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Nun habe ich die Weltanschauung, die sich von 1890 bis 1913 in mir ganz langsam ausbaute, mit diesen Zeilen dem Leser erklärt. Bewußt und unbewußt wuchsen die Gedanken in all diesen Jahren in mir auf. Jetzt, in meinem sechsundvierzigsten Jahr, da das Leben sich bald dem Abstieg zuneigt, wollte ich dieses Gedankengut, wie es heute in mir lebt, vor mir feststellen.
Seit jenem Abendspaziergang mit meinem Freund, dem jungen Philosophen, der mir im Frühling 1890 bei untergehender Sonne, am Main entlang, jene mir so wichtige Aussprache gab, habe ich diese Weltanschauung zuerst wie einen Keim wachsen gefühlt, und jetzt überragt sie mich wie eine Weltenesche, und ich sitze unter schützenden Gedanken, gelehnt an den festen Stamm meines gefestigten Schöpfungsbaumes und fühle mich im innersten Leben wohl und zufrieden, ruhig und reich.
Aber erst war ich nicht gleich zufrieden, als ich noch die Reste der Spinnweben, der alten unfruchtbaren Weltanschauung, in meinen Taschen und vor Augen hatte, und ich will erzählen, wie es mir da erging.
Auf jenem Abendspaziergang, im Frühling 1890, gab mir mein Freund mit den neuen Weltgedanken sozusagen das erste Goldstück meines heutigen Reichseins, und es hatte die Eigenschaft, daß es sich durch fast dreiundzwanzig Jahre ganz von selbst in meiner Tasche vermehrte.
Als ich in den ersten Wochen damals die Entdeckung machte, daß sich das Goldstück von selbst, ohne daß ich damit wucherte, zu vermehren begann, und ich merkte, daß das Gold, wenn ich in meine Tasche griff, meine Hand mehr und mehr anfüllte, da kam die lächerliche Gier über mich, das Reichwerden beschleunigen zu wollen. Und mit Jugendhast und Jugendfrevel verlockte ich meinen Freund, der bisher ruhig war und dem selbstverständlichen Wachsen des geistigen Goldes mit Selbstverständlichkeit zusah, meine Gier zu teilen und die Macht, die wir mit dem neuen Weltgedanken in uns trugen, zu versuchen und zu stürmischer Bereicherung anzufeuern.
Und das geschah an jenem Augustnachmittag, dessen Schilderung ich nun dem Leser so lange schuldig bin, daß er längst das Recht hat, sie ungeduldig von mir zu fordern.
Mein Vater wohnte im Sommer 1890 einige Wochen zu seiner Erholung auf jenem Gutshof am Nikolausberg. Es ist dies derselbe Hof, wo ich nach jenem Sturz verweilte und im Gartenzimmer einen Augenblick, an dem Weihnachtsbaum vorbei auf die Gartenterrasse schauend, mächtig an törichte Wunderversuche erinnert wurde, die ich damals mit meinem Freunde im Angesicht der Stadt Würzburg durchlebte.
Ich stand an jenem Augustnachmittag im Jahre 1890 an der Terrassenecke, halb auf der Mauerbrüstung sitzend und an die Fahnenstange angelehnt, die dort in der Ecke im Boden eingerammt ist. Ich war an diesem Samstagnachmittag auf jenes Gut gekommen, um meinen Vater zu besuchen, und sollte über den Sonntag bleiben.
Zwei Wege führen von der Stadt zum Gut herauf, und ich erwartete, auf einem derselben den Kopf meines Freundes auftauchen zu sehen, der zum Spätnachmittag heraufkommen wollte und bei mir sitzen wollte, während ich mich im Landschaftszeichnen üben würde.
Am Abhang vor der Terrasse lagen die Felder, hohes Korn und saftiger Klee windstill. Die Hitze des Tages lastete auch noch spät in der Nachmittagsstunde drückend auf jedem Halm, und im Westen hatten sich dunkle Gewitterwolken angesammelt. Aber die Täler und die Stadt im Tal lagen noch breit im glühenden Nachmittagssonnenschein.
Die Gartenterrasse, die sich haushoch an jener Ecke, wo ich stand, über den Bergabhang erhebt, war ein guter Aussichtsplatz, und man konnte sich hier leicht Herr der ganzen Welt fühlen.
Ich wurde endlich ungeduldig, weil ich zum Landschaftszeichnen von der Terrasse auf den Berg gehen wollte und mein Freund nicht kam. Ich hatte einige Tage vorher zu dem jungen Philosophen gesagt: «Ich finde, wir nützen deine neuen Weltallgedanken viel zu wenig aus. Du willst diese Gedanken nur auf die Chemie und auf die Physik anwenden, und ich soll sie nur auf die Dichtung anwenden. Wäre es nicht einfacher, wenn wir, um jene Gedanken einmal auf ihre Echtheit zu prüfen, – ich meine von ihnen besonders den Gedanken, daß wir Schöpfer und Geschöpf zugleich sind und keinen einzelnen Schöpfer über uns haben, – wäre es nicht möglich, wenn dieser Gedanke wahr ist, daß wir uns dann auch im alltäglichen Leben als Schöpfer gebärden müßten, so daß man alle diese Wunder spielend vollbringen könnte, welche zum Beispiel Christus vollbracht haben soll?»
So vermessen fragte ich, da ich den Begriff Schöpfer nicht im weitesten und nicht im tiefsten Sinne nahm und nicht begriff, daß ein weiser Schöpfer seine Schöpfung klug empfunden und erdacht hat und sich nicht in willkürlichem Wunderwirken ergehen wird, nachdem er weise und mit Liebe an seinen Werken tätig war.
Es wird keinem Bildhauer, wenn er ein Meisterwerk vollendet hat, einfallen, sich noch mehr Beweise seiner Schöpfungskraft geben zu wollen, indem er ganz unnütze und unnötige Änderungen an dem vollendeten Meisterwerke vornimmt. Indem er zum Beispiel Willkür walten läßt und plötzlich einem herrlichen Menschenbild, das er geschaffen hat, Ohr und Nase abhackt und das Ohr dorthin setzt, wo vorher die Nase und, und die Nase an Stelle des Ohres anbringt, und dieses nur, um sich zu beweisen, daß er tun kann, was er will, weil er Schöpfer ist. So unsinnig wird kein weiser Meister handeln.
So unsinnig aber forderte ich jetzt Verwandlungswunder, die mein Freund ausführen sollte als sichtbare Beweise für die neue Weltanschauung, weil diese sagt, daß wir Schöpfer und Geschöpf zugleich sind.
«Daß ich Geschöpf bin, habe ich immer gewußt. Nun will ich auch an mir erfahren, daß ich Schöpfer bin», so hatte ich zu ihm gesprochen. «Wenn du keine Wunder vollbringen kannst, dann bist du nur Geschöpf, und der Schöpfer lebt dann doch über dir. Beweise mir einmal deine Macht, oder beweise dir selbst deine Ohnmacht.»
Von dieser Sprache wurde der junge Philosoph gereizt. Es war ihm etwas ganz Unfaßbares – das sah ich ihm an –, daß ich mich nicht reich genug fühlte durch die Gedanken, die er in mir angeregt hatte, und die allmählich auf meine Lebensumwandlung und auf meinen Dichterberuf, dem ich im Innersten zustrebte, schöpferisch wirken sollten.
«Du wirst das Schöpferische an dir erleben. Warte nur, warte nur. So geht das nicht, wie du es dir denkst. Es kommt nicht auf Wunder im Leben an, sondern auf Bereicherung des Lebensfeldes, Bereicherung an Lebensverständnis. Mit Wunderwirken hat die neue Weltanschauung nichts zu tun. Wunder sind billige Verblüffungen für das gedankenlose Volk und nicht nötig für den Denker.»
«Gut», sagte ich ungeduldig, «dann rechne ich mich zum gedankenlosen Volk. Denn, was heißt unumschränkte Schöpferkraft anderes, als daß du tun und lassen kannst, was du magst. Christus ist übers Wasser gegangen, Christus ist in den Himmel gestiegen, Christus hat Wasser in Wein verwandelt. Und dieses vollbrachte er alles vor den Augen seiner Jünger, so sagt man. Und er tat dies, um sie gläubig für seine Weltanschauung zu machen und ihnen seine Macht zu beweisen.
Du willst, daß ich meine alte Vorstellungsmacht vom Schöpfer beiseitelegen soll und jeden Menschen als Teilhaber an der Schöpfungskraft erklären soll. Beweise mir dieses, daß wir Mitschöpfer sind durch Wunder. Steige vor mir zum Mond auf oder laß die Wolken, die da weiterziehen, plötzlich stillstehen. Tue irgend etwas Außergewöhnliches, und ich werde nie mehr an deiner Weltanschauung zweifeln und will ihr erster Jünger und erster Verkünder werden.»
Mein Freund sah mich bei dieser Aufforderung an, halb gekränkt, halb beleidigt und zuletzt ärgerlich. Dann aber änderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck, und er lachte sein altes Lachen wieder, ein wenig spöttisch und klug.
«Darauf war ich wirklich nicht gefaßt», meinte er immer noch lachend, «daß du darauf verfallen könntest, Wunder zu fordern. Ich habe mir noch nie überlegt, ob Wunder nötig sind, um die neue Weltanschauung, die die Mündigsprechung der Menschheit umfaßt, zu beweisen. Laß mich überlegen bis morgen, dann werde ich dir Antwort sagen.»
Und er schnitt kurz das Gespräch ab und sprach von etwas anderem, als wenn er meine Frage vergessen wollte.
Ich sagte ihm aber noch einmal eindringlich, daß ich es lächerlich fände, einen solchen Ausspruch in die Welt zu setzen, sich Schöpfer zu nennen, wenn man dann doch nicht mehr tun kann, als man bisher geleistet hat.
«Du bist noch nicht tief genug in die neue Weltauffassung eingedrungen», antwortete er mir kurz. «Die schöpferischen Leistungen werden sich ganz von selbst einstellen, aber nicht so, wie du sie erwartest, nicht als Wunder, sondern als neue Leistungen in der Weltvertiefung.
Deine Gedichte werden zum Beispiel ganz anders werden müssen, einen neuen Rhythmus, einen neuen Bilderreichtum und größere Verinnerlichung aufweisen als die Dichtungen jener Zeit, die sich auf den Standpunkt stellten, daß nur der Mensch ein gottähnliches Geschöpf sei, Tiere aber unvernünftige Wesen wären und nicht gottähnliche Geschöpfe, und daß Pflanzen und Steine und alle Gegenstände und Wolken und Licht für den Menschen tote Dinge bedeuten.
Diese Einseitigkeit der alten Anschauung, die immer nur von der Menschenseele sprach, aber die die Schöpfung rundum als seelenlos behandelte, als verstandlos und geistlos, dieser Auffassung wirst du jetzt als Dichter in deinen Gedichten die Kameradschaft aller Lebewesen gegenüberstellen.
Tote Dinge gibt es nicht mehr. Wie ich dir erklärt habe, ist alles von Schöpferkraft durchdrungen, alles aus äußerem und innerem Leben entstanden, und alles lebt ein äußeres und ein inneres Leben, das heißt, alles ist Geschöpf und Schöpfer zugleich und lebt so seit Unendlichkeit und in Unendlichkeit.
Dieser Friedensspruch, den die Versöhnung aller Leben mit sich bringt, die Gleichstellung aller Kräfte, die Aufstellung, daß jedes Ding dich besitzt und du wiederum auch alles besitzt, diese Erhellung und Bereicherung des menschlichen Daseins, die bisher noch nicht ausgesprochen und nicht bewußt erlebt wurde, diese Weltanschauung wird gegen die frühere Auffassung bei den Menschen Wunder wirken.
Das Leben wird reicher und festlicher werden nach der Befreiung von den alten unfreien Gedanken.
Die neue Weltauffassung, sie befiehlt dir nichts. Sie erklärt dir nur, wer du bist. Sie erklärt, daß du Schöpfer und Geschöpf bist, das heißt, daß du von dir abhängig bist, von dir und deiner Schöpfung. Sie sagt dir noch: du bist der Besitz aller, und du besitzt alles, das heißt, du bist den Gesetzen deiner eigenen Gesetze unterworfen, denn nur aus Gesetzen entsteht eine Schöpfung. Und als Geschöpf bist du abhängig von dir selbst als Schöpfer, und es ist selbstverständlich, daß du als Schöpfer deine Schöpfung liebst, wie du dich selbst liebst. Ohne Drohung, ohne daß ein «du sollst» und «du mußt» einer fremden Macht über dir lastet, sondern in weiser Freiheit, bist du dein eigener Herr, erkennst dich mitarbeitend am ewigen Leben und erkennst dich als das ewige Leben selbst. Du nimmst dann von selbst die natürlichen Verpflichtungen, die sich bieten, auf dich, zugleich mit deinen natürlichen Ansprüchen am Lebensfest.
Die alte Weltanschauung verlegte dein Heil in ein künftiges Leben nach dem Tode. Die neue Weltauffassung von morgen ruft dir ein ewiges Heil in jedem Augenblick zu. Du bist in einer Seligkeit geboren, sagt sie dir, du erlebst diese heute mit wie vor tausend Jahren und wie in allen kommenden Jahrhunderten. Sie erklärt dir: du warst, du bist und wirst sein Mitgenießer und Mitschöpfer.
Du brauchst nicht auf ein Heil zu warten. Du, Schöpferkraft, hast dich, Geschöpf, selbst festlich geschaffen, dich und die Schöpfung. Und müssen dich, Geschöpf, Sorgen bedrängen oder Leiden oder Strafen, weil du die Schöpfung nur aus Leiden und Freuden schaffen konntest, dann erlöst du dich als Schöpfer selbst, indem du die Gestalten wechselst, indem du dich, Geschöpf, verschwinden läßt und dich in einer andern Gestalt aufleben läßt. Von tätiger Freude zu tätiger Freude wanderst du. Dein Wesen ist die unerschöpfliche Schöpferlust und Schöpferkraft, dein Wesen ist die Ewigkeit, und deine Seligkeit heißt: Tätigkeit, Liebe und Weisheit in Unendlichkeit.»
So, nicht im Wortlaut, aber im Sinn, sprach mein Freund, der junge Philosoph, heftig auf mich ein. Ich ließ ihn reden und hörte nur verstockt zu, immer von der Gier nach den Wundern besessen, und ich war ein Tor, dessen Schatten erst über die Schwelle der Erkenntnis gefallen war, aber ich selbst stand noch draußen vor der Erkenntnisschwelle.
In meiner Jugendhitze wollte ich schnelle Taten sehen. Das Wort Schöpfer reizte mich. Ich wollte die Macht, die in diesem Worte lag, äußerlich vor mir aufleben lassen.
Und ich sagte plump zu meinem Freund: «Du verschanzt dich hinter vielen Worten, weil du ohnmächtig bist. Du redest von dem Wort Schöpfer und bist nichts als ein ohnmächtiges Geschöpf. Ich glaube dir nicht mehr. Es kann manches gut an deinen Erklärungen sein, aber seit Wochen hast du mich jetzt todmüde gemacht mit deinen immerwährenden Wiederholungen von Schöpfer, Geschöpf und Schöpferkraft.
Ich will und muß von der Kraft etwas erleben. Von deiner inneren Kraft bin ich überzeugt. Zeige mir jetzt auch äußere Kraft.» Und ich fügte noch, ihn reizen wollend, hinzu: «Der neue Freund, den du mir neulich vorgestellt hast, der Schweigende, er sagte auch, solange du dich nicht als Schöpfer beweisen kannst, bleibst du ein weltabhängiges Geschöpf.»
Im selben Augenblick fuhr es mir durch den Kopf: Hat sich denn der junge Philosoph nicht längst als Schöpfer bewiesen, indem er die «Weltauffassung von morgen» ausdachte; so nannte ich die neue Weltauffassung jetzt.
Aber ich übersprang diesen Gedanken rasch, immer auf die Wunder begierig, die mein Freund als Beweis seiner Macht vollbringen sollte.
«Du willst mich vielleicht gar nicht mehr als Freund anerkennen wollen», sagte er scherzend, als er sich verabschiedete, «wenn ich dir nicht ein Wunder zeige.»
«Nein», entgegnete ich, «ich werde mich für irregeführt halten, wenn du kein Wunder vollbringen kannst.»
Da sah er mich rasch an, und es war mir, als hätte ich ihn aufs äußerste gereizt.
«Also», sagte er plötzlich unvermittelt, «ich werde es mir nochmals überlegen. Vielleicht kann ich, wenn ich nächstens wiederkomme, doch einige Wunder vollbringen.»
Diese Entscheidung setzte ihn wieder in meine Achtung ein. Wir trennten uns mit einem kurzen Kopfnicken.
Nach dieser Aussprache waren einige Tage vergangen.
Nun saß ich auf der Terrassenecke und wartete. Beinahe bereute ich schon, daß ich den an äußerer Ruhe, Geduld und Weisheit mir so überlegenen Freund mit den heftigen Wünschen nach Wundern in die Enge getrieben hatte. Denn es waren bereits zwei Tage vergangen, oder war es eine ganze Woche – ich erinnere mich heute nicht mehr so genau –, seit er sich nicht mehr hatte sehen lassen. Er war öfters am Spätnachmittag auf das Gut gekommen, wo ich meinen Vater täglich besuchte und hatte mir beim Zeichnen zugesehen und geplaudert oder mit meinem Vater Schach gespielt.
Mit Spannung sah ich über die Äcker hinunter, ob ich nicht seinen Kopf bei der Buchenhecke am oberen Weg oder unter den Obstbäumen am unteren Weg auftauchen sehen würde. Der andere Freund, der Schweigende, hatte mir erzählt, daß er ihn lange nicht mehr in den Kollegs gesehen hatte, und hatte mich an diesem Morgen gefragt, ob der Philosoph krank sei. Diese Anfrage war am Telephon geschehen, und der Schweigende hatte gesagt, er wollte heute gegen Abend kommen und mir Nachricht über unseren Freund bringen.
Da hörte ich unterhalb der Terrasse den Kies des Weges knirschen, und als ich mich über die Mauerbrüstung bog, sah ich, bereits dicht am Gut angekommen, den jungen Philosophen. Aber sofort erkannte ich auch, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen war. Sein Gang war fahrig, sein Gesichtsausdruck war, als er mir jetzt zunickte, lebhafter als sonst. Er hielt ein weißes Taschentuch in der Hand, mit dem er sich unausgesetzt die Handflächen rieb.
Ein leichtes Gefühl von Schuld verdunkelte meine Gedanken.
Ein Gefühl von Bedauern und Ratlosigkeit begann mich zu quälen, denn ich hatte blitzschnell begriffen, daß der Wunsch, Wunder zu wirken, in meinem Freund jetzt stärker Fuß gefaßt hatte als in mir vorher; das sah ich seiner Veränderung an.
Ich sagte mir dann rasch, daß ich alles wieder rückgängig machen müsse. Es war, als hätte ich den klugen Freund mit der Wunderforderung kindisch gemacht. Und ich wollte ihm sogleich Abbitte tun und gern auf alle Wunder verzichten, damit er seine ruhige gelassene Haltung bei blindem Vertrauen in seine Weltanschauung zurückgewänne.
Ich sah auf einmal ein, daß er recht hatte, wenn er behauptete, daß seine Weltanschauung genug innere Wunder wirken würde, und daß man nicht äußerliche Verblüffungswunder von ihr verlangen sollte.
Unheimlich war mir das Taschentuch, mit dem er sich immer die Handflächen rieb, während er den letzten Rest der Wegstrecke am Bergabhang heraufstieg. Dann kam er herein in den Garten. Ich hatte ihm entgegengehen wollen, war aber an der Terrassenecke sitzengeblieben, um ihn beobachten zu können, und ich wurde mehr und mehr erschüttert.
Er nahm sein Augenglas ab und putzte die Gläser mit dem Taschentuch, und ich sah, daß seine Augen fieberten.
Er kam näher; er zwang sich zu lächeln, als wir uns begrüßten, aber sein Blick war nicht mehr ruhig und nicht in sich gekehrt wie sonst, nicht gefestigt und unerschütterlich. Seine Augen flackerten, als wären sie von einem Fieber entzündet.
Wir standen eine Weile nebeneinander, und jeder von uns überlegte, so schien es mir, um eine Gesprächseinleitung zu finden. Aber das Taschentuch blieb dabei nicht still in den Händen des jungen Philosophen. Es glitt von seiner einen Hand in die andere, und wenn er nicht seine Augengläser putzte, so rieb er sich die Handflächen. Und dabei konnte er nicht ruhig auf beiden Füßen stehen. Er stand bald auf dem linken, bald auf dem rechten Fuß, und ich fühlte mich immer schuldbewußter werden.
Plötzlich meckerte er ein Lachen, schielte mich ein wenig von der Seite an und sagte: «Nun, welches Wunder verlangst du zuerst von mir?»
Da wurde ich wie erlöst, weil ich glaubte, er scherze, und ich sagte rasch: «Ich bitte dich, vergiß diesen Unsinn von mir. Ich verlange gar keine Wunder. Ich verlange nur, daß du derselbe Mensch wieder bist, der du früher warst.» Und ich sah voll Angst das Taschentuch an, das da immer noch von seiner linken Hand in seine rechte wanderte und von der rechten in die linke Hand zurück.
«Du wunderst dich», sagte er und fing meinen Blick auf, «daß ich so unruhig bin. Aber ich habe in mir seit drei Tagen künstlich ein Fieber gesteigert. Ich habe Unmassen Tee und Kaffee getrunken und Zigarren und Zigaretten geraucht, um mich aufzurütteln.»
Während er dies sagte, befühlte er seinen Puls und stellte befriedigt fest, daß das Fieber immer noch stieg. Und er hielt mir seine rechte Hand hin, damit ich auch seinen Puls fühlen sollte. Das wollte ich aber gar nicht tun. Mein Herz klagte plötzlich, als läge es irgendwo wie ein verwundetes Wild im Dickicht. Dieser Mensch, sagte ich mir, zerstört sich, um seine Weltanschauung zu beweisen, die längst bewiesen ist. Denn sie ist dadurch bewiesen, daß sie den festlich stimmt, der sie ernst überlegt.
Ich wußte mir nicht mehr zu helfen. Er meckerte wieder ein unnatürliches Gelächter. Vielleicht ist er schon ganz von Sinnen, rief es in mir eilig und ratlos.
«Du willst ja Wunder haben, und das geht nicht nur so ohne Vorbereitung, wenn man sich mit der Sache noch nicht befaßt hat. Darum habe ich mich jetzt in diesen Tagen vorbereitet», fuhr er fort. «Laß uns mal eine Probe machen.
Ich will mal versuchen, ob ich vor deinen Augen fortschweben kann über die Stadt, über das ganze Maintal, hinüber auf die Berge da drüben.» Und er deutete auf den sogenannten «Kugelfang» hin, auf die Höhenfläche, die im Osten das Maintal abgrenzt und die Stadt Würzburg, die mit Türmen und Dächern reich im Tal ausgebreitet liegt. «Du mußt aber fest an die Möglichkeit glauben und keinen Augenblick an mir zweifeln», fügte er hinzu.
Ich wollte abwehren. Er sah es mir an, daß ich nicht mittun wollte und rief aus: «Nun, das ist noch schöner! Jetzt, wo ich mich vorbereitet habe, willst du gar keine Wunder haben. Aber jetzt gibt es keinen Rückweg. Jetzt will ich die Wunder haben», behauptete er. «Willst du nun daran glauben oder nicht, daß ich das Wunder fertigbringe?»
Ich verstand, daß er sich fest vorgenommen hatte, mich zu überzeugen, und daß ich ihn nicht abbringen würde von seinem Vorsatz, Wunder wirken zu wollen.
«Ach», sagte ich, «ich glaube dir alles. An meinem Glauben soll es nicht fehlen. Sage mir aber nur, warum du fortwährend deine Handflächen mit dem Taschentuch reibst?»
«Das will ich dir gleich erklären. Das tue ich, um die Elektrizitätskraft, die ich in meinen Fingerspitzen und in meinen Handflächen sich ansammeln fühle, an die Hautoberfläche zu bringen, um vielleicht so die elektromagnetische Stromverbindung mit der Ferne herzustellen, mit jenem Berge da drüben, zu dem ich mich jetzt durch die Luft bewegen will.»
Da mußte ich ihm antworten: «Ich habe mir das Wunder eigentlich ganz anders vorgestellt. Ich habe nicht geglaubt, daß du dich in einen Fieberzustand versetzen müßtest. Auch nicht, daß du dich vermittelst Elektrizitätskräften und Magnetismus auf den Berg über das Tal hinwegversetzen willst. Sondern ich dachte, daß dein einfacher Wunsch allein im gesunden alltäglichen Körper das Wunder vollbringen würde, das du deiner Schöpferkraft zu tun befiehlst.»
Da meckerte er wieder und schielte mich von der Seite an mit einem irren Blick, aus dem ich nicht klug wurde, ob mein Freund ernst war oder ob er scherzte.
«Du bist aber anspruchsvoll», höhnte er ein wenig. «Ich habe noch nie Wunder vollbracht und kann natürlich nicht sofort mit dem Wunsch allein arbeiten. Vielleicht, wenn ich einmal Übung habe, wird das möglich sein. Jetzt aber kann ich noch nicht ohne Vorbereitung eine Wirkung versprechen. – Nun wollen wir eine Gedankenkette herstellen», fuhr er fort. «Sieh da, der Stein an der Terrassenbrüstung ist noch warm von der Sonne, die ihn vorhin beschienen hat.
Lege deine beiden Hände flach auf den warmen Stein. Ich werde dasselbe tun. Dann benützen wir die Erdkräfte. Aber du mußt stark mit mir wünschen, denn ich glaube, daß dein Wunsch nach Wundern, weil er zuerst entstand, der kräftigere ist. Ich glaube, daß dein Wunsch mich eher hinüberheben wird auf den Berg als der meinige.»
Wir taten, wie er gesagt hatte. Aber natürlich rührte sich sein Körper nicht von der Stelle, und ich war auch ganz froh darüber, denn es war alles schon so unheimlich, daß, wenn auch noch ein Wunder sich ereignet hätte, wir wahrscheinlich alle beide unseren Verstand verloren hätten.
Nachdem wir eine Weile über das Tal hinüber auf den Berg gestarrt hatten, brach ich zuerst das Schweigen, da ich sah, wie seine Hände zitterten. «Laß es doch gut sein», sagte ich. «Ich glaube jetzt, daß es keine Wunder gibt. Streng dich nicht weiter an.»
Da wurde er aber böse, fuhr mich heftig an und rief geärgert: «Eben habe ich mich fortbewegen wollen! Ich fühlte schon meine Hände zittern, ich fühlte schon, daß ich in die Luft aufsteigen würde. Wenn du aber ungeduldig bist und keinen Glauben in mich hast, dann allerdings sind keine Wunder möglich.»
Mir wurde immer banger um seinen Zustand, denn er begann wieder dieselben heftigen Bewegungen mit seinem Taschentuch. Da sagte ich zu ihm: «Ich will jetzt auf den Berg gehen und zeichnen. Wir können ja ein andermal einen neuen Versuch machen. Für heute finde ich es genug.»
Das Seltsame war geschehen, wir hatten unsere Naturen vertauscht. Ich hatte seine äußere Ruhe angenommen, und er trug meine Wunderbegierde zur Schau. Ich sprach fast wie ein Philosoph und er wie ein junger Dichtersmann, der Märchen in der Welt erleben möchte und Wunderbarkeiten, weil ihn die Dichtersehnsucht mehr zum Unwirklichen als zum Wirklichen lockt.
Ich nahm meine Zeichenmappe und den Bleistiftkasten, der auf der Terrassenbrüstung neben mir gelegen, an mich, setzte meinen Strohhut auf und ging langsam voraus. Ich fühlte, daß ich meinen Freund auf andere Gedanken bringen mußte, damit der Fieberzustand ihn verlassen könne.
Er folgte mir zögernd und immer das unheimliche Taschentuch zwischen den Fingern zerknitternd.
Und als ich ihm sagte, er solle seinen Hut nicht vergessen, erklärte er mir, er habe gar keinen Hut mitgebracht, damit die Elektrizität aus seinen Haaren ungehindert ausströmen könne.
Allmählich fing ich an, fast Verachtung für seinen Zustand zu empfinden. Dieser Wunderwahnwitz, der ihn ergriffen hatte, grenzte ans Lächerliche. Diese Wundersucht hatte es fertiggebracht, den jungen, sonst so gern unauffällig und schlicht daherkommenden Mann ganz zu verwandeln.
Er war ohne Hut durch die Stadt aufs Land gewandert!
Eine Viertelstunde später saß ich unterhalb der Steinbrüche, die höher hinauf hinter dem Gutshof liegen, am Rande eines Akazienwäldchens, und ich zeichnete und plauderte von harmlosen Dingen, während mein Freund hinter meinem Rücken unstet umherging und kleine Steine aneinander und aufeinander klopfte. Das Gewitter, das am westlichen Himmel stand, grollte dort hinter einem Wald, immer näher herankommend.
«Hörst du», sagte der Unruhige, «das ist meine Elektrizität, die das Gewitter jetzt anziehen wird. Du wirst sehen, es wird sogleich über unsere Köpfe ziehen. Ich fühle, wie ich mit Elektrizität geladen bin.»
Ich ließ ihn reden, zeichnete ein wenig und sah mich dann erst nach dem Gewitter um. Aber als ich meinen Freund anblickte, erschrak ich. Er hatte sich die Stirnecken so heftig mit dem Taschentuch gerieben, daß seine sonst weiße Stirn zwei feuerrote Male zeigte. Er schien einen neuen Einfall bekommen zu haben und winkte mir.
Er hielt seine Krawattennadel in der Hand. Diese Nadel war ein Geschenk seiner Mutter. Es waren in Silber gefaßte Rheinkiesel daran, die stellten eine Rose dar. «Ich werde diese Rheinkiesel jetzt in Diamanten verwandeln», sagte er mit etwas geduckter Stimme, kicherte geheimnisvoll und setzte sich auf einen Feldstein.
Das Gewitter grollte jetzt dumpfer und näher. Der Himmel hatte sich verdunkelt, aber die Wolken waren noch nicht über uns angekommen.
«Ich fürchte für meinen Strohhut», sagte ich nachlässig, um abzulenken, und blickte zum Himmel.
Er meckerte wieder das mir so unangenehme Lachen, das er heute zum erstenmal mitgebracht hatte, und rief: «Jetzt ist der Augenblick da, wo ich dir beweisen will, daß ich ein Wunder wirken kann. Das Gewitter dort und die Elektrizität in mir treffen so günstig zusammen wie vielleicht niemals wieder. Wünsche nun mit mir, daß diese Glaskiesel sich in Diamanten verwandeln sollen.»
Ich sah ein, es war ihm nicht zu widersprechen. Ich gab ihm achselzuckend nach und wünschte, daß die Rheinkiesel, die er unausgesetzt mit seinem Taschentuch rieb, sich in Diamanten verwandeln möchten. «Du wirst sehen», sagte er eifrig, «dieses Mal wird ein Wunder geschehen.»
Ich wollte es gerne glauben. Da setzte er noch hinzu: «Du sollst dich nicht vor dem Gewitter fürchten. Ich habe die Macht, es abzulenken. Ich werde es nach der anderen Seite des Berges schicken.»
Im gleichen Augenblick blendete uns ein greller Blitz, den ich in den Augen meines Freundes sich widerspiegeln sah, und zugleich schien die Erde, wie lebendig geworden, sich zu schütteln und zu brüllen. Die Steine zitterten, und in den Büschen hinter uns sprang ein heulender Wind auf. Die dünnen Bäume des jungen Akazienwäldchens legten sich schräg und begannen alle laut zu pfeifen.
Mein Freund blieb bleich sitzen; er sah aus, als beleuchte der Blitz ihn noch immer. Und ich sprang fort und rief: «Wir werden hier erschlagen. Schnell fort.»
«Wie schade», rief er mir nach, «daß du dich so fürchtest! Das ist ja gar kein Gewitter. Das ist meine Schöpferkraft! Bleibe! Ich werde dir dann die Krawattennadel gleich verwandelt zeigen.»
Ich lief aber schon fort, während er das sagte. Und ich tat, als wären mir meine Zeichenmappe und auch mein neuer Strohhut im Augenblick wichtiger als die zweifelhafte Verwandlung der Krawattennadel. Denn es begann eben mit talergroßen Tropfen zu regnen.
Mit großen Sätzen sprang ich bergab dem Gutshof zu. Ich hatte mich nur einmal umgesehen und zufrieden bemerkt, daß mein Freund, immer das Taschentuch durch die Luft schwingend, mir eiligst folgte.
Im Gutshof unter der Haustüre erwartete ich ihn. Er kam aber nicht eilig, sondern kam gemächlich unter den großen Regentropfen dahergewandert und behauptete, er habe mit seinem Taschentuch den Regen von sich abgehalten. Und trotzdem ihm das Regenwasser von beiden Schultern lief, meinte er, er wäre gar nicht naß geworden.
Jetzt begann ich mich über all die Torheit laut zu ärgern, und ich hielt ihm seine Selbsttäuschung vor. Er aber sagte, er habe Herrlicheres erlebt, als ich mir vorstellen könne. Er sei jetzt ganz frei von der Elektrizität, die in ihm aufgespeichert gewesen, denn den Donnerschlag und den Blitz, die hätte er mit seinen Kräften hervorgebracht. Das Gewitter wäre nur Schein und Einbildung von mir gewesen.
«Jawohl», sagte ich, «und dein Rock, der jetzt auf den Schultern ganz naß ist, und der Regen, der dich bis auf die Haut durchnäßt hat, nennst du das auch Einbildung?»
«Das ist nur in deinen Augen so», entgegnete er mir. «Ich sehe keinen Regen an mir. Ich bin ganz trocken. Und dich hätte auch kein Regen eingeholt, wenn du mir vertraut hättest und nicht vorausgelaufen wärest. Denn ich ging trocken im Regen nach Hause, weil es mein Wille war, daß der Regen mich nicht berühren sollte.»
«Und die Krawattennadel ist vielleicht jetzt ein Diamant geworden», höhnte ich ein wenig.
«Du bist immer so ungeduldig», klagte er. «Wärest du nicht fortgelaufen, wäre der Kiesel längst ein Diamant. Der Stein hat sich aber wieder zurückverwandelt, weil du das Gewitter mit deiner Furcht unterbrochen hast.»
Ich wollte: «Unsinn» sagen, schwieg jedoch und sagte, ich wollte ihm einen Regenschirm holen, damit er auf dem Heimweg nicht naß würde. Er behauptete fortgesetzt, er würde nicht naß, er würde den Schirm nicht aufspannen.
«Denn wenn man von der Weltanschauung keinen Nutzen haben soll», lachte er, «dann ist ja die ganze Sache langweilig.»
Ich war erschüttert über den ihn erniedrigenden Ausspruch, den er da tat, und ich hätte aufweinen mögen. Seine Rede schnitt mir ins Herz. Er sprach von Nutzen und Vorteil. Während er früher nichts als die Erhabenheit seiner Gedanken erleben wollte, wollte er die Gedankenkraft jetzt in Diamanten und in irdischen Nutzen umsetzen. Aber schuld daran, das leugnete ich keinen Augenblick vor mir selbst, war ich.
Als ich im Hause in meinem Zimmer den Regenschirm holte, erschien mein Freund plötzlich unter der Tür und rief aus: «Ah, du hast einen eisernen Ofen im Zimmer! Ich habe zu Hause leider nur einen Kachelofen. Und wenn ich gestern einen eisernen Ofen im Zimmer gehabt hätte, hätte ich mein Waschwasser in Kölnisches Wasser verwandeln können.»
Ich wurde ganz traurig und ich ließ ihn reden. Er aber stellte einen Stuhl an den Ofen und bat mich, auf den Stuhl zu steigen. Ich sollte mit der einen Hand den Ofen berühren. Meiner anderen Hand reichte er den Zipfel seines Taschentuches hin.
Er behauptete, das Taschentuch sei jetzt mit seiner Elektrizität ganz gesättigt. Er hatte vorher Wasser in die Waschschüssel gegossen und hielt nun mit der rechten Hand das andere Ende des Taschentuches. Seine linke Hand aber tauchte er in das Waschbecken.
«Nun ist der Strom hergestellt», triumphierte er. «Soll ich nun das Wasser in Rosenwasser oder in Kölnisches Wasser verwandeln?»
Ich mußte beinahe auflachen. Aber er bat mich inständig, meine Gedanken zusammenzufassen, und wir entschieden uns, das Waschwasser in Rosenwasser zu verwandeln.
Plötzlich rief er: «Ach, ich habe ganz vergessen; du bist nicht isoliert genug. Ziehe deine Stiefel aus!»
Dagegen sträubte ich mich, und er ließ es dabei bewenden, daß ich die Stiefel anbehalten durfte.
Unser Anblick wäre für einen plötzlich Eintretenden äußerst komisch gewesen. Feierlich schweigend, bildeten wir die Stromkette vom Ofen bis zum Waschtisch, und als Verbindungsglied zwischen mir und meinem Freund schwebte das weiße Taschentuch.
Nach einer kleinen Weile sagte er: «Jetzt ist es genug. Jetzt muß die Verwandlung fertig sein.» Und er nahm von meinem Schreibtisch ein Stück Fließpapier, tauchte es vorsichtig in das Wasser, roch dann an dem durchtränkten Papier und behauptete, daß es einen schwachen Rosengeruch habe.
«Ja», stimmte ich bei, «es riecht nach Rosen im Zimmer.» Das war auch wahr, denn die Sonne war eben untergegangen, und durch das offene Zimmerfenster strömte der feine Atem der Rosenbüsche aus dem tiefgelegenen Garten herauf. Ich wollte meinen Freund aber nicht daran erinnern, daß dieser Rosenduft jeden Abend nach Sonnenuntergang ins Zimmer kam, denn ich war müde von der Narretei.
Er sagte dann ganz ernst: «Der Duft des Wassers wird wahrscheinlich nicht lange anhalten, denn es ist dies heute das dritte Wunder, an das ich meine Kräfte verschwendet habe, und die Elektrizität war nicht mehr stark genug in mir, um das Wasser bleibend in Rosenwasser verwandeln zu können. Schade, daß ich das Gewitter hinter den Berg geschickt habe. Wenn es über das Haus gezogen wäre, hätten wir seine Kraft mit zur Bereitung des Rosenwassers verwenden können.»
Ich sah hinaus. Der Himmel war klar, das Gewitter war verschwunden, und der Abend breitete sich friedlich über Felder und Gärten aus.
Sichtlich stolz auf seine Leistungen, steckte jetzt endlich mein Freund das Taschentuch in seine Brusttasche, und ich begleitete ihn zur Stadt den Berg hinunter. Ich wollte ihn in dem unklaren Zustand, in dem er war, wenigstens bis zum Stadttor folgen. Ich fürchtete, er würde unterwegs vielleicht im Felde sitzenbleiben und irgendein neues Wunder ausdenken.
Vor dem Burkardustor war damals ein großer Zimmerplatz am Mainufer. Dort lagen lange Baumstämme und Balken, zu Haufen geschichtet, auf dem Rasen. Als wir an dem Platz vorüberkamen, stand der Mond mit schwach leuchtendem Halbrund am Himmel. Es war dämmrig geworden, und das Mondlicht begann auf den glatten Stämmen des Zimmerplatzes zu glänzen.
Ich wollte mich jetzt von meinem Freund verabschieden. Da deutete er nach dem Mond und sagte: «Warte einen Augenblick! Ich will doch noch versuchen, dir noch ein ganz einfaches Wunder zu zeigen.»
Ich wollte nicht hinhören und sagte: «Mein Vater wartet mit dem Abendbrot auf mich. Ich muß eilen, um auf den Berg zurückzukommen.»
Mein Freund aber war schon auf einen Balkenhaufen geklettert. Schleunigst zog er, oben sitzend, seine Stiefel aus und stand nun da, aufgerichtet auf den Zehenspitzen, die Arme hoch zum Mond gehoben, während ich an dem Bach – der damals noch nicht überbrückt war – an einem Maulbeerbaum lehnte und dem Wundersüchtigen von weitem zusah und nun wirklich von Herzen wünschte, es möge ihm gelingen, vor mir in den Mond zu steigen, damit wir nicht mehr von den Wundern weitersprechen müßten. Es wurde dämmeriger. Wolken schoben sich vor den Mond, und einen Augenblick schien es wirklich, als wäre mein Freund im Dunkel verschwunden. Da wurde mir bang, und ich rief mehrmals seinen Namen.
Er war aber nur hinter die aufgestapelten Balken gestiegen und hatte dort seine Stiefel wieder angezogen. Nun kam er zurück und bewegte wieder lebhaft das Taschentuch in seiner Hand. Und er sagte: «Es wird mir gelingen, ich weiß es ganz gewiß. Jetzt ist es Halbmond, aber wenn es Vollmond ist, wird der Mond kräftig genug sein, mich zu sich zu ziehen.»
Dann nahm er ganz vergnügt Abschied, und wir trennten uns. Nachher auf dem Heimweg hinauf zum Gut, in der Stille des dunkelnden Heckenweges, atmete ich auf, als wäre ich einem Zauberer entronnen.
War die Welt nicht wundervoll, wie sie da im Sommerabend nach dem Gewitter in der gereinigten Luft vor mir lag auch ohne Wunder? War es nicht wundervoll, als Mensch zu wandern und sich Mensch und sich nur als Mensch zu fühlen? Warum sollte man fliegen oder Verwandlungen vornehmen?
Als wäre ich von einem Alpdruck aufgewacht aus einem quälenden Schlaf, so befreit fühlte ich mich jetzt auf dem Abendweg. In der Ferne stand der Schattenriß des Giebels vom Gutshaus am Bergabhang. Ein Lichtpunkt leuchtete auf der dunklen Terrasse. Am Himmel flimmerten ein paar vereinzelte Sterne.
War es nicht Wunder genug, zu wissen, daß man lebte?
Der Lichtpunkt auf der Terrasse und die Lichtpunkte der Sterne waren einander ähnlich, und doch wußte ich, die Lichtpunkte oben am Himmel waren riesige Weltenkörper, und auf der Terrasse unten stand nur eine kleine Petroleumlampe auf einem gedeckten Tisch, auf dem das Abendbrot wartete.
War das nicht Wunder genug, daß riesige Welten klein wie Lampen werden konnten, klein wie eine Lampe, die auf einem Menschentisch steht?
Beim feierlichen Bewundern der Lebensdinge werden alle Leben Wunder! Heute kann ich mir mein Empfinden in Worten ausdrücken. Damals genoß ich es ohne umfassendes Wort.