen und ärgerte mich darüber. Was begann ich mit dieser zusammenräumenden Witwe? Waren das Hände? Das waren Gebrauchsgegenstände. Zwei mißhandelte Geräte. Um die Gesichter der Finger lief oben eine schwärzliche Einfassung. Das war übrig geblieben von jahrelangem Staubwischen, von Ehe und Kegelspiel, Ehrliche Spuren. O – nicht diese Frau Cilly Bock war schuld – – ich, ich ganz allein war es. Was hatte ich aus ihrer Hand gemacht? Warum sie aufgedichtet zu einer Nymphen-, einer Isoldenhand? Cilly machte eine komische Bewegung. Sie fuhr mit dem Handrücken unter der Nase weg, wobei sich der Mittelfinger etwas erhob: vielleicht war sie verlegen. Dann klopfte sie wieder mit den geschlossenen Fingern auf die Tischdecke, wo sie vorhin ihren Mann begraben hatte. Und jede Bewegung war so fremd, so verloren in diesem Zimmer, das dem Leben nicht zuzuschauen gewohnt war. Warum hatte ich sie zur Isolde Weißhand erhoben?

Aber es war doch gar nicht Cillys Hand, die den Brief –

Ich zog den Brief aus der Brusttasche.

»Ja,« sagte Cilly, »die Klara, die Klara …« und errötete etwas. »Es wird ihr sehr leid tun. Gerade heute muß sie nicht da sein …«

»Ja, was macht denn Klara? Spielt sie noch so schön Klavier?«

»Ah, gar ka Spur. Seit sie geheiratet hat – ist das aus. – Wozu denn! Sie hat einen Beamten vom Versatzamt. Sehr a braver Mensch. Und da bringt sie manchmal alte Bücher mit zum Lesen. Und neulich hat sie eins von dir gebracht. Auch sehr schön. Und da hat dir halt schreiben lassen …«

»Schreiben lassen …?«

»No ja! Ich bin ein guter Kerl. Du weißt ja. Ich kenn mich mit der Feder aus …!«

»Ja … aber … das war doch ihre Schrift, Klaras – –«

»– ah, keine Spur. Ich hab doch immer für sie geschrieben. Die Schulaufgaben, und dann, damals … du weißt ja doch … an dich, und an alle; wir haben oft gelacht darüber …!«

Gelacht … an dich … an alle … Ein Schleier fiel von der Vergangenheit. Diese Klara, die sich vierhändig an einen Mann herangespielt hatte … diese Cilly, die ihre Sekretärin gewesen, ihr das Bureau gemacht … So sah meine Jugend aus! Und ich hatte sie mit Goldpapier beklebt …!

Ich erhob mich.

»Was, man geht schon? Hat man es so eilig?« fragte sie mit »man«, denn es schien ihr geraten, das Du und Sie jetzt lieber zum umgehen.

Ich schob den Brief in die Tasche, die schönen Buchstaben, das einzige, was diese Frau aus ihrer Jugend noch gerettet hatte. Leere Buchstaben. Die Firmatafel eines längst nicht mehr bestehenden Betriebs. Und die Worte hatte sie vielleicht aus einem alten Brief. Aus einem versetzten Buch. Vielleicht aus meinem eignen. Ich beschloß, draußen den Brief zu zertreten.

»Kommen Sie bald wieder!« rief mir Cilly Bock nach, indem sie das »Sie« für die Umgebung anwendete, für die Frauen an den Türen, um jeden Verdacht zu zerstreuen, als hätte ich mit »Liebe« etwas zu tun gehabt. Ade! Es kam mir vor, als hätte ich eine Leiche gesehen … es war die Leiche einer Liebe.

*

Ich packte die Arbeit über Lukrezia und Tarquinia zusammen, Papierkorb –! Ich fand mich nicht mehr hinein, ich wurde skeptisch: Dem guten Herzog von Ferrara, glaub' ich, wird am Grab der Nonne gar nichts geschehen sein, es brannte nichts, es flammte nichts, und die Vögel sangen dumm wie immer. Wer weiß, von wem die Lieder waren, die die beiden Frauenzimmer klimperten – vielleicht von einem verliebten Kapellmeister, der ihr Komponierbock war – was ging das mich an! Ein Treppenwitz der Kunstgeschichte war das Ganze, und ich nicht der Esel, einer frommen Lüge zu einem Glauben zu verhelfen, den ein Blick ins Leben so rasch zerstört. Sie sind keine Nonnen. Sie heiraten ihren Beamten und geben Gesang und Glühen auf – – –!


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