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Als ich im Februar 1896 nach Paris kam, war vier Wochen vorher Frankreichs bester Dichter, der Lyriker Paul Verlaine, gestorben. Und die Zeitungen erzählten täglich Züge aus seinem leben. Man erfuhr, daß er sich von Krankenhaus zu Krankenhaus durchgeschlagen hatte. Aber er war nicht so sehr krank gewesen als notleidend. Er hatte keinen anderen Ausweg gesehen, um sich zu helfen, als daß er sich bei den verschiedenen Spitälern in der Armenabteilung krank meldete, nur um Unterkunft und Verköstigung zu erhalten.

Ich wohnte auf der Höhe des «Quartier Latin» in einem Gasthof in der Straße de l'Abbé de I'épée, einer friedlichen kleinen Seitenstraße des Boulevards St. Michel, die, wie man weiß, die Hauptstraße des Pariser Studentenviertels ist.

In der stillen, freundlichen Gasse, durch welche fast nie ein Wagen fuhr, waren auf der einen Seite sonnenbeschienene, helle, hohe Gartenmauern, und am Gassenende stand eine alte Kirche, die mit Abend und Morgengeläut die klösterliche Friedlichkeit noch erhöhte. Das Gäßchen war sehr still. Man sah nur immer das menschenleere, sonnenbeschienene, saubere Pflaster unter den Fenstern. Die Häuser waren ein» und zweistöckige, kleine, helle, vornehme, weltabgeschlossene Einzelhäuser. Manchmal verirrte sich einer der Straßenverkäufer, mit singender Stimme ausrufend, unter die Fenster der sauberen Gebäude, aber sonst flogen dort die Sperlinge durch den Sonnenschein.

In dem ruhigen Gasthof stiegen meistens ausländische Künstler ab und einige ältere französische Studenten, die Prüfungsarbeiten machten. Zur Frühstücks- und Abendessensstunde sah man kluge, ernste, gedankenvolle Köpfe in dem schmalen Eßsaal. Dieser Saal war schmal wie ein Hausflur. Durch die Verglasung seiner einen Längsseite sah man in den kleinen dreieckigen Hausgarten, der mit hohen, dichtverwachsenen Efeumauern und einem grünen Rasen eine wohltuende Oase für das Auge war, wenn man ermüdet vom Weltstadtlärm und aus der wüsten Pariser Lebensjagd, aus der Innenstadt, heimkehrte und sich zur Mahlzeit niedersetzte.

Da sah man manchmal auch im Gartengrün eine Katze kauern und sich bei der Efeuwand sonnen, oder es flog eine Amsel herbei und spazierte auf dem Rasen und flog dann über die Mauer in einen Nachbarsgarten, von wo sie, auf hohem Ahornzweige schaukelnd, ein Lied jubelte. Man wußte nicht mehr, lag dieses Stück grüne Erde da draußen vor dem schmalen Speisesaal in der Stadt Paris oder in einem friedlichen Kirchhof. Denn dieses stille, kleine Gasthaus hatte die Macht, starken Frieden um sich zu verbreiten, so wie Öl, das man auf stürmende Wellen träufelt, das Meer im Umkreis sanft macht.

Wenn ich nicht diese Stille in Paris täglich erlebt hätte, ich hätte es nicht für möglich halten können, daß man solche Lautlosigkeit schaffen kann mitten in einer Millionenstadt. Aber dieses ist die Kunst der Pariser, vornehme Ruhe zu schaffen. Indem sie mit kluger Ausnützung des kleinsten Erdflecks grüne Gartenwinkel anlegen, in welche man mit Einfachheit und Bescheidenheit nur Rasen und Efeu pflanzt und so dem Auge ländliche Ruhe zuführt. Man schachtelt also ins laute Paris Ruhe in Ruhe ein. Und man gelangt so dort mitten in dem kochenden Leidenschaftsherd, der die ganze Stadt wie einen ewig arbeitenden Krater wogen und wallen läßt, trotz aller überhitzter und gesteigerter Lebenslust, zu einer fast unschuldigen Ruhe mit sich selbst.

In keiner Weltstadt sah ich auch jemals so viel Kleingewerbetätigkeit. Neben den großen, spiegelglänzenden, gläsernen Pariser Läden nistet ein bescheidener und traulicher Kleinhandel. Alles darf und alles soll leben können hier in dieser lebenswarmen Stadt! Es kommt einem vor, als stünden diese Worte als Spruch am Eingang der meisten Straßen. Wie jahrhundertealte Wohnungen und Häuser Raum für viele Andenken haben, Andenken an verschiedene Geschlechter, die hier lachten und starben, so ist das Pariser Straßenleben durchwebt und durchlagert von Versteinerungen verschwundener Zeitschichten.

Dieses gibt der Stadt etwas innig Rührendes, etwas innig Rückständiges und künstlerisch Gedankenvolles neben der wahnwitzigen Vorwärtsjagd, dem Vorwärtsstreben und dem lauten Dasein.

Nirgends noch sah ich so viel Katzen auf der Welt als in Paris. Daß die Ägypter die Katzen heilig sprechen konnten, wurde mir nirgends verständlicher als in Frankreich. Die Pariser Katzen gehen wie die Geister vergangener Geschlechter lautlos und gepflegt, geliebt und geschützt in allen Häusern umher, in allen Läden, in allen Gasthäusern. Kein Mensch erschrickt vor ihnen, kein Mensch jagt sie, und sie werden nicht bloß geduldet, sondern gefeiert, weil der lebendige und lebenssüchtige Pariser im letzten Grunde auch am Tier die Ruhe des Benehmens als die höchste Lebenskunst feiert.

Der alte schwedische Maler Josephson, den ich auf Veranlassung von Ellen Key noch vor meiner Abreise in Stockholm besucht hatte und der fünfzehn Jahre seines Lebens in Paris verbracht hatte, sagte beim Abschied zu mir:

«Also, Sie wollen nach Paris! Grüßen Sie die große, starke Stadt von mir, die große, ruhige, vornehme Stadt.»

«Ruhig?» fragte ich. «Die Stadt, in der man sich seit Jahrhunderten betäubt, innerlich und äußerlich, die Stadt kann doch nicht ruhig sein?»

«Glauben Sie mir», meinte der alte Maler, «Paris ist die ruhigste Stadt in Europa. Und wenn Sie dort hinkommen, rate ich Ihnen, nehmen Sie es sich als ersten und letzten Grundsatz vor: Bewahren Sie sich immer Ihre Ruhe dort. Machen Sie mit Ruhe die Hast mit. Aber geben Sie Ihre Ruhe nie auf. Dann wird Sie der Pariser schätzen, er, der so verächtlich auf die unruhigen Fremden herabsieht.»

Und als ich nun die Katze, das Symbol häuslicher Ruhe, überall in Paris gepflegt fand, mußte ich immer an diese Worte des alten schwedischen Malers denken. –

Draußen vor meiner sonnenstillen Gasse stand man, wenn man die breite, sonnige Straße St. Michel kreuzte, vor den großen Eisengittern des weiten Luxembourgparkes, dem Garten der Bildsäulen der Königinnen von Frankreich und der Dichter.

Auf den Terrassen rund um den Platz eines großen Wasserbeckens stehen die Bildsäulen der hohen Frauen, und unter den Augen der steinernen Königinnen und in einem Kreis von Zuschauern lassen die Pariser Kinder dort im Frühlingsnachmittag ihre handgroßen Segelschiffchen auf dem Wasserspiegel kreuzen. Aber auf einer anderen Seite des Schloßgartens, im lauschigeren Teil, wo die Singvögel in blühenden Büschen nisten und grüner Rasen mit Blumenhügeln und Zwergobstbäumen abwechselt und unter schattigen, alten Kastanien- und Ahornbäumen noch Lauschigkeit und Heimlichkeit herrscht, findet der Spaziergänger die Denkmäler der Dichter.

Im Nebenflügel des Lustschlosses selbst, das näher zur Stadt hin liegt, und darin jetzt die Senatoren von Paris ihre Sitzungen abhalten und ihre Schreibstuben haben, ist die neuzeitliche Bildersammlung mit ihren Kunstschätzen lebender oder erst jüngst gestorbener Zeitgenossen.

Die Luxembourgsammlung wird als die Vorhalle zum Allerheiligsten, zur Ewigkeitssammlung, dem Louvre, angesehen. Ein Kunstwerk, das eine gewisse Anzahl von Jahren in der Luxembourgsammlung ausgestellt ist, wird, wenn sein Kunstwert nach Jahren noch als ein bleibender anerkannt ist, dann erst der Louvresammlung einverleibt.

So sind der Luxembourggarten und seine Bildersammlung eigentlich das Besitztum der französischen Jugend. In den Vormittagsstunden sieht man im lauschigen Teil des Parkes manchen bücherlesenden Studenten. Am Nachmittag gehört der Baumschatten den Kindern, den Kinderfrauen und den Tierfreunden, die die Vögel füttern und sich die Sperlinge so zähmen, daß diese ihnen die Brotkrumen von den Lippen picken.

Der Spätnachmittag aber lockt die Studenten und jungen Künstler mit ihren zierlichen Freundinnen in Scharen von der Seite des Boulevards St. Michel her auf den großen Musikplatz des Gartens, und bei Musikspiel lebt das Liebesspiel in den Augen, in den Worten und Gelächter« der Spazierenden. –

Jedem Fremden flößt die große Ordnung Achtung ein, die sowohl in London als in Paris die Tageszeit und das Vergnügen in bestimmte Zeitabschnitte abteilt. Man muß das Uhrwerk dieser Städte als Fremder verstehenlernen und sich ihm anpassen. Das Leben dort wird von der Ordnung wie ein Konzert von einem Kapellmeister geleitet. Es haben sich bestimmte Ordnungsbegriffe gebildet, die von Geschlecht zu Geschlecht festgehalten werden. Man spricht von der Stunde vor «der Spazierfahrt ins Gehölz». Dann kommt die Stunde «der Erfrischungsgetränke», die Stunde vor dem «Gang ins Theater» und so weiter.

Die Strenge, mit der an althergebrachter Sitte festgehalten wird, macht den Pariser stolz und ruhig mitten im Neuzeittrubel.

 

Damals, im Jahre 1896, lebten und arbeiteten in Paris immer noch Zola, Huysmans, Mallarmé, von denen für die Literatur tonangebende Neuerungen, ausgingen. Wie ich schon sagte, Verlaine war eben gestorben. Auf dem Boulevard St. Michel lief ein älterer, etwas komischer, halb verhungerter Literaturstudent im Gehrock und Zylinder umher, der den Spitznamen Bibi hatte, und der unversehens mitten im Menschengewühl zu einem herantrat, aus seiner hinteren Gehrocktasche eine Stiefelbürste zog, den Zylinder höflich lüftete und mit ernster Miene um die Erlaubnis fragte, einem den Staub von den Stiefeln und vom Hosensaum bürsten zu dürfen.

Man ließ es sich gefallen und gab ihm eine Geldmünze dafür. Denn jedermann wußte, daß Bibi bitterarm war. Aber außerdem wußte man auch, dieser dürftige, dürre Mensch, der nur flüsterte und der im Menschengedräng wie ein Schatten kam und schwand, er war der treueste Anhänger Paul Verlaines gewesen. Und man behauptete später, daß er noch zehn Jahre nach Verlaines Tod das letzte Hemd des Dichters an seinem Leib trage und es, aus Verehrung für den toten Meister, niemals ablege. Gestalten von solch rührender, wandelnder Lächerlichkeit lebten viele im Gedränge des Boulevards St. Michel. Zur Mitternachtsstunde tauchten sie auf, und es war dann, als verkörperten sich in ihnen vergangene Zeiten.

Man sah da auch ein altes Mütterchen. Sie verkaufte Oliven in Öl oder gekochte rote Krebse, je nach der Jahreszeit, und man sagte, sie sei eine Freundin des Dichters Musset gewesen. Sie war wohl neunzig Jahre alt, und ihr Kopf wackelte, und manchmal machte sie einen Luftsprung, wenn ihr auf einer Kaffeehausrampe von einem Studenten Geld zugeworfen wurde. Dieser Hopser der Alten war die letzte Erinnerung aus ihrer Tänzerinnenzeit, die sie einst am Ballett der Großen Oper erlebt hatte.

Diese Spukgestalten der Vergangenheit wurden von den Studenten sowohl wie von ihren Freundinnen, die die nächtlichen Straßen füllten, geachtet und geliebt, man schätzte sie. Sie bildeten die Patina der Straße. Alte Kenner des Lebens sahen ihnen ehrfürchtig und behaglich schmunzelnd zu. Und die jungen Lebensneulinge betrachteten diese Überbleibsel toter Zeiten mit Scheu und mit leisem Anflug von Selbsterkenntnis: das Leben vergeht, darum wollen wir es festlich nehmen. Mehr Erkenntnis aber lebte noch nicht in den jungen Nachtschwärmern des lateinischen Viertels.

 

In diesem Stadtteil von Paris verbrachte ich vom Februar 1896 bis Ende April die letzten Wintertage. Im Betrachten der großen fremden Stadt und im Betrachten der nächsten Umgebung meiner Gasse, in der ich wohnte, vergingen die Stunden schnell.

Und eines Sonntags, im Parke von Versailles, erstaunte ich, daß in den hohen Baumgängen und in den künstlichen Wasserläufen dort schon die Frühlingssonne warm spielte.

Als ich über die endlose Baumreihe, die sich von der Schloßrampe beinahe bis an den Erdrand hinzuziehen scheint, hinsah und mich die frische, freie Luft ferner Äcker und Felder anwehte, knickte mein Herz ein. Denn ich wurde plötzlich erinnert, daß es außer dem künstlichen Stadtleben, das ich bis jetzt in diesen Pariser Wintertagen und in den letzten Monaten in Stockholm fern von freier Natur gelebt hatte, auch noch Wiesen, Wälder, Länder, Erdteile und Meere zum Aufatmen gab.

Und die Luft sagte weiter, daß über dem Meer fern im Norden ein Mädchen, das ich ersehnte, lebte, und daß die Frische, die hier in den stadtfernen Versailler Schloßgarten über Äcker hergekommen war und nicht über Hausdächer, mich an das ferne Land im Norden erinnern wollte, an Bohuslän, wo ich zuerst ohne Herz gedichtet hatte, und an Stockholm, an meine Wohnung am Tegnerlund, wo ich meine ersten Liebesgedichte herzlich gedichtet hatte.

Hier in Frankreich war ich bisher vor dem Neuen wie ein Schlafwandelnder gegangen, und es war mir oft, als ob ich meine Dichtung und meine Liebesgefühle zu jenem Mädchen in einem fern vergangenen Leben erlebt hätte.

Aber nun kam vom Erdrand junge Luft durch den langen Baumgang, über den langen Wasserlauf, zu den Treppen der Schloßrampe von Versailles, und eine große Sehnsuchtswelle rührte mich an. Die Vögel, die Amseln und Finken, die da in den blätterleeren hohen Bäumen des Parkes aufsangen, wollten auch mich zum Aufsingen überreden. Und das Wasser blitzte unter dem dunklen Geäst, die Frühlingssonne glitzerte in den laubleeren Kronen der Bäume, und die weißen großen Götterbilder, die da am Fuß der breiten Treppe stehen, sprachen von der Göttlichkeit des Menschenleibes und von der Festlichkeit, mit der die Heiden ehemals Himmel und Erde herzlich und selbstverständlich genossen haben.

Der große leere Frühlingsgarten, der bereit stand zu erwachen, der Knospen und Blätterschwärme bringen wollte und zu grünen Sälen werden wollte, darinnen sich die Menschen in Paaren ergehen sollten, dieser Garten sagte: «Geh, hole dir dein Mädchen und komme wieder mit ihr. Meine festlichen Wege sind nicht für Einsame gedacht. Ich bin ausgedacht zur Feier der Liebesgefühle. Auf meinen Wegen will ich der Menschen Liebesgeplauder hören und will Menschen sehen, deren Herzen nicht einknicken vor Weh und Einsamkeit, wenn sie an das Ende meiner langen Baumgänge blicken.

Wenn es die kleine Amsel dort fertigbringt, sich ein Weibchen zu finden und diesem ihr Lied zu singen, warum sollst du, junger Mensch, es nicht fertigbringen, wie eine Amsel dein Weibchen zu finden und ihm deine Lieder zu singen.»

Alles dieses hörte ich laut in meinem Blut reden. Bei jedem Schritt, den ich über den feinen Sand in dem ebenen Garten tat, schluchzte mein Herz und klagte meinen Verstand an und sagte:

«Sieh und höre, was der Garten spricht. So wahr als die Sonne, die jetzt hier das leere Wasser in weißes glänzendes Feuer verwandelt, die Gartenbäume und den Rasen täglich anruft, daß sie blühen sollen, und so wahr es ist, daß dieser Garten der Sonne folgen muß und Blätter und Knospen treiben wird, so wahr ist es, daß ich dich anrufe und flehe: höre auf dein Herz. Du kannst es nie betäuben!

Ich rufe dich an wie die Sonne. Und dein Geist und dein Leib müssen mir folgen. Du kannst die Liebe nicht ersticken. Das ferne Gesicht jenes Mädchens, das du liebst, spiegelt sich in mir, in deinem Herzen, wie die Frühlingssonne hier im Wasserlauf und verwandelt mich in weißes Feuer. Geh heim jetzt und liebe und singe.» –

Und am Abend in Paris im hellgrauen Frühlingsabend, in dem kleinen stillen Gasthof, schrieb ich mein erstes Gedicht seit Monaten und wünschte inbrünstig wie nie diejenige herbei, von der heute im leeren Versailler Schloßgarten den langen Nachmittag das ganze Weltall zu mir gesprochen hatte.

Seit drei Tagen aber befand sich die, die ich fern in Schweden glaubte, in derselben Stadt wie ich. Das erfuhr ich am nächsten Tag, als ich ihr, die mir wie vom Himmel gefallen schien, mitten in Paris begegnete. –

 


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