Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Noch immer liege ich nach dem Sturz mit steifem, schmerzendem Bein im Bett. Aber ich bin erstaunt, wenn ich feststelle, daß ich Wochen am selben Fleck gelegen habe. Es ist mir, als hätte ich keinen Augenblick stillgelegen, denn ich bin Meilen über Meilen in das Jahr 1890 zurückgewandert.

Ich erlebte nach dem Sturz in den wenigen Minuten im Gartensaal des Gutshofes, als ich meine und meines Freundes Photographie dort stehen sah, blitzartig jenen Augustnachmittag wieder und die wirren Wunderversuche des jungen Philosophen.

Die Glocken schweigen jetzt mittags, denn die Zeit des außergewöhnlichen Trauergeläutes für den verstorbenen Prinzregenten ist abgelaufen. Die Glocken haben mich gut in die alten Zeiten hineingesungen, so daß ich sie im Geiste immer weitersingen höre, auch wenn sie mittags nicht mehr läuten und nicht mehr melodisch brausend mein Zimmer umkreisen.

Kaum aber kann ich noch glauben, daß ich bereits im Jahre 1913 lebe, denn ich habe auf der Erde noch keinen Schritt in diesem Jahr getan. Nur meine Gedanken marschierten.

Dreiundzwanzig Jahre, die mich vom Jahre 1890 trennen, sind verschwunden, als wenn sie nie gewesen wären. Ist das nicht auch eine Festlichkeit, keinen Schritt mit seinen Füßen in der Gegenwart tun zu können und im Geist bei den Geistern alter Jahre Spaziergänge zu machen mit frischen Jünglingsgliedern?

Und ist das nicht auch eine Festlichkeit, daß ich bei den Erinnerungen die Schmerzen der Gegenwart ganz vergessen und mein Buch beginnen konnte?

Das ist ein großes festliches Wunder, daß die Zeit des Menschen Wunsch gehorchen muß, und daß der Mensch der Gegenwart Schmerzen in Vergessenheit verwandeln kann.

Es ist mir das eine neue Bestätigung dafür, daß das Leben in Leid und Freude ein Fest ist.

Und ich muß es immer wiederholen: Das Leben ist unter allen Umständen ein Fest.

Für den Armen und für den Reichen, für den Lebenden und für den Sterbenden ist es festlich, wenn wir es nicht bloß mit äußeren, sondern auch mit inneren Kräften erleben und uns Schöpfer und Geschöpf zugleich fühlen wollen.

 

Mein Lebenslauf in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war folgender:

Nachdem ich mein Vaterhaus Weihnachten 1891 verließ, flüchtete ich fort aus den Bürgerkreisen zu den «hundertjährigen» Männern. Ich meine damit diejenigen Dichter und Denker, denen ich teils in Büchern, teils in der Wirklichkeit begegnete, jene, die reif und weise geboren sind, wenn sie auch noch einen jungen törichten Körper haben, jene, die einen bestimmten Grad von Unsterblichkeit besitzen, auch ehe sie ihr Lebenswerk vollendet haben.

Bis 1890 war ich im alten geistigen Deutschland aufgewachsen, im Deutschland von Schiller und Goethe, im Deutschland der Idealisten. Ich hatte noch keine Ahnung, daß dieses nicht mehr das heutige geistige Deutschland war, trotzdem ich empfand, daß die Gedichte, die ich bisher gelesen, wie ein alter, vererbter Familienschmuck wirkten, und daß sie auf ihrem Glanz und in ihrer Sprache bereits eine dicke Patinaschicht trugen. Und auch alle die Gedichte der späteren Romantiker brachten eine süße Friedlichkeit mit, wie die alten Mahagonischränke sie ausströmten, in denen jene Bücher ihre Behausung hatten.

Körner und Kleist, Hauff und Mörike, Uhland und Rückert, Heine und Klopstock, ihre Bücher waren gütig und ehrwürdig und von der Vergangenheit geheiligt und gaben dem Zimmer, in dem sie standen, eine glückliche Ruhe und eine Weltferne. Und dieses wunderte mich nicht, denn sie waren aus alter Zeit. Aber daß die neueren Schriftsteller, die der sechziger und der siebziger Jahre, einen süßen Vergangenheitshauch in ihre Sprache legten, als wären ihre Bücher unter der Feder alt geboren, während die Worte noch tintennaß waren, das fiel mir unangenehm auf. Die Schriftsteller der achtziger Jahre dagegen, die, statt mit Tinte, mit Tier- und Menschenblut zu schreiben schienen, wirkten auf mich erlösend.

Ich hörte eines Tages zwei Herren in Würzburg vor mir auf der Domstraße zueinander sagen: « Zola, dieses Schwein, sollte in Deutschland verboten werden.» Und ich wurde stutzig, denn die Gesichter derer, die das sagten, waren derart empört, daß ich sofort begriff: wenn diese Bürgerleute sich so aufregten, dann würde jener Schriftsteller – dessen Name ich oft gehört, aber von dem ich noch kein Buch gelesen – sicher sehr ernsthaft sein.

In denselben Tagen war auch die Welt erfüllt vom Geschrei über Tolstois «Kreutzersonate». Und es hatten sich, wie für und gegen Wagners Musik, Streiter für und gegen die «Kreutzersonate» in allen geistigen Kreisen des Landes aufgemacht.

Kühler lassend, aber auch aufrührerisch, wirkte das Auftreten Björnsons, der in seinem Buch «Der Handschuh» zum erstenmal die Forderung aufstellte, daß der junge Mann seine Keuschheit bis zum Hochzeitstage ebenso streng bewahren müsse, wie das junge Mädchen.

Die Erde schien in jenen Tagen dem geistig Miterlebenden im tiefsten Geiste stündlich zu erzittern. Dem sicheren Gesellschaftsleben war außerdem in dem noch unsicher schwankenden Geist des neue Menschenrechte fordernden Sozialismus ein Gespenst erstanden, und nur die Dichter wurden vorerst angelockt von der noch unbedichteten Zyklopenwelt des Arbeitertums.

Bei verweichlichten Gemütern mußte jedes Buch dieser neuen Gattung einen Schrecken erzeugen. Das Wohlbehagen der Bürgerlichen wurde gewaltig gestört durch die neuen Armuts- und Arbeitergestalten, die, ungewaschen und ungekämmt, verhungert und ungehobelt, in Fabrikluft schwindsüchtig und elend geworden, aber mit unverheuchelt ehrlichen Lebens- und Liebestrieben versehen, das Erbarmen und die Bewunderung der Dichter gefunden hatten.

In Deutschland konnten darum damals gute Bürger Zola auf offener Straße ein Schwein nennen! Auch Gerhart Hauptmann und Holz und Schlaf, die drei ersten deutschen Verkünder des Wirklichkeitslebens in Dramen und Romanen, waren von der sogenannten guten Gesellschaft noch geächtet, als könnten sie mit ihren Büchern die Leprakrankheit in Haus und Theater verbreiten.

Außerdem war da noch der Philosoph Nietzsche aufgetaucht. Ich sah zum erstenmal in der «Gesellschaft» – die M. G. Conrad mit mächtigem Sturm und Drang stark und mutig begründet hatte – das Bild Nietzsches, des Dichterphilosophen, im Lesesaal der Würzburger «Harmonie» im Jahre 1891, und zugleich war da ein begeisterter Aufsatz mit einer kurzen Angabe aller seiner Werke und mit der Nachricht, daß der große Mann geistig umnachtet bei seiner Mutter in Naumburg lebe und wahrscheinlich nie mehr die Klarheit seiner Gedanken zurückerhalten werde.

Ich eilte vom Lesesaal sogleich zur Stubertschen Buchhandlung und verlangte dort Nietzsches Werk «Also sprach Zarathustra». Niemand in der Universitätsbuchhandlung kannte den Namen des deutschen Philosophen. Man bestritt sogar, daß ein Philosoph dieses Namens in Deutschland lebe oder gelebt habe. Man behauptete, ich müßte mich im Namen geirrt haben. Man lächelte und schrieb den Namen, den der Universitätsbuchhändler und die ihn umgebenden Herren noch nie gehört hatten, nur ungern auf.

Man wird sich das heute kaum vorstellen können, heute, wo jeder einigermaßen gebildete Student Nietzsches Namen so gut kennt, wie ein Musiker Richard Wagner kennt.

«Den Philosophen Nietzsche, den Sie verlangen, kennen wir nicht. Nehmen Sie doch die Werke eines anderen», so riet man mir in jener Buchhandlung. «Einen Philosophen Nietzsche gibt es gar nicht, und wir werden uns nur lächerlich machen, wenn wir nach Leipzig schreiben. Bestellen Sie doch ein Werk von Kant oder Spinoza. Bei diesen Namen sind wir sicher, daß wir Ihnen die Werke verschaffen können.»

Ich dankte für den billigen Rat und wollte gehen. Da ersuchte man mich gnädigst, den Namen noch einmal aufzuschreiben. Drei Tage später bekam ich aus Leipzig das Buch.

Nietzsche war bereits geistig gestorben, aber sein Werk stand vollendet da. Ist es dann nicht erstaunlich, daß damals bloß die geistigen oberen Zehn, die sich um M. G. Conrads «Gesellschaft» sammelten, den Namen Nietzsche kannten und im Besitz seiner Werke waren? Während fünfzig Millionen Deutsche, die ahnungslos das Kommen und Gehen eines deutschen Geisteszyklopen miterlebt hatten, so wenig von ihrem großen Zeitgenossen wußten und so wenig an seiner Arbeit beteiligt waren, wie wenn ein fernes Sonnensystem im Weltall untergegangen wäre, von dessen Glanz und dessen Erlöschen nur einige Sternwarten der Erde Kunde hatten.

Und ich frage mich: woran liegt dieses auffallende Unbeteiligtsein der gebildeten Massen an der Entwicklung großer Männer und ihrer Geistesarbeit? Erst wenn ein Lebenswerk vollendet ist, erst wenn manche Geister irrsinnig werden vor Überanstrengung und vor Qual über den Unverstand und die Teilnahmlosigkeit, auf die sie stündlich stoßen müssen, erst dann wird die heutige Gesellschaft in breiteren Massen auf sie aufmerksam. Selten aber werden junge einsame Geisteshelden von ermutigenden Zurufen, von der Spannung und Erwartung eines ganzen Volkes durchs Leben getragen. Jene jungen Männer sind die einsamsten Söhne ihres Landes, und, wie ich schon zu Anfang dieses Buches sagte, sie müssen durch Wälder von Dornen wandern.

Heute weiß ich mir die Teilnahmlosigkeit der Nation zu erklären. Der Hauptgrund, daß das Verachten oder Übersehen starker junger Männer in einem Volke möglich ist, beruht auf einer unglücklichen Weltanschauung der Menschheit. Würden die ungeheuren Kräfte und die ungeheure Aufmerksamkeit, die die Gesellschaft graugewordenen Idealen zuwendet, dem Weltfestlichkeitsideal zugewendet, so würde eine größere Festlichkeit des Geisteslebens das Völkerleben verklären, und die Schwungkraft des Geistes aller Gesellschaftskreise würde sich erhöhen. –

Kühnheit und umwälzende Neuheit waren die Kennzeichen aller bedeutenden Bücher der achtziger und der neunziger Jahre. Diese neuen Werke wirkten, wenn man sie mit den auf einer alten Weltanschauung fußenden Werken der Klassiker verglich, wie Dynamitpatronen im Bücherschranke.

Zugleich mit dem umwälzenden Geist des Schrifttums waren in jener Zeit die Frauen teilweise der Madonnenhaltung müde geworden, und auch der Geist der Frau wollte am öffentlichen Leben teilnehmen. Die Zeit gärte, und es wogten im Geistesleben jener Tage zwei Strudel auf und nieder. Künstlerbewegung und Frauenbewegung, beide von Schöpferkraft angefeuert, hielten die öffentliche Meinung in Atem.

Von der Republik Amerika kam dazu das Wort Arbeit wie ein festliches Schlagwort herüber, und Europa echote: «Arbeit», und der Arbeiter wurde zum Ritter in der Phantasie der Dichter. Und die Frau wollte nicht zurückbleiben und wollte zur Arbeiterin werden. Sie, die vorher nur im Hause Mutter und Dame gewesen war, sie suchte sich jetzt auch einen Wirkungskreis außer dem Hause.

Ich muß gestehen, daß ich im Jahre 1890 noch herzlich wenig von all diesen geistigen Umwälzungen, die in der Welt vorgingen, wußte. Ich hatte bis zu meinem dreiundzwanzigsten Jahr von Gefühlsfragen und von Geistesfragen, die das Weltbild von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Jahrtausend zu Jahrtausend umgestalten müssen, nur eine Ahnung bekommen aus der Geschichtsstunde der Schule oder aus den Gesprächen meines Vaters über Politik. Sonst aber war die Welt bisher für mich scheinbar vollkommen gewesen, unerschütterlich nach biblischen Vorbildern aufgebaut, die vom Staate gutgeheißen und von den Dichtern mit Phantasie durchdrungen und besungen worden waren.

In der Privatier- und Universitätsstadt Würzburg sah man nicht das Elend und den Haß der Armen gegen die Reichen, der in Fabrik- und in Bergwerksgegenden damals zuerst aufschrie. Denn die Kaufmanns- und Rentierbevölkerung, die Beamten, Professoren und Offiziere, dazu die unbekümmerte Studentenschaft gaben dem Stadtbild, bei Weinbergen und altersgrauen Kirchen, den Frieden einer Lämmerhürde.

Das Wort Streik kannte man nur aus Zeitungen. Auch von der Frauenbewegung und Dichterbewegung kamen damals nur die Echos in Zeitschriften oder Zeitungen zu den stillen Gestaden meiner Vaterstadt. –

Außer einer Würzburger Zeitung hatte ich kaum einmal in einem Kaffeehause eine andere Zeitung in der Hand gehabt, bis ich von dem einen meiner beiden Freunde, von dem Schweigen, den, eines Tages auf das «Berliner Tageblatt» aufmerksam gemacht wurde. Ich höre noch seine Worte, als er sagte: «Im Feuilleton dieser Zeitung ist immer von einer Literatur die Rede, die nichts mit der alten Zeit zu tun hat. Diese Kreise, die in einem neuen Geist schreiben, solltest du aufsuchen.»

Ich hatte jene Literatur bereits aus der Zeitschrift «Die Gesellschaft» kennengelernt, aber ich war wie jeder Anfänger scheu und wollte erst meine eigenen Kräfte sammeln und meine Eigenart ausgeprägt haben, ehe ich mit jenen fremden Kreisen in Verbindung trat, die mir vielleicht zumuten würden, ihre Eigenart anzunehmen. Und ich war ängstlich, mein schriftstellerisches Ich zu hüten, bis es mir soweit ausgebrütet schien, daß es eine Persönlichkeit bekommen hatte.

So ließ ich es beim Lesen und Wiederlesen von Jakobsens Niels Lyhne beruhen. An diesem Buche bildete ich zuerst meine Schreibweise, und zugleich kam mir Niels Lyhnes Weltanschauungskampf, der zwischen dem Glauben an den alten Gott und dem Glauben an die Menschenvernunft schwankte, nahverwandt vor. Denn auch ich wog, ähnlich wie Niels Lyhne, noch immer die alte und meine neue Weltanschauung stündlich ab, schwankend zwischen der qualvollen Lehre der Erbsünde, der Verdammnis und der Belohnung nach dem Tode, und jener festlichen Denkweise, die mir erlaubte, mich Schöpfer und Geschöpf eines ewigen Weltfestes zu fühlen, zurückgeführt auf die Atomkraft aller Dinge.

Und so wie die Bücher der deutschen christlichen Klassiker nicht mehr in der Mauserzeit meiner Weltanschauungen auf mich wirken konnten, da sie mir in der gärenden Zeit zu christlich gottergeben vorkamen, so konnte ich auch selbst nicht mehr den Wunsch hegen, ähnlich dichten zu wollen wie die Dichter der alten Weltanschauung, die da in Reihe und Glied die Familienbücherschränke eines jeden deutschen Hauses füllten und den eisernen Geistesbestand meiner Zeit darstellten.

Solche Bücher kamen mir damals vor wie die jahrhundertalten Festungswerke der Stadt Würzburg, die schweigend behaupteten, für alle Jahrhunderte gut und nützlich zu sein und den Feind, den Erbfeind abwehren zu können. Sie sahen auch sehr trutzig drein, diese prächtigen Wälle, die von den klügsten Geistern ihrer Zeit zur Abwehr ausgedacht waren und stattlich und unerschütterlich schienen, als könnten sie noch Jahrtausenden trotzen.

Das Stadtleben aber, das sie schützen wollten, engten sie mit der Zeit so ein, daß die Bevölkerung, die weiterwuchs und immer licht- und luftbedürftiger wurde, durch Raummangel jeden Tag verheerende Krankheiten ausbrechen sehen konnte, hervorgerufen durch Menschenanhäufungen.

Und dieselben Wälle, die dem Feind wehren sollten und ihre Bürger retten vor dem Tod durch Feindeshand, sie wären schuld geworden, daß der Tod sich von selbst in der Stadt geboren hätte, wären sie nicht niedergelegt worden. Denn sie waren jetzt nicht mehr die Verteidiger, sondern die Feinde der Bürger, deren Kindern und Kindeskindern sie den Lebensatem und die Lebensfrische unfreiwillig raubten.

Ebensolche Wälle schienen mir die vorsichtig gehüteten Geistesgüter der Vergangenheit und einer alten Weltanschauung zu sein. Die neuen Bücher dagegen, wenn sie vielleicht auch nicht bleibende Grundsteine zu neuen Mauern waren, so brachen sie doch wie Dynamitpatronen Breschen in das veraltete Geistesbollwerk der europäischen Nationen.

Die neuen Schriftsteller, die diese aufrührerischen Bücher schrieben, wurden aber zur damaligen Zeit noch vom Adel sowohl als vom Bürger und vom ganzen Volk, gleich den Geächteten, für vogelfrei erklärt. Das Wort «Schweine!» war noch das mildeste, das man ihnen nachwarf.

Und so wie sich damals Familien und Freunde in der Musik über Richard Wagner zerkriegten, so entspannen sich in der deutschen Dichtung über Gerhart Hauptmann und die Jüngsten geistige Bürgerkriege, die in allen Gesellschaftskreisen mit heftigem Dafür und Dagegen ausgefochten wurden, – gar nicht zu sprechen von Nietzsche, dessen Name noch lange in Bürger- und Volkskreisen so unbekannt blieb, wie er es jenem Universitätsbuchhändler in Würzburg im Jahre 1890 gewesen.

Auch Nietzsches Buch «Jenseits von Gut und Böse» schlug wie mit Keulen an die guten alten Bücherschränke. Und es war eigentlich kein Wunder, daß an der Provinzuniversität der Name eines solchen Umwerters aller Werte noch unbekannt blieb, auch nachdem der Zyklopengeist dieses Denkers bereits aufgehört hatte, dem Leib zu gehorchen.

Es war so viel Gärstoff in jener Zeit, so viele große Männer waren an der Arbeit, daß, wer sich nach Geistesnahrung sehnte, reichlich genährt wurde.

Zu jedem Weihnachtsfest gab Ibsen ein neues Drama heraus. Björnson und Tolstoi behaupteten große Wahrheiten. Und Strindberg, der damals noch an der Züchtung seiner gewaltigen Eigenart arbeitete, stand in der Mitte seines Lebens und hatte noch seine mächtigsten Arbeitsjahre vor sich.

Liliencron fing eben an seine stürmischen und weltfröhlichen Lieder zu singen. Er trat erst mit vierzig Jahren als Dichter auf.

Die meisten der Genannten haben sich aber heute auch schon in jene alten Bücherschränke eingebürgert, und sie sind die Klassiker der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geworden; das deutsche Volk hat sie bereits in Gnaden aufgenommen, dasselbe Volk, das sich damals gegen ihren neuen Geist gewehrt hat.

Das Deutschland der blauen Ritterromantik und einer bleichsüchtigen Griechentumverehrung ist in jenen Jahren abgelöst worden von jenen Männern, die tapfer und furchtlos gegen Geistesverweichlichung weiter Bürgerkreise wie junge Ritter mit den Arbeitern Schulter an Schulter kämpften. –

Ich wollte mit diesen letzten Zeilen kurz eine Erinnerung des Geistesgesichtes jener Umsturzzeit geben. Ich habe auch nicht alle Geisteshelden jener Zeit genannt, sondern nur einige Schriftsteller und wollte nur das Zusammenwirken jener Titanen dem Leser in Erinnerung rufen, damit er Fuß fassen kann und meinen Weg leichter miterleben kann, den ich ihn jetzt durch die Jahre nach 1890 bis zur Jahrhundertwende führen will.

Ich habe im ersten Teil des Buches bereits gesagt, daß sich Stöße von Notizbüchern bei mir ansammelten, da ich die täglichen Spaziergänge, Gespräche und so weiter im Jahre 1890 niederschrieb und die Eindrücke in neuen Vergleichen festzuhalten versuchte. Es waren dies Übungen, wie ein Maler sie beim Aktmalen und der Musiker sie bei der Kompositionslehre vielleicht ähnlich vornehmen muß.

In meinen ersten Prosaversuchen hielt ich mich nicht an die alte Erzählungskunst der Klassiker, sondern an die neue Erzählungskunst, die mit Jakobsens «Niels Lyhne» mir zum erstenmal bekannt geworden war. Diese Kunst verweilte nicht bloß am Wege, um notwendige Dinge zu schildern, die dem Fortgang der Erzählung nützlich waren. Auch vertiefte sie sich nicht in moralisierende Betrachtungen zum Beispiel beim Ansehen eines Sternhimmels, einer Blume, des Meeres und so weiter, wie es die Dichter des achtzehnten Jahrhunderts mit Vorliebe getan. Sie beschrieb auch nicht die Dinge nur der Schönheit halber, sondern es war ihr darum zu tun, künstlerisch Leben zu geben, vertieftes Weltsehen, das in den leisesten Bewegungen eines Blattes, eines Baumes, das im Summen einer Biene und in der Zeichnung eines Gesichtes festliche Erlebnisse findet. In alles Weltalleben vertiefte sich mehr als in irgend einem Jahrhundert diese neue Schreibart. Die früheren Zeiten beschrieben ein Frauengesicht nur, um seine Schönheit zu schildern, oder um festzustellen, daß jene Frau gut oder böse sei.

Nun aber enthielt man sich jedes Urteils. Die Neuen zeichneten ihre Personen, wie ein Maler sein Modell zeichnet, das ihn anregt, und dem Schuld oder Unschuld desselben gleichmäßig künstlerisch anziehend ist. Man lud keinen Fluch mehr auf die Handlungen des Menschen und übte keine offensichtliche Belobung ihrer guten Eigenschaften.

In dieser Weise schrieb Jakobsen seinen «Niels Lyhne», der für eine ganze Reihe von jungen Schriftstellern der neunziger Jahre gleichsam als die Schöpfungsgeschichte einer neuen Schreibkunst galt. Jacobsen, der Naturwissenschaftler, der Botaniker, faßte die Menschen so behutsam wie Pflanzen an, die Menschen seiner Bücher, und schilderte ihre leisesten Handlungen mit einem feinen Beobachten, als galt es, Pflanzensorten zu bestimmen.

Seine durchaus nie verdammende oder beschönigende Art glich der Art eines Arztes und nicht der eines Richters. Wie ein Arzt, der, seelen- und körperkundig, die Fehler nachsichtig Schwächen nennt und die Schönheiten nicht überschätzt, sondern auch diese mit Augen betrachtet, welche die Vergänglichkeit aller Lebensformen nur zu gut kennen, und der darum nicht übermäßig begeistert und nicht übermäßig verurteilend auftreten kann, so war Jacobsen als Schriftsteller. Seine Art gewann damals rasch die Herzen vieler der jüngeren aufwachsenden Dichter. Die Seelenkunde in den neuen Büchern schien ein großer Fortschritt zu sein gegenüber der moralisierenden Schreibart der Vergangenheit und gegenüber dem einfachen Richtertum, das selten über gute und böse Helden hinausgekommen war. –

Die meisten jungen Dichter der achtziger Jahre mußten mit einem Doktortitel versehen in die Welt treten. Denn das Wort Dichter stand tief gesunken im Ansehen des Volkes, und die komische schmachtlappige Dichterfigur, die Wilhelm Busch im Dichter Bählamm geschaffen hat, spukte immerfort in den Gehirnen der Dichter, die, überfüttert von verweichlichter Lyrik, deutlich ihren Ekel und Spott zur Schau trugen, wenn man von jemandem sagte, er dichte.

Heute ist es ein wenig besser geworden. Man ahnt wieder, daß die Dichter ernste Männer sind, arbeitsame, kräftige Naturen voll Wirklichkeitssinn. Man ahnt wieder, daß das Wort «Dichter» nicht mit dem Wort «Schmachtlappen» verwechselt werden darf, und daß wirkliche Dichter Kraftnaturen des inneren Lebens bedeuten, so wie große Feldmarschälle, große Diplomaten und große Herrscher Kraftnaturen des äußeren Lebens darstellen.

Wenn ein Dichter leiser auftritt als ein anderer Mann, wenn er träumender umhergehen muß, so ist es, weil er das wirkliche Leben äußerlich rascher aufgenommen hat als die anderen, blitzartiger, und weil in ihm die Gedanken und Gefühle dann tosen. Diesem inneren Gewitter seiner Gedanken und Gefühle muß er nachhängen und muß äußerlich oft verstummen und sich selbst zuhören.

Jeder wirkliche Dichter wird demütig gemacht von der Wucht, Ehrlichkeit und Eindringlichkeit seiner Gedanken und Gefühle, die ihm die Melodie des Lebens schon offenbaren, wenn die andern nur erst Lärm und Wirrnis sehen. Andere werden vielleicht demütig gemacht durch Niederlagen, durch Notlagen, Enttäuschungen und durch gewaltsame Demütigungen von außen. Der Dichter wird demütig gemacht von seiner Dichterstimme, die ihn fortwährend begleitet, als trüge er die Weltorgel in sich, auf der er den Lärm der äußeren Ereignisse in innere Töne auflöst.

Die Zerstreutheit eines Dichters, seine geistige Abwesenheit, der scheinbare Hochmut, der über seiner Haltung oft unbewußt liegen kann, die Ungeduld und der scheinbare Größenwahnsinn und sein Stolz – alles sind Zustände, wie sie die andern Menschen vielleicht kaum zehnmal in ihrem Leben kennenlernen, ein Zustand, wie ihn ein Feldmarschall während einer Schlacht empfinden muß, wenn diese noch zwischen Sieg und Niederlage schwankt. Der Dichter ist in jedem Augenblick auch ähnlich einem Erfinder, der nahe daran ist, der Welt eine Entdeckung zu offenbaren, und den nur noch fünf Sekunden von dem Recht trennen, darüber aufgeklärt zu werden, ob er sich in seinen Voraussetzungen geirrt hat oder nicht.

In diesem steten Schöpferzustand, in diesem ununterbrochenen Schöpfungsfieber bewegt sich das Leben des Dichters vom ersten Gedicht bis zum letzten. Er erledigt das äußere Leben blitzartiger, vorausfühlend und vorauswissend, wo die andern erst an der Tür des äußeren Ereignisses stehen. Aber die Verinnerlichung, in der er zum zweitenmal die äußeren Erschütterungen in sich lautlos nachleben und in Worte und Rhythmen bringen muß, ist ihm wichtiger und scheinbar wirklicher.

Ein Dichter im Verkehr wirkt deshalb immer unbequem, rätselhaft und ungelenk. Er scheint nur mit dem einen Fuß mitzutanzen, während die andern mit beiden Beinen Lebensgaloppaden ausführen.

Ein ernster Dichter wird immer den Frauen und den Männern ungesellschaftlich vorkommen, denn während sie ihn noch im Gewande oder in den Melodien seiner letzten Werke sehen und ihn darüber befragen möchten, hat seine innere Welt längst neue Töne angeschlagen, und er kann den Fragenden nicht einmal mehr antworten, da er fortgerückt und tief benommen ist von dem neuen Schöpfungsfieber, das ihn gepackt hat, und das ähnlich ist dem Fieber bei einer wogenden Schlacht.

Es würde keinem vernünftigen Menschen einfallenden einem Feldmarschall beim Höhepunkt einer Schlacht Aufmerksamkeit für andere Ereignisse als die mit der Schlacht zusammenhängen, den zu verlangen. Ein anderes Verhältnis besteht aber zwischen Welt und Dichter.

Der Dichter, der nur für die Schlacht in seinem Inneren Ohr hat, wird meistens als unvernünftig angesehen, wenn er sich in seiner Hingerissenheit nicht zugleich auch in seiner äußeren Welt so fest behaupten kann wie die andern. Er gilt als dumm und blöd, wenn er sich dort nicht helfen kann, wo die anderen sich spielend helfen.

Er gilt der Welt als frech und anmaßend, wenn er Ansprüche an die Mitwelt stellt, die ihm vom Standpunkt seiner Schöpferkraft aus klein scheinen, während die anderen den scheinbar Lebensunbeholfenen und scheinbar Lebensblöden bescheiden und anspruchslos und möglichst verzichtend haben wollen, da er von seiner inneren Welt reichlich entschädigt sei, wie sie triumphierend behaupten.

Als ob jeder Künstler die äußere Welt nicht immer reichlich nötig hat, um zur inneren zu kommen!

Der Gedanke, daß ein Dichter nur eine Dachkammer benötige, und daß nur die Not ihm Dichterträume gibt, lebte besonders zur Blütezeit der alten Weltanschauung eingewurzelt im deutschen Volke. Heute ist es aber bereits besser geworden, wenn auch die Dichter noch lange nicht vom Staat Pfründen beziehen wie die Kirchenbeamten oder Gehälter wie die hohen Staatsbeamten. Und doch wäre dieses eigentlich selbstverständlich, denn der Dichter, der Maler, Bildhauer und Musiker, sie sind die höchststehenden geistigen Beamten des Staates, und sie sind durch ihr Schaffen neuer geistiger Güter höher an Würde und Rang als die größten politischen Führer jedes Volkes. Die Künstler sind die reichsten Festgeber des festlichen Daseins der Menschheit, und dafür hat ihnen jeder Staat zu danken.

Ich setze diese Erklärung und Verteidigung der Künstler hierher, weil ich eben jene Zeiten erlebt habe, in denen Gedicht und junge Dichter bei der menschlichen Gesellschaft niedriger im Wert standen als im Mittelalter die Scharfrichter und ihr Handwerk. Aber wer gründlich verachtet wird wie der Henker, dem wird doch noch von den anderen ein volles Gefühl zuteil, das Gefühl des Abscheus.

Aber in jener Zeit, die ich meine, hatte man für den jungen Dichter in den Gesellschaftskreisen entweder ein mitleidiges Achselzucken, oder ein solch junger Geist wurde kurzweg als eine Lächerlichkeit angesehen, die nicht einmal mit ernstem Spott verfolgt wurde; er war für die Gesellschaft Luft und hatte kaum Daseinsberechtigung.–

Durch die neue Weltanschauung war ich aus dem Gleichgewicht der griechischen Rhythmen und einlullenden gutmütigen Melodien der alten Dichterwelt aufgerüttelt worden, und die Trochäen und die Jamben und der Hexameter, alle die uns von den Griechen überkommenen Versmaße, schienen mir undeutsch, zu feierlich und nicht auf die heutigen Lebensäußerungen und Lebenszerrissenheiten anwendbar, mit denen der Arbeitsgeist uns Menschen einer neuen Welt umgibt.

Ich sagte mir: unter dem herrlichen blauen Himmel Griechenlands wurden alle jene Versmaße aus dem Sinn eines angeborenen Gleichgewichts geboren. Die Südsonne und das Südblut des Mittelmeervolkes mußten dem inneren Leben der Dichter dort einen mächtigeren Rausch und Schwung geben, ein höheres Pathos, welches zu uns gebracht, in unser deutsches Klima und bei unserer kühleren Rasse ewig unnatürlich wirken wird und unwahr.

Unser Leben in Deutschland, das fast ein halbes Jahr Winter kennt, den kurzatmigen Sommer hat, und das zugleich von einer neuzeitlichen Emsigkeit durchdrungen ist und die Aufmerksamkeit auf ganz andere Lebensgesetze richten muß, als es die Griechen vor zweitausend Jahren taten, dieses Land muß ein eigenes Versmaß, seine eigenen Rhythmen haben. Dieses Versmaß muß sich dem inneren Leben, den zarteren Menschen, dem bewölkteren Himmel und den grübelnden Träumen, den rauschenden Laubwäldern unseres Landes anpassen.

Die Natur jedes Landes – Landschaft, Himmelsstrich und Sprache – gibt ihren Dichtern ein bestimmtes Versmaß ein.

Die Länder der Zypressen und Pinien, die Länder des heißen Südweines, die südlichen Länder, wo keine Singvögel nisten, können nicht in demselben Verstakt dichten wie deutsche Haine, deutsche Wiesen und Buschlandschaften voll fliegender Sänger und kühler lauschiger Grashügel.

Nach dieser Erkenntnis war es mir vorerst unmöglich, daran zu denken, Gedichte zu schreiben, da ich nicht im alten Versmaß schreiben wollte und zur Eingebung des neuen noch nicht gekommen war. Außerdem lag nichts zur Dichtung Aufmunterndes in der Haltung des damaligen Zeitgeistes, wie ich es vorher erklärt habe.

Und so stellte ich mich auf den Standpunkt, daß es vorläufig unmöglich sei, Gedichte zu schreiben in einer Zeit, die voll Maschinenlärm und Reiselärm war und mit Triumphen und neuen Wahrheiten der Naturwissenschaft protzte.

Ich wollte mich deshalb zuerst nur in einer neuen Erzählerkunst ausbilden, ausgehend von haarscharfster Beobachtung und genauester Wiedergabe der zartesten Lebenseindrücke. Dann hoffte ich, es würde sich vielleicht mit der Zeit die Sehnsucht und die Kraft zum Dichten in mir wieder verstärken und Dichterlust eines Tages von selbst hervorbrechen. Was ich aber im Lärm aller Neuheiten, die jetzt auf mich einstürmten, vorläufig stark bezweifelte.

Ja, ich ging damals so weit in meinem Urteil, und war darin nicht der einzige meiner Zeit, Dichtung und Dichten für eine Unmännlichkeit zu erklären. Dichtung schien mir, war heutzutage nur noch möglich für junge Mädchen, Schüler, ältere Tanten und Greise.

Der zeitgemäße Mann sollte auf die altmodische Süßigkeit gedichteter Gedanken verzichten und das Prosawort handhaben lernen und seine Gedanken durch die Kraft einer neuen Prosa vermitteln. –

Aber dieselbe Sehnsucht, sich von einer alten überlebten Welt zu trennen, die damals die Dichter erfaßt hatte, die hatte alle Künstler erfaßt.

Die Musiker, unter Wagners Führung, sagten sich von der alten Lehre des Kontrapunktes frei. Und die deutschen Maler packte die Sehnsucht, die Heimat in Licht und Farben wiederzugeben. Und die Dunkelmalerei der alten Schule und das Sichbrüsten mit dem Malen von sogenannten Charakterköpfen und Ideallandschaften wurde ebenfalls mehr und mehr beiseitegelassen, und die Freilichtmalerei feierte ihre ersten stürmischen Feste.

Man malte mit Weiß in Weiß, wo man vorher nur Braun in Braun gegeben hatte, und man malte Bunt in Bunt, lustig befreit von den schematischen Farbenlehren akademischer Abtönungen.

Und man malte das Häßlichste und das Eintönigste, so wie man auf der Bühne den Armeleutestand und auch das Häßliche zu Worte kommen ließ und sich bemühte, Pathos und Pose möglichst von den Brettern zu verbannen.

Die Schauspieler fingen an, das Versesprechen zu verachten, weil der geistige Zuschauer den Versstücken nicht mehr zuhören wollte und übersättigt von Pathos und Pose war und einen Wirklichkeitshunger abends ins Theater brachte, der entstanden war aus dem neuen wachsenden Großstadtlärm und aus dem Bedürfnis nach Kraftbetätigung und Wirklichkeitslust.

Die ganze Kunstwelt war in jenen Jahren vielleicht mit einem Maskenball zu vergleichen, bei welchem plötzlich das Zeichen zur Maskenabnahme gegeben wird. Und wo vorher sich nur Larven angesehen hatten, sah man plötzlich wirkliche lebende Gesichter wieder, lebende Gesichter in den Büchern, auf den Bildern und auf der Bühne.

Die Künstler begrüßten fröhlich diese Umwandlung, die Rückkehr zum Leben ohne Larve, während die breite Bürgermasse sich nicht recht an die entlarvten Gesichter gewöhnen wollte und nur seufzend, rückwärtsschauend, schwerfällig und gezwungen dem neuen Zug der Zeit Folge leistete.

Viele äußere Umstände trafen da noch zusammen, die den Wirklichkeitssinn bei den Künstlern wachriefen und die auch die Bürger mitrissen. Das neue ungewohnte schnelle Reisen und Orte wechseln können, durch das damals ausgebaute Eisenbahnnetz über ganz Europa, machte die Menschen wirklichkeitsfroh, und ebenso die Erfindung und Anwendung des reinlichen und verblüffend hellen elektrischen Lichtes; dessen alle Winkel ausleuchtende Klarheit ließ nachts keine Gespensterfurcht und keine überflüssig wuchernde Romantik mehr aufkommen.

In der Wissenschaft legte die Bakterienlehre die Ohnmacht und Macht des Menschen klar, dem winzigsten und dem Auge unsichtbaren Lebewesen gegenüber. Und weiter kamen dazu die aufsehenerregenden ersten Versuche der Hypnose, die in allen Gesellschaftskreisen mit Eifer besprochen und begutachtet wurden. Die bei diesen Versuchen sich befestigende Überzeugung, daß der Mensch keine ihn durch Gut und Böse leitende Seele habe, sondern daß durch den Willen eines stärkeren Menschen der Wille des Schwächeren so ausgeschaltet werden kann, daß dem besten Menschen in der Hypnose Böses zu tun befohlen werden kann, dieses alles half mit am Aufbau einer neuen Weltauffassung.

Auch ein amerikanisches Buch muß ich noch erwähnen, das in jenen Jahren in hunderttausend Exemplaren von Hand zu Hand ging. Das war Bellamys «Rückblick aus dem Jahr 2000». Es war ein Buch, das erstaunlich den Wünschen und Sehnsüchten der Zeit entgegenkam, indem es scheinbar alle Wünsche des letzten Standes mit den Wünschen der höheren Stände so verschmolz, daß ein Idealstaat dem Leser des Buches gar nicht so unmöglich erschien und es manche Ungeduldige für möglich hielten, im neuen Jahrhundert diesen Staat noch zu erleben.

Ich will und kann hier nicht alles aufzählen, was in jenen Jahren bei der Neuheit des Maschinenlebens, bei der Neuheit des naturwissenschaftlichen Denkens, bei der Neuheit des raschen Reisens und des plötzlich sich schnell Verständigenkönnens durch Telegraph und Telephon mit nie dagewesener Macht die Menschen von alten Vorurteilen entkettete, das abgezirkelte Gesellschaftsleben entkräftete und Bewegung und Denkfreiheit in Kunst und Leben herstellte. Diesem neuen Zeitgeist, den zuerst die Künstler erfaßt hatten, arbeitete aber der altmodische Bürgergeschmack entgegen.

Die Bürgerkreise sehnten sich, kaum ein wenig aufgerüttelt vom neuen Zeitgeist, scheinbar nach den Dunkelheiten des Mittelalters, so wie einer, den durch eine aufgerissene Tür die Sonne blendet, die Hand zum Schutz über die Augen legt oder sich nach dem Zimmerdunkel umsieht und sich erst allmählich an die plötzliche krasse Helle gewöhnen will.

Es blühte und wuchs bei den Bürgern in jenen Tagen in Deutschland allgemein die kindische Lust nach sogenannten altdeutschen Stuben mit Butzenscheiben, diese Lust, die man später höhnend Butzenscheibenromantik nannte. Bei jeder Gelegenheit wurden in den Städten altdeutsche Festzüge veranstaltet, wo die Leute, die im Zeitalter der Zeitungen, Eisenbahnen und der Sozialdemokratie aufgewachsen waren, plötzlich als Faustritter, Zunftmeister, Ritterfräulein und Ehrenjungfrauen sich gebärdeten. Als sei die Gegenwart nicht Maskenspiel genug, wollte man auch noch am hellen Tage die Gegenwart mit der Vergangenheit maskieren.

Jedes neue Haus mußte damals wenigstens einen altdeutschen Turm bekommen oder ganz unnötige Zinnen, und die Mode des Altdeutschen tobte sich auch bei allen Gebrauchsgegenständen in der lebhaftesten Weise aus. Es ist übrigens heute noch nicht viel anders. Nur ist die Maskerade der Butzenscheiben von der Maskerade der Biedermeierei verdrängt worden.

Die Bühnen- und Romanschriftsteller hatten sich noch zu Anfang der achtziger Jahre so romantisch altdeutsch benommen, daß schon deshalb Gerhart Hauptmann für jeden ernster empfindenden Deutschen nicht bloß als Geist einer neuen Zeit, sondern auch als Erlöser vom altdeutschen Massenwahnsinn begrüßt werden mußte. –

So lagen die Dinge der geistigen Welt, als ich im Frühjahr 1892 nach München kam, wo die großen Brauereien eben ihre prunkenden Bierpaläste zu bauen begannen. Da las ich im gleichen Frühjahr in den Zeitungen, daß sich vom Glaspalast, dem großen Ausstellungspalast der Maler, eine Malergruppe trennen wolle, die nichts mehr zu tun haben wollte mit akademischen Grundsätzen. Dieser Gruppe Mitglieder strebten die Freilichtmalerei und die Freiheit für jede Eigenart fern aller Schablone an. Auf Wunsch des Prinzregenten hatte man sich aber noch einmal geeinigt und wollte sich noch nicht vom Glaspalast trennen, sondern die neue Malergruppe, die sich Sezession nannte, sollte im Glaspalast einige Säle für sich erhalten.

Wenn ein Bienenvolk schwärmen will, beginnt es im Bienenkorb laut zu summen, also summte es damals wütend in allen Bierlokalen der Stadt München. Man ereiferte sich für und wider den Streit, der unter den Malern im Glaspalast ausgebrochen war. So wie man vorher für und gegen Wagner gewesen, so stritt man jetzt für und gegen die Sezessionisten.

Das Kaffeehaus Luitpold war eben erst eröffnet worden und galt als das prächtigste Großstadtkaffeehaus Deutschlands. Das Leben in prunkhaften Kaffeehäusern hatte damit für München seinen Anfang genommen, und die Bürger wollten wichtiger genommen sein, seit sie ihren Kaffee mit ihren Frauen auf rotem Samtsofa bei vergoldeten Säulen und in Oberlichträumen einnehmen durften. Überhaupt, das Bürgerleben wurde täglich feister, und das Sprichwort «nur Lumpen sind bescheiden» wurde in Bürgerkreisen zum Erziehungswort.

Bahnbrechend im Geistesleben in München war aber damals nicht bloß die Sezession, sondern ebenso ein Häufchen Schriftsteller, die wie weltferne Kameraden dem in altdeutscher Maskerade protzenden Bürgertum die maskenlose, ehrliche und erschütternde Wirklichkeit in Romanen und Dramen darbieten wollten.

Ich erinnere mich besonders gut an einen literarischen Abend auf der Isarinsel in dem Gasthaus «Isarlust», das, wenn ich nicht irre, ein paar Jahre vorher zur Zeit der ersten Elektrizitätsausstellung gebaut worden war. Dort in einem Saal war von jener Schriftstellergruppe ein Vorleseabend veranstaltet worden, der mich zum erstenmal in die Nähe von wirklichen Dichtergeistern brachte.

Ich kann kaum ausdrücken, mit welcher heiligen Scheu und mit welcher höchsten Seelenspannung ich mich auf den Weg zu jener Vorlesung machte, und wie geweiht ich mir vorkam, die Gesichter neuzeitlicher Schriftsteller sehen zu dürfen, ich, der bis dahin nur in Würzburg in engster Familie, fern von allem öffentlichen Leben, aufgewachsen war.

Mir war, als sollte ich einen neuen Olymp kennenlernen. Ich hatte bis jetzt nur Bücher aus jener neuen geistigen Welt zu Freunden gehabt, nur Geschöpfe, aber keine Schöpfer. Außer mit meinen beiden studierenden Freunden hatte ich bisher mit niemandem einen Gedankenaustausch erlebt, abgesehen natürlich von den Gesprächen meines Vaters, dessen Geist mir bis dahin die Unterhaltung von hundert Leuten hatte ersetzen können.

Als ich in jenen Vortragssaal eintrat, ließ ich mich scheu und beklommen auf der letzten Sitzreihe nieder, reich beglückt, dort sein zu dürfen, wo Frische und neue Geisteslust die Luft, wie mir vorkam, leichter und zum Atmen selbstverständlicher machte.

Der Saal war ungefähr zu dreiviertel von Zuhörern gefüllt. Max Halbe las sein Drama «Jugend» aus der Handschrift vor. Dasselbe war noch nicht aufgeführt. Nach ihm lasen Johannes Schlaf, Ludwig Scharf und noch andere, deren Namen ich mich heute nicht mehr entsinne.

Ich hatte von dem, was vorgetragen wurde, da die Schallkraft des Saales schlecht war, auf meiner letzten Sitzreihe, wo ich einsam saß, zwar nur halbe Sätze und halben Sinn aufgefaßt, aber ich war doch ehrfürchtig gestimmt worden, als hätte ich Stimmen aus einer anderen Welt sprechen hören. Und deshalb blieb mir jener Abend für immer unauslöschlich in der Erinnerung.

Doch eigentümlicherweise kam in mir nicht die Kraft auf, an einen jener Dichterkameraden heranzutreten, mich vorzustellen und die Hand zum Gruß zu reichen. Wohl war der Wunsch da, mich unter jene Männer zu mischen und mich mit und bei ihnen frei und fern der Bürgerwelt zu bewegen.

Aber, wie ich schon vorher sagte, war es in jenen Tagen allgemein, daß jeder Dichter in jenen Jahren entweder den Doktortitel führte und auf eine Universitätsbildung zurücksehen konnte oder daß er doch das Abiturientenexamen gemacht hatte. Ich aber, da ich Maler hatte werden wollen, hatte nur eine Realschule besucht und nur mit Mühe und Not das Zeugnis zum Einjährigfreiwilligendienst erlangt.

Dem geistigen Wissen meiner besten Freunde, dem Denker und dem Schweigenden, die Studierende der Universität waren, konnte ich meine künstlerischen Veranlagungen entgegenstellen, und es konnte dadurch gleiche Wertstellung im Verkehr herrschen.

Den Dichtern aber, denen ich in jener Vorlesung zum erstenmal begegnet war, hätte ich nur künstlerische Anfänge bieten können. Es waren von mir bisher nur in der «Gesellschaft» und in der «Wiener modernen Rundschau», den beiden damals einzigen Blättern des neuzeitlichen Schrifttums, ein paar Novellen erschienen. Mein erster Roman «Josa Gerth» lag nur in der Handschrift fertig und sollte erst zum Herbst 1892 erscheinen.

Ich hatte also noch kein Buch aufzuweisen, um mich vor den bereits anerkannten jungen Dichtern als Geisteskamerad auszuweisen.

Meine Familienangehörigen hatten mir außerdem, wenn ich davon gesprochen, Schriftsteller zu werden, oft vorgehalten, daß ich nicht die nötigen Vorkenntnisse zu diesem Beruf besäße, und daß der künstlerische Drang zwar gut und schön sei, aber daß er kein überzeugender Beweis dafür wäre, daß ich im Schriftstellerberuf vorwärts kommen könne.

Auch war ich in einer Universitätsstadt aufgewachsen, in welcher der junge Studierende alle Hochachtung genoß und dagegen der künstlerisch Begabte herzlich wenig beachtet wurde. Wenn man noch keine großen Werke aufweisen konnte, erschien man dort als anfangender Dichter mehr als lächerlich und wurde ohne Universitätsbildung nicht ernst genommen.

«Glauben denn diese Leute», so mußte ich manchmal zu meinen Freunden sagen, «Homer habe Ägyptisch oder Persisch oder Hebräisch studiert? Hat man je von einem Dichter der alten Zeit verlangt, daß er ein Examen machen mußte in fremden Sprachen und in Wissenschaften? Genügte es nicht, daß er die Begeisterung und das angeborene Können eines Dichters besaß?

Haben die indischen und arabischen Dichter und die alten deutschen Barden Universitätskenntnisse besessen? – Dichterfeuer, dichterische Vorstellungskräfte und tiefstes Gefühl für den Weltrhythmus, nur angeborene Kräfte besaßen jene alten Dichter alter Völker. Die Professoren konnten sie nichts lehren. Nur das große Leben war immer ihr Lehrer gewesen, und ebenso war ihnen Lehrer der Lebensernst und die Lebensfreude.»

Und meine Freunde gaben mir stets recht. Aber was half mir das, wenn die Bürgerkreise, in denen sich mein tägliches Leben abspielte, unaufgeklärt und befangen waren in dem, was sie Bildung nannten.

Diese Kreise glaubten, da sie selbst die Bücher und die Professoren zur Bildung nötig hatten, der Dichter müsse den bürgerlichen Weg erst gehen und sollte nachher seinen eigenen künstlerischen fortsetzen. Mit dem Satz: «Heutzutage ist es einmal so», lehnten die meisten Leute jener Zeit jedes höhere Verständnis für die freie angeborene Schöpferkraft des Dichters ab, die doch über jede Universitätsbildung erhaben ist.

Einige studierte Verwandte von mir, Vettern mit Staatsanstellung, warfen mir sogar den Ausruf hin: «Wie willst du denn Bücher schreiben können, wenn du lateinische und griechische Fremdwörter, die in der deutschen Sprache eingeführt sind, nicht ableiten kannst? Du wirst dich mit falschen Ausdrücken nur lächerlich machen!»

Ich sagte ihnen zwar: «Für die, denen ein Fremdwort mehr wert ist als ein deutsches Wort, das ich an Stelle der Fremdwörter möglichst immer setzen werde, für die, die glauben, daß die deutsche Sprache nur schön ist, wenn sie sich mit lateinischen und griechischen Ausdrücken schmückt – als ob man eine Menschenhand geschmückt mit falschen Brillanten hinreicht –, für die, die fremdklingende Worte den deutschen, einfachen, deutlichen Worten vorziehen – für diese Leute will ich gar nicht schreiben.»

«Es ist gar nicht zu vermeiden», antworteten jene darauf, «daß man fremde Ausdrücke anwenden muß. Die deutsche Sprache reicht nicht für alle Begriffserklärungen aus.»

«Gut», sagte ich, «dann werde ich der deutschen Sprache neue Worte geben. Denn es ist das Recht jedes wirklichen Dichters, seine Muttersprache zu bereichern, und es ist seine Pflicht, Fremdworte auszumerzen und an ihrer Stelle Worte mit heimatlichem Klang der Heimatsprache zu erschaffen.»

Man lachte und zuckte die Achseln und sagte, die Erfahrung würde es mich schon lehren, daß ich Unmögliches wolle. Und mein Vater, beeinflußt von den Reden jener studierten Verwandten, setzte mein Taschengeld monatlich so knapp an, daß ich ohne die Hilfe meiner Freunde hätte verhungern müssen. Denn er wollte mich durch die Entbehrungen, die ich mir auferlegen mußte, zwingen, von dem Vorhaben, Dichter zu werden, abzulassen, nach Hause zurückzukehren und mein Leben einem sicheren Geschäftsberuf zu widmen.

Auch dieses Gefühl, daß ich mich noch nicht durch das Schreiben erhalten konnte und nur von der Gnade meines Vaters leben mußte und nichts besaß, um auch mal fröhliche Feste feiern zu können, das hielt mich damals davon ab, mich jenem Dichterkreis in München zu nähern, und ich wartete bessere Zeiten ab, um dann Anknüpfung zu finden.

Die Entbehrungen zu ertragen, fiel mir leicht. Trotzdem ich in Würzburg in einem wohlhabenden Hause aufgewachsen war und es mir nie an irgend etwas gefehlt hatte, empfand ich die Einschränkungen jetzt im Verhältnis zur geistigen Freiheit, die ich genoß, als fast gar nicht vorhanden.

Es wäre mir komisch vorgekommen, wenn mich jemand als ärmer angesehen oder mich bedauert hätte und mir gesagt hätte, ich hätte zu Hause bei meinem vermögenden Vater reicher gelebt und besser, weil sorgloser.

Ich kam mir in jenen meinen ärmsten Tagen nie arm vor, und das Gefühl, ich besitze alles und alle besitzen mich, und das Gefühl, Mitteilhaber an allem Reichtum der Welt zu sein, war mir von jeher angeboren.

Ich konnte deshalb meinen Sorgen immer nur schwer glauben, bis sie dicht vor mir standen und nicht mehr abzuweisen waren; dann kamen sie mir erst wirklich vor. Unverständige Leute nennen dies Leichtsinn. Ich nenne es Sorgenblindheit. Und sie ist der angeborene sechste Sinn aller Künstler.

Denn wie könnten die Dichter Melodien und Lieder finden, die Maler sich an Farben, die Bildhauer sich an Formen freuen, die Musiker an Tönen, wenn sie sich nicht die Sorgenblindheit als sechsten Sinn geschaffen hätten, die ihnen Schutz bietet, wie Öl, das man in die Maschinen träufelt, damit sich die Räder nicht heiß laufen.

Und ohne die Öldrüse der Sorgenblindheit würde der eindrucksfähige Künstler tausendmal am Wege, lange vor seinem Ziele, sorgengebrochen zusammenstürzen.

Meine Freunde, der Denker und der Schweigende, die zu jener Zeit in München die Universität besuchten, halfen mir in edelster Weise. Ohne ihre Mithilfe wäre ich vielleicht doch gezwungen gewesen, ins üppigere Vaterhaus zurückzukehren. –

In dem vegetarischen Speisehaus «Thalysia» in der Landwehrstraße, in welchem ich mittags ein kärgliches Reis- oder Linsenkotelett aß, fand ich damals seltsame Menschen, von deren Anwesenheit auf der Erde ich vorher nichts geahnt hatte. Es waren Theosophen.

Diese Menschen mit blassen Gesichtern und großen vergeistigten Augen wirkten auf mich so befremdend, wie wenn man von einem zoologischen Garten in die Grotte eines Aquariums eintritt und hinter Glasscheiben im Wasser die Pflanzen der Tiefsee und die geschmeidigen Gestalten der Meeresfauna bei künstlicher Sauerstofferhaltung leben sieht.

Mir schien, jene Theosophen hatten die Geschmeidigkeit von Fischen oder Pflanzen, die schlank im reinen Wasser leben. Ihre Sehnsucht war, den Indiern ähnlich zu werden, und die Lotosblume, jene auf dem Wasser ruhende keusche Reinheitsblume, war auch ihnen wie den Indiern das höchste Lebenssymbol.

Aber die Indier, aus dem reichen heißen Himmel, aus dem reichen heißen Tropenleben geboren, kamen sich zu kühlen, wenn sie sich zur Lotosblume neigten. Die Indier kommen aus dem Reich wildester Begierden und wollen ähnlich werden der Blume, die in Ruhe über kühlen Wassern schwebt. Es ist natürlich, daß sie sich aus dem natürlichen Sonnenbrand ihres Landes, aus ihres edelsteinschweren Landes Üppigkeit nach kühlender Einfachheit sehnen und dann bei der Weltflucht und der Weltentsagung anlangen. So wie der von der Sonne Überhitzte gern zum Schatten flüchtet. Dagegen jene Theosophen kamen, aufgewachsen im nebelgrauen Deutschland, in einem kargen Klima, auf einer Sorgenerde, zu der Lotosblume wie die Fische angeschwommen.

Und sie sahen wie Fische zur Lotosblume hinauf, zu ihr, die in einer höheren Welt lebte, zu ihr, die in der reinen Sonnenluft atmete, während sie selbst nur in den bläulichen Dämmerungen einer Wasserschicht ihr Dasein hatten.

Diese Theosophen, schien mir, sehnten sich aus der Kargheit eines phantasielosen Daseins nach der Phantasieblume des Lebens. Ihre Gedankenschicht, in der sie immer schwammen, schien mir der Wasserschicht ähnlich zu sein, auf der die Lotosblume schwimmt. Sie selbst aber schwammen immer um die Wurzel der Blume und sahen den Lotoskelch nur von unten.

Denn diese Männer, die ich da sah, waren nicht durch den Weltbrand hindurchgegangen und hatten sich nicht, um sich vom Leben zu kühlen, ans Wasser des Gedankenfriedens niedergesetzt wie die Inder. Sie haßten die Wirklichkeit, ehe sie sie erlebt hatten, weil sie zu schwach und zu kühl geboren waren und die Wirklichkeit nie ihr Reich gewesen war.

Sie lebten immer in ihren Gedankengewässern, in denen sie geboren waren, wie der Fischlaich. Und sie sprachen von dem Begierdereich wie Kinder, die vom Liebesleben der Erwachsenen in ihrem Kindheitsreich nur eine verzerrte Ahnung erhalten können.

Diese Menschen, unter denen ich Reis und Gemüse aß – weil mein Geld nicht für Fleischspeisen reichte, da ich mir nur abends ein wenig Wurst gönnen durfte –, diese schlanken, durchsichtigen Menschen, die meistens in Schriften und Büchern lasen während sie kauten, wären mir aber in meiner Armut beinahe doch als eine tröstliche Umgebung vorgekommen, da sie nach geistiger Erhebung und nach Gedankentiefe strebten, wenn nur nicht die graue Lebensschwäche aus ihren grauen Adern geklagt hätte.

Ich lernte dort bald einen jungen Maler kennen, der wie ich aus Not in die «Thalysia» verschlagen war, und dieser erzählte mir vom Maler Dieffenbach, welcher zu jener Zeit bei einem Dorf im Isartal sich ein Atelierhaus gebaut hatte. Dies Haus war aus schwarzen Teerpappen zusammengenagelt. Und mit mannshohen gelben Buchstaben stand an dem Giebel der schwarzen Halle das Wort: «Humanitas» geschrieben.

Man konnte Dieffenbach damals öfters in den Straßen Münchens begegnen, wenn er in die Stadt kam, um Besorgungen zu machen. Bart und Kopfhaar reichten ihm fast bis an den Gürtel. Er trug eine lange Kutte und ging in Sandalen, und die ganze Stadt kannte ihn, den verrückten Malereinsiedler vom Isartal, wie ihn die Leute nannten.

Die meisten Theosophen, die ich damals sah, trugen langes schlichtes Christushaar, das im Nacken weit über den Rockkragen fiel und nicht gut zum zweckmäßigen geradlinigen Männeranzug des neunzehnten Jahrhunderts stimmte. Das träumerische langherabfallende Haar stand im Widerspruch zu den knappen nüchternen Linien des Anzugs des Arbeiterzeitalters.

Daß übrigens die Theosophen und ihre Anhänger, die vom gedankenvolleren Norddeutschland in das lebensüppigere Süddeutschland gekommen waren, eigentlich im scharfen Widerspruch zur derben bayerischen Landesseele standen, das fiel mir auf. Aber so wie die Fische am liebsten an heißen Tagen an der Oberfläche des Wassers weilen und sich der warmblütigen Welt über ihnen behaglich nahe fühlen wollen, ohne doch ihre Wasserwelt aufgeben zu müssen, so schien es mir auch bei jenen Lotossehnsüchtigen zu sein. Man merkte, daß sie sich im derberen München, wo das Dasein mehr dem Leibe als der Seele zugewendet ist, wohler fühlten als im gedankensüchtigeren Norddeutschland.

Eigentlich war mir die Gedankensehnsucht dieser Menschen, die etwas Mitleiderregendes hatte, nicht unangenehm. Wenn diese Männer nur nicht alle selbst so mitleiderregend gewesen wären und so weltabgewendet, dann hätte ich mich gern mit ihnen unterhalten und mich ihnen nähern wollen. Aber daß sie der Wirklichkeitswelt, ohne nur von derselben gekostet zu haben, blindlings und vorurteilsvoll den Rücken wendeten und die gesunden Derbheiten des Daseins nicht ebenso zu beherrschen gelernt hatten oder beherrschen lernen wollten wie die Seelenwelt, und daß sie aus dem Wirklichkeitskampffest, das sie nur vom Hörensagen kannten, flüchteten wie Krieger, die plötzlich der Schlacht den Rücken wenden und sich unter eine Schanze setzen und sagen, es wäre unnütz zu kämpfen, denn einmal müßte ja doch diese Erde vergehen und alle ihre Genüsse, und gegen die Vergänglichkeit des Leibes könnte auch diese Schlacht nicht ankämpfen, und deshalb sollte man nur seine Seele befriedigen – das hat mich von ihnen abgestoßen, und ich fand es weder der Mühe wert, noch für mich von irgendwelcher Notwendigkeit, an jener Seelenüberzüchtung Anteil zu nehmen.

So wie der derber werdende Bürgerstand, der damals immer breiter das mittelalterliche Rittertum und seine Romantik nach Anleitung Makarts in Wien in üppigen Samt- und Stoffausschmückungen der Räume in Orgien der derbsten Geschmacklosigkeiten feierte, und dem die Tapezierer die Fenster und die Türen mit dunklen orientalischen Teppichen schwülstig bekränzen durften, so entgegengesetzt übertrieben zum sinnenrohen Treiben wirkte die Leere und die reizlose Klarheit, mit der jene Gruppe von Theosophen, die ich täglich sah, das sinnliche Leben betrachtete.

Die Bürger waren übertrieben in der Gestaltung des äußeren Lebens, die Theosophen übertrieben in der Flucht zum inneren Leben. Die einen hatten zuviel Weltnähe, die anderen zuviel Weltferne. Die einen arteten in Weltüppigkeit aus, die anderen in Weltfremdheit. Die meisten Bürger wünschten nur Feste der Sinne zu feiern, die Theosophen nur Feste der Seele. Und beide Menschengruppen schienen mir entrückt der Weltnatürlichkeit, der einfachen Weltselbstverständlichkeit. Sie feierten nicht das selbstverständliche Fest natürlicher Schöpferkraft, die inneres und äußeres Leben, Weltnähe und Weltferne in möglichstem Gleichgewicht erlebt.

Weder weltverwildert sein noch weltentfremdet werden ist dem großen weisen Fest des Lebens günstig. Weder Lebensüberhitzung noch Lebenserkältung ist das Ideal des Lebensfestes. Eine emsige Lebensfestlichkeit, die aber nicht das Leben schulmeisterlich verrenken will, wie es die Seelensehnsüchtigen gern möchten, und die ebensowenig zur Lebensgier anspornen will, diese natürliche Lebensfestlichkeit fand ich damals selten unter den Gesichtern der Straße, aber ich fand sie immer bei den Dichtern jener Zeit.

Alle die Dichter, die ich noch später kennenlernte, und alle, die ich bereits aus ihren Werken kannte, alle sogenannten «Modernen» enthielten sich möglichst, seelisch schulmeisterlich zu wirken oder stumpfsinnig einseitige Lebensüppigkeit zu pflegen. Es war ein markiger festlicher Ernst in fast jedem neuen Buch, das damals aus der Gruppe der «Modernen» erschien.

Aus allen diesen Gründen fühlte ich mich nicht hingezogen, Verkehr mit jenen Theosophen anzuknüpfen. Ich las nur manchmal in ihrer Zeitschrift «Sphinx», die in dem vegetarischen Speisehaus auf den Tischen lag, und plauderte dort mit einigen Malern.

Am Tage besuchte ich gern die Museen. Ich ließ mich bei der Betrachtung dort von keiner Kunstgeschichte leiten, sondern gab mich nur den Eindrücken hin, die die Bilder auf mich ausübten, und ordnete für mich, je nach der Stärke oder Schwäche dieser Eindrücke, die Meister der verschiedenen Jahrhunderte nach meinem eigenen Gutdünken.

Und dabei fiel mir auf, wieviel Geistesqualen und wieviel Geistesentsagung aus den gemalten Gesichtern aller christlichen Jahrhunderte sprach. Dagegen frei und gesund und festlich trugen die griechischen Statuen in der Glyptothek ihre Mienen. Von Gedanken- und Körpergesundheit aufrecht gehalten und natürlich selbstbewußt, trugen jene festlichen Menschen der Heidenzeit ihren Leib.

In der alten Pinakothek dagegen sprachen die Menschengesichter der christlichen Zeiten, die ich da auf den Gemälden sah, von einer Bedrückung, durchdrungen von einer, wie mir schien, unaufrichtigen Bescheidenheit und einer eingebildeten Demut. Und jene Maler der Renaissance, die die Gestalten der biblischen Geschichte nackt darstellen, malten, gereizt vom Fleischton, die enthüllten Körper meistens in einer lüsternen Beleuchtung. Und nur bei ganz wenigen alten deutschen Malern, wie bei Holbein und Memmlinger, war das Fleisch streng, aber abgetötet behandelt.

Auch diese Bilder konnte ich nicht lieben. Die Körper waren von diesen Malern dargestellt, als sähe man erfrorene Bäume im Sommer, während bei den italienischen und niederländischen Meistern das Fleisch der nackten Menschen zu üppig strotzte, zum Beispiel bei Michelangelo und Rubens, als hätte das Fleisch ohne Geist wuchern dürfen und wollte Orgien feiern.

Ich traf auch hier wieder dasselbe Gefühl, das mich immer bei der Betrachtung der alten Weltanschauung begleitet hat: die Eindämmung der Lebenslust zur Lebensentsagung erzeugt wuchernde Phantasiegebilde, die nichts mehr mit edler Schönheit gemein haben. Nur eine natürliche Weltauffassung, eine selbstverständliche Weltanschauung, die den Menschen zum Schöpfer und Geschöpf erhebt und das Weltalleben einfach festlich ansieht, kann auf allen Gebieten der Künste festliche und natürliche Schönheit schaffen.

Die Griechen, die den Menschen nicht mit einer Erbsünde belasteten, die ihn frei aufwachsen ließen, denen die Götter des Olymps nichts anderes waren als Personen gewordene Menschengesetze, sie schufen festliche Schönheiten.

Der griechische Olymp, sagte ich mir, war nichts anderes als eine höhere Menschengesellschaft, eine erdichtete Versammlung höchster, schönster und weisester Menschen, die man wegen ihrer Vollkommenheit zu Menschenoberhäuptern ernannt hatte.

Die Götter waren anspornende Beispiele, um zu zeigen, wie hoch sich der Mensch entwickeln kann bei fortgesetzter Geistes- und Körperzucht.

Und jeder weiß, es war beim griechischen Volke nicht ausgeschlossen, daß mutige Naturen, Menschen, die sich auf Erden außergewöhnlich hervortaten, oder Menschen, die außergewöhnlich vollkommen zur Welt kamen, als Götter in die Versammlung des Olymps aufgenommen wurden, manche sogar nur wegen ihrer äußerlichen körperlichen Vorzüge, andere wegen ihrer geistigen und körperlichen Heldentaten.

Den lebenden Menschen von damals wurde also bestätigt, daß die Möglichkeit in ihnen lag, Schöpfer und Geschöpf zugleich sein zu können. Und diese Möglichkeit, ein Gott sein zu können, krönte das Menschendasein der Griechen.

Und da sie ebensogut durch Körpervorzüge als durch Geistesvorzüge Götter werden konnten, herrschte im Volkssinn jener Tage ein edles Bestreben nach Körper- und Geistesgleichgewicht auf Erden, das uns heute, wie wir alle wissen, noch aus griechischen Kunstwerken unendlich erhebend anredet. – Aber warum mußte jenes Ideal vergehen, wenn es bereits festliches Leben darstellte?

Deshalb mußte es vergehen, weil es doch noch nicht das selbstverständlich allumfassende Festliche war. Weil die Tierwelt, die Pflanzenwelt, die Welt der toten Dinge von den Griechen noch nicht als ihr Ich, als ihre eigene Schöpferkraft angesehen wurden.

So wie die Märchen des Mittelalters, um die Natur belebt zu sehen, menschliche Figuren in das Landschaftsleben hineindichteten, so taten dies in noch höherem Maße die Sagen der Griechen. Wo wir Elfen, Hexen, Kobolde dichteten, dichteten sie Dryaden, Faune, Nymphen und Halbgötter. Nie aber lebten in den griechischen Dichtungen der Baum, das Tier, die Quelle, die Wolke als Naturleben.

Es mußte in der Vorstellung der Griechen immer jedes Leben erst eine menschliche Verkörperung eingehen, und deshalb war das griechische Lebensfest nicht vollkommen zu nennen. Die griechischen Dichter konnten nicht eine Abendstimmung auf sich wirken lassen, nicht einen Baum rauschen hören, nicht die Meereswelle sehen, ohne bei diesem Natureindruck sofort eine menschliche Gestalt hinzuzaubern, die Nymphe, den Pan oder einen ihrer Götter.

Und dieses Umgestalten will die neue Weltanschauung nicht mehr tun. Sie will das Fest feiern wie es ist. Sie will die einfache Musik des Windes und der Welle, des Regens und der Wälder, das festliche Leben der Tiere, Vögel und Insekten einfach festlich erleben.

Der «Mensch von morgen» hat Sehnsucht, in die Nähe aller Wesen zu kommen, deren Lebensfest er noch nicht bewußt mitgefeiert hat. Er hat sich jetzt genug Geduld, Ruhe und Ernst angeeignet, um in die Festlichkeit der anderen Lebewesen dichterisch einzudringen, ohne daß er notwendig hat, in der Vorstellung die Körper der Tiere und Pflanzen fortzuwerfen und ihnen Menschengestalten aufzudrängen.

Der Weltblick des «Menschen von morgen» will sich erweitern, und mit dem Weitblick vergrößert sich die Lebensfestlichkeit.

In der Kunst, die menschliche Gestalt darzustellen, darin haben die Griechen wohl höchste Lebensfestlichkeit erreicht. Aber im Hinblick auf das Weltalleben waren sie beschränkt und unaufgeklärt. Diese Aufklärung und diese Festlichkeiten des Menschengeistes zu erleben, blieb späteren Jahrtausenden vorbehalten, unserer Zeit und der Menschheit von morgen.

Wer aber behauptet, die Künstler seien nicht an eine Weltanschauung gebunden, sie dichten, musizieren, malen und bildhauern einfach das, was ihnen gefällt, dem möchte ich antworten, daß die Schöpfungen der Künstler immer abhängig waren von der Weltanschauung, die die Nation hegt und die Zeit, der ein Künstler angehört.

Die Künstler der Japaner, der Chinesen, der Inder, die die Tiere und Menschen, Landschaft und Pflanzen seit Hunderten von Jahren mit tiefster Kenntnis und künstlerischer Liebe umfassen und darstellen können, sind von der buddhistischen Weltanschauung beeinflußt, die alle Wesen gleichachtet. Die Lebenstreue und die Feinheit, mit der jene asiatischen Künstler die feinsten Lebensregungen in der Natur in großzügigen Linien auf ihren Bildern einzufangen verstehen, die Knappheit und Kürze und Anschaulichkeit ihrer Gedichte, die wenig ermüdend nie den dichterischen Eindruck übertreiben, sondern das Erlebte und Tiefste in sparsamer Kürze hinzusingen verstehen, ebenso die wunderbare Einfalt ihrer in Naturlauten summenden träumerischen und unaufdringlichen Musik, die nicht zum Anfüllen steinerner Hallen, sondern zum Einwiegen des Menschenohres berechnet ist, diese Kunstausübung nähert sich der festlichen Anschauungsweise des gesamten Weltallebens.

Wie wenig dagegen leisteten infolge ihrer engen Weltanschauung in der Kunst die Mohammedaner. Nur in der Architektur, in der Raumausschmückung, und in der Ausschmückung von Waffen und häuslichen Geräten sind sie Meister gewesen. Aber nirgends im mohammedanischen Kunstleben wird das Naturleben oder Menschenleben, das vielgestaltige, dargestellt, wie dieses bei den buddhistischen Völkern, bei den Indern, Chinesen und Japanern der Fall ist.

Und seht die christliche Zeit des Abendlandes. Die Künstler des Mittelalters, sie malten und bildhauerten, musizierten und dichteten, aufs stärkste beeinflußt von der christlichen Weltanschauung, und jene mittelalterlichen Künstler konnten nur das hervorbringen, was sich um die Kirche und den Kirchengeist der damaligen Zeit bewegte. Nie kamen die christlichen Künstler jener Zeit den Künstlern der buddhistischen Weltanschauung gleich. Aber den mohammedanischen Künstlern waren die christlichen wieder an vielseitiger Entfaltung überlegen.

Von der jüdischen Kunst sind uns zwar Bücher und Lieder überliefert, aber in der darstellenden Kunst leisteten die Juden nichts, da die Weltanschauung dieses Volkes die bildnerische Kunst nicht zu pflegen erlaubte.

Und es ist wohl als sicher anzunehmen, daß bei den Juden damals in Palästina Künstler geboren wurden, ebenso wie in den übrigen Ländern der Erde, denn wenn dieses Volk auch hauptsächlich ein Handelsvolk ist, so ist das kein Beweis, daß nicht Kunstliebe und Künstler unter ihnen leben.

Das große Handelsvolk, die Engländer, haben den großen Dichter Shakespeare hervorgebracht und andere Künstler. Bei den Juden hätten sich in alter Zeit wohl auch Bildhauer ausgebildet, so wie bei den Ägyptern und Griechen, wenn die jüdische Weltanschauung das Aufstellen von Kunstwerken erlaubt hätte.

Ich wollte hiermit denen antworten, die da glauben, der Künstler dürfe immer zu allen Jahrhunderten und bei allen Völkern tun und lassen, was er wolle. Der Künstler war aber immer an die Weltanschauung seiner Zeit gebunden, auch wenn diese ihm ungünstig gesinnt war, anpassen mußte er sich immer der Weltanschauung seiner Zeit.

Ich erinnere nur an die Madonnenmaler, an die Künstler des Mittelalters, die gar keine himmlischen Gesichter erdachten, sondern schöne Mädchen des Volles, die sie herzlich und sinnlich anregten, und von denen manche eines Künstlers auserkorene Liebste war, die er in Holz oder Stein oder Farben im Kunstwerk herstellte, wonach das dann auf die Altäre als Mutter Gottes oder als irgendeine Heilige in die Kirche kam. Des Künstlers Liebesideal wurde so oft zum Anbetungsideal einer Kirchengemeinde.

Ebenso weiß man, daß die vielen Gedichte, die die Mönche für die Madonna, für ihre himmlische Braut, und die Nonnen an Christus, für ihren himmlischen Bräutigam schrieben, stark durchsetzt waren von weltlichen Liebeserinnerungen und unbewußt oder bewußt aus heißen Liebeserinnerungen und Liebessehnsüchten entstanden, die jene Männer und Frauen aus der Welt mit in die stillen Klöster brachten.

Wenn jene aus der Welt flüchtenden Menschen Mönche und Nonnen wurden und sich hinter die Klostermauern zurückzogen, schrien ihre Welterinnerungen auf, und ihr heißes Gedenken an genossene oder entsagte Lust verwandelte sich oft in die inbrünstigsten und schönsten Liebeslieder, in denen sie ihren eingekerkerten Sinnen Luft machten. Diese Künstler mußten öffentlich eine Gottheit verehren unter dem Druck der Weltanschauung ihrer Tage; in Wahrheit aber verehrten sie das festliche Leben, dem sie sich entzogen hatten.

Als dann eine freigeistige Zeit anbrach, kam auch die große Zeit für die Porträtmaler, wobei dieselben ihre Menschen nicht mehr als Heilige und Madonnen verkleiden mußten. Sie folgten der befreiteren Weltanschauung ihrer Zeit und malten, so gut sie konnten, auch Landschaften, in denen aber erst immer noch Menschenfiguren als Beigabe herumstanden.

Zu dem vielseitigeren Genießen reiner Landschaften, reiner Naturstimmungen, und zum Malen aller Leben ist erst unsere heutige Zeit mit der aufgeklärteren Geistesrichtung gekommen. Aber sie übt diese Kunst noch nicht so sichtlich reichhaltig und durch Menschengeschlechter geschult, wie es die buddhistischen Maler Asiens vermögen, welche die Insekten, fliegende Vögel, alle Blumen und Gräser und alle Naturstimmungen mit wenigen, kennzeichnenden Strichen wunderbar künstlerisch darstellen.

Laßt aber allen europäischen Völkern einmal die Weltanschauung von der Festlichkeit des geringsten Daseins bewußt werden, die Überzeugung von der Bedeutung der unendlichen Schöpferkraft, die in jedem Geschöpf liegt, die nicht nur den Menschen seelenvoll nennt, sondern, seelenvoll und dem Menschen gleichgestellt, das letzte Lebewesen, dann wird erst ein großes künstlerisches Aufblühen und damit ein inniges Vertiefen in alle Weltleben in der Dichtung, der Malerei, der Bildhauerei und der Musik einsetzen, so daß dann die Welt offensichtlich zu einer Festwelt wird.

Denn ihr sollt nicht sagen, die Japaner und die Chinesen und die meisten Asiaten erzeugen nur deshalb so viele Kunstwerke, und jeder ihrer Gebrauchsgegenstände ist nur deshalb von einem Kunstgedanken zum Leben gebracht, weil diese Völker ein angeborenes größeres Kunstverständnis und stärkeren künstlerischen ausübenden Sinn mit auf die Welt gebracht haben.

Das ist es nicht. Das ist eine bequeme Täuschung, mit der ihr euch selbst herabsetzt, weil ihr euch in Europa nicht gründlich in aller Weltallfestlichkeit erkannt habt, weil ihr euch nicht gründlich vertrauen wollt und noch teilweise in einer kunstfeindlichen, weil weltfeindlichen Weltanschauung befangen seid.

Die Künstler aller Zeiten waren wohl immer durchdrungen von der Festlichkeit aller Leben. Es waren nur die Volksmassen, die den Künstlern den Zwang einer beengenden Weltanschauung auflegten. Aber auch die Völker sind im letzten Grunde immer von der Festlichkeit des Daseins überzeugt gewesen, es fehlte ihnen nur die Reife und die Kraft des Eingeständnisses.

Die Kunstseele ist in allen Völkern und zu allen Zeiten immer dieselbe gewesen. So wie das Sonnenlicht jeden Tag rund um die Erde geht und überall Sonnenlicht ist, wenn ihr es nur zu euch kommen laßt und euch nicht vor dem Licht versteckt und das Licht nicht verbaut, und so wie die Erde unter euren Füßen euch rund um die Weltkugel gleichmäßig trägt und überall dieselbe Erde unter euren Füßen bleibt, so seid ihr Menschen, wandelnd zwischen Sonne und Erde, überall auf der Welt, durchdrungen von der Lust am Betrachten, am Zuhören und Wiedergeben der Welteindrücke, durchdrungen von der Weltallfestlichkeit, geboren.

Und aus diesem festlichen Empfinden heraus, das überall dem Menschenleben bei allen Völkern angeboren ist, entstehen auch überall die drei Kunstarten: Dichtung, Bildnerei und Musik. Nur schwächende Weltanschauungen und enge Weltüberblicke können teilweise das festliche Weltbetrachten dem Menschenherzen verkürzen, so daß die künstlerische Wiedergabe beschränkt wird.

Setzt aber einmal bei allen Völkern eine festliche Weltanschauung ein, so werdet ihr sehen, daß alle Völker höchste künstlerische Kräfte besitzen, und daß das Menschenleben sich zu einem harmonischen Fest auch in künstlerischer Hinsicht gestalten wird.

Halb bewußt und halb unbewußt gab ich mich damals in den Münchener Museen diesen Betrachtungen hin. Aber heute erst kann ich sie in Worten niederschreiben. Ich wußte damals nicht, was mich so eifrig zu den heidnischen antiken Kunstwerken hinzog, aber mich doch im allerletzten Grunde auch unbefriedigt ließ.

Ich wußte auch nicht, was mich in den Gemälden der christlichen Bilder bedrückte, und was mich daran, abgesehen vom malerischen Können jener Meister, unbehaglich, unbefriedigt ließ. Ich stand vor großen Werken der Malkunst, aber die Maler selber, das sagten ihre Werke, waren nicht Besitzer einer freien und natürlich festlichen Weltanschauung gewesen.

Darum fand ich mehr Freude draußen in der Natur, bei Spaziergängen, wo das Leben der Wälder und Berge, des Himmels und der Flüsse von keinem kurzsichtigen Zeitgeist erschaffen war, dort im Freien herrschte das Weltallfest vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen. Die Kunstwerke des Christentums konnten mir nicht dieselbe Festlichkeit geben, wie sie mir die Natur gab. Nur die Statuen des heidnischen Griechentums trugen ähnliche Lebensfestlichkeit zur Schau wie die immer festliche Landschaft.

Es war mir aber damals auch noch unmöglich, mein Handeln und mein Denken zusammen Hand in Hand gehen zu lassen, da die Gedanken nicht so klar wie heute vor mir standen, also der Gedanke noch nicht so sicher die Tat leiten konnte.

Ich wußte noch nicht, wie ich die Welt in Worten knapp durchgeistigt und verkörpert, ohne Anlehnung an die alte christliche Weltanschauung, in Gedichten wiedergeben sollte, und war oft recht verzweifelt und von Ungeduld geschüttelt.

Ich konnte auch niemanden um Rat fragen, mein philosophischer Freund hatte mir nur sagen können: «Verlaß die alte Weltanschauung! Sei ehrlich zu dir selbst. Du und wir alle haben sie im Grunde schon längst verlassen. Du findest den Weg zu neuen dichterischen Schöpfungen von selbst. Sei nur mutig!» Verlassen hatte ich die alte Welt. Aber ich tappte noch im unklaren und hatte keine neue vor mir. Denn die Wirklichkeitswelt, in der die anderen Dichter damals arbeiteten, die Alltagswelt, die Welt der Taglöhner und Proleten, die von ihnen mit Vorliebe damals aufgesucht wurde, die schien mir nur ein Nebenweg am Hauptweg zu sein, der eingeschlagen werden mußte, ein Vermittlungsweg zum Hauptweg.

Ich versuchte diesen Weg ein Stück zu gehen, und ich schrieb in München, um mir zu beweisen, ob ich mit photographischer Treue das Wirklichkeitsleben wiedergeben könnte, damals ein Drama in zwei Akten, betitelt «Das Kind», das mit allzu deutlicher Deutlichkeit den Seelenzustand eines jungen Mädchens wiedergab, während einer Nacht des Abschieds von ihrem Bräutigam, und das sich am Morgen nach dem Abschied aus dem Fenster stürzt.

Das Stück war kraß, erschütternd, aber es löste keine innere Erhebung in mir aus. Nur die Achtung vor wirklichkeitsgetreuer Schilderung blieb als Endgefühl in mir übrig. Und ich sah ein, daß äußere Wirklichkeitswiedergabe nur eine Schulung für einen Schriftsteller sein konnte, aber daß sie nicht höchstes Kunstideal werden durfte. Das Stück wurde später im Jahr 1900 vom Münchner Schauspielhaus angenommen. Aber ich zog es zum Erstaunen des Direktors vor der Aufführung zurück. –

Das Osterfest 1892 kam heran, und ich ging an einem Karfreitag, erfüllt von den Erinnerungen alter Osterzeiten, durch die Kirchen Münchens und kam in eine hohe alte Kirche, die war dunkel und wirkte wie ein geräumiger Keller. Und die Menschenmenge, die zu dem einen Eingang hineindrängte, Kopf an Kopf, und die Kirche durchquerte und zu einem anderen Eingang hinausdrängte, schob mich vorwärts.

Alle großen Gemälde über den Altären und die Altäre selbst und die Altarstufen waren, wie das immer in der Karwoche ist, mit tiefvioletten Tüchern zugedeckt. Und durch die Weihrauchwolken sah ich die Pyramiden der Kerzen aufragen, deren unzählige spitze Flämmlein mir den Eindruck von goldenen Dornen machten.

Vom Weihrauch halb verhüllt, stand der in Spitzengewänder gekleidete Priester am Altar, und als ich einen Augenblick zurücksah über die Menge, die mich vorwärts schob, stach durch die offene hohe Kirchentür das blauweiße Tageslicht grell in das dunkle Kirchengewölbe herein, als stahlblauer Strahl, und war wie ein mächtiges helles Schwert über den Köpfen der Menge. Und die Menschen, die Kopf an Kopf da drängten, erschienen mir wie ein Heerwurm, der unter dem blanken drohenden Schwert durch die Kirche zog.

Einen Augenblick schien es mir, als ich den Weihrauch aufsteigen sah, als hätten die Kerzen das violette Tuch, das über dem Altarbild hing, angezündet, und als rolle das Tuch feurig brennend und rauchend über den Köpfen der Menge hoch.

Ich ging dann nach Hause und schrieb den visionären Eindruck dieses Karfreitagkirchenbesuches in kurzer Skizze, die ich «Auferstehung» betitelte, nieder. Ich gab den Eindruck so wieder, wie ich ihn eben erzählt habe, nur ein wenig mehr ausgearbeitet, in heftigeren Farbeneindrücken und in knappen, etwas gehackten Sätzen.

In jenen Tagen in München – das muß ich noch vorher bemerken – hatte ich mir manches Mal ein Buch in der «Bibliothek der Modernen» geliehen. Diese Bibliothek war im Hause des Schriftstellers Schaumberger, und dort im Hausgang war ich im Vorübergehen den Dichtern O. J. Bierbaum und Ludwig Scharf vorgestellt worden.

Einige Tage später erhielt ich von O. J. Bierbaum die Aufforderung, eine kleine Arbeit für den «Musenalmanach» 1892 – 1893 einzusenden.

Nichts schien mir geeigneter für diesen Zweck als die kleine Skizze «Auferstehung», die kaum zehn Druckzeilen groß war, und die ich für meine erste und beste Leistung auf dem neuen Weg beschreibender Prosa hielt.

Ich dachte mir aber, daß wahrscheinlich Hunderte von Schriftstellern zu Beiträgen für den Musenalmanach aufgefordert worden waren, und daß das, was ich geschrieben hatte, so wenig war, daß es in dem Buchband kaum zehn Menschen auffallen würde. Mir persönlich sollte diese kleine Skizze die Linie zeigen, die ich einschlagen wollte. Nicht Wirklichkeitsschilderung, sondern in Vision umgesetzte Wirklichkeit wollte ich von jetzt ab geben.

Ich hatte damals noch keine Ahnung von Kritik und Kritikern überhaupt. So wie es nirgends in der Bibel steht, daß Gott bei seiner Schöpfung an eine Kritik derselben gedacht habe, so wenig war mir der Gedanke gekommen, daß ich je eine gedruckte Kritik über mich lesen würde. Ich selbst hatte nie Kritiken über Bücher gelesen, so wie ich auch bis dahin nur äußerst selten eine Tageszeitung in die Hand genommen hatte.

Ich dachte, Dichtungen werden schweigend geliebt oder schweigend abgewiesen, und ich wußte noch nicht, daß das meiste, was geschrieben wird, auch öffentlich besprochen wird.

Daß in den Zeitschriften Bücherbesprechungen gebracht wurden, in jenen modernen Zeitschriften, in welchen die neuen Dichter sich vereinigt hatten, um auf neue Wege hinzuweisen, das schien mir natürlich. Daß aber die Zeitungswelt, die Augenblickswelt, die doch keine Zeit zum Sichvertiefen haben konnte, Geistesarbeit zu kritisieren sich berechtigt fühlte, in derselben Weise, als ob man das Wetter beschrieb und Tagesvorgänge besprach, daß Geistesarbeit unter die Augenblicksvorgänge gerechnet werden könnte, das war mir ganz unbekannt und unverständlich.

Im Herbst desselben Jahres, als ich dann später von München nach Berlin gezogen war, erhielt ich eines Tages von meiner Familie aus Würzburg eine Nummer des «Berliner Tageblattes» zugesandt. Im Feuilleton war der Bierbaumsche «Musenalmanach» für 1892–93 breit besprochen. Aber mein Erstaunen wuchs aufs höchste, als ich meinen Namen an die Spitze des Aufsatzes gestellt sah und die Worte am Eingang der Kritik las: «Da tut ein Max Dauthendey seine milde Hand auf und schenkt uns eine Auferstehung.»

Ich begriff zuerst nicht, daß der Artikel von Hohn strotzte. Man hatte zugleich meine Skizze wortwörtlich abgedruckt, und man geißelte mit bissigem Spott die neue verrückte Schreibart, die für eine Tageszeitung auch wirklich nicht am Platze gewesen wäre. So schwer denkbar wie es ist, daß Botticelli Skizzen für eine illustrierte Tageszeitung gezeichnet haben würde, so wenig paßte natürlich die Skizze eines neuen Wegesuchers in den Alltagsstil einer Zeitung.

Da ich zur Mitarbeit aufgefordert worden war und meine Skizze als Geschenk dem «Musenalmanach» gegeben hatte, hatte ich die Einfalt, zu glauben, daß die Welt auch meine Arbeit als Geschenk annehmen müsse und nicht als eine Herausforderung zum Meinungszweikampf.

Grausam und ungerecht fand ich diesen unerwarteten Angriff auf meinen mit tiefstem, heiligstem Ernst ausgearbeiteten kleinen ersten Versuch, Wirklichkeit und Unwirklichkeit vereinigen zu wollen. Ohne nach der alten Figurenwelt von Engeln und Teufeln zu greifen, hatte ich die Visionen einer Kirchenstimmung, eine Karfreitagsphantasie, versuchsweise wiedergeben wollen.

Daß meine Welt nicht die Welt von heute war, wurde mir aus jener Kritik hier gründlich zum erstenmal öffentlich bestätigt. Aber mutlos oder kopfscheu machte mich diese Erkenntnis nicht. Und so breit, wie ich heute das Ereignis beachte, tat ich es damals nicht. Es war eine flüchtige Sekunde des Unbehagens, die aber doch so stark war, daß ich sie nach langen Jahren noch in mir aufgezeichnet finde. – Und ich erzähle dieses nur, weil es meinen ersten neuen Versuch betraf, der mir am Herzen lag.

Der Gedanke, die Natur phantastisch, doch ohne Verwandlung der Naturleben in Menschengestalten, wiederzugeben, beschäftigte mich damals in München, seit ich den ersten Versuch, die kleine Skizze «Auferstehung», geschrieben hatte, unausgesetzt.

Eines Sonntags wohnte ich im Münchener Hoftheater einer Vorstellung des Byronschen «Manfred» bei, und Ernst von Possart spielte den Manfred. Von meinem Platz aus auf einem der Ränge konnte ich immer sehen, wie die Versenkung sich öffnete, und wie einer der Erdgeister oder einer der Feuergeister aus dem Bretterloch aufstieg. Das störte mich sehr. Wohl war die Sprache des Dichters schön, aber auf dem Heimweg vom Theater sagte ich mir, ich hätte das Stück lieber gelesen und hätte mir dann die Gestalten der Elemente mächtiger und unbegrenzter vorstellen können.

Es wirkte komisch, wenn da in grauen Kattunstoff eingewickelte Menschen auf der Bühne herumliefen wie Gugelmänner, und wenn man sich vorstellen sollte, diese Vermummten sollen die verkörperten Elemente der Erde sein. So dürftig und so beschränkt war mir noch nie die Gestaltung der Elemente vorgekommen. Die Schuld lag nicht an der Bühne, nicht an der Darstellung, sondern am Dichter, der sich hätte hüten müssen, in seinem Drama ungeheuere Elemente in der Form von Menschen auftreten zu lassen.

Mein neuzeitlicher aufgeklärter Natursinn sträubte sich fortwährend gegen die Annahme, daß verkleidete Menschen Elemente darstellen sollten. Ich ging unbefriedigt nach Hause, und sagte zu meinen Freunden: «Ich möchte ein Drama schreiben, in welchem die Elemente auftauchen wie die Bilder im Gehirn eines Menschen. In dem Drama möchte ich Gletscher, Meer, Wüste als unsichtbare Chöre singen lassen.»

Jedenfalls stieg mir an jenem Abend unklar die Idee auf, daß, wenn ein Drama ohne Menschen auch eine Ungeheuerlichkeit wäre, es doch keine Unmöglichkeit sein müßte. Heute weiß ich, daß das alles nur Vorbereitungsgedanken für meine künftige Lyrik waren, in welcher ich dann mit Vorliebe Liebes- und Landschaftsleben verschmolzen habe, ohne den Landschaftsdingen Menschengestalten zu geben.

Als die Universität Osterferien hatte, fuhr ich mit dem einen meiner Freunde, dem Schweigenden, ins Gebirge nach Tirol, und wir stiegen zum Achensee hinauf. Zu beiden Seiten des Weges lag noch hoher Schnee, besonders hoch beim See an den kalten Nordseiten der Berge.

Der Ausflug währte nur zwei Tage, aber ich erinnere mich noch deutlich, als wäre es gestern, einer Sekunde, die ich auf dem See erlebte, und die in mir blitzartig die Gestaltung eines Dramas ohne Menschen schaffen sollte.

Wir saßen am Spätnachmittag in einem Boot, mein Freund ruderte. Wir waren an einer Seeseite gewesen, wo streckenweise der Schnee auf großen Wiesenflächen geschmolzen war, und dort waren, in der heftigen Frühjahrssonne, Gruppen von rosa Alpenhyazinthen emporgeschossen, die da wild und üppig wucherten.

Wir hatten einen großen Strauß davon gepflückt, der lag neben mir auf der Bootsbank. Ich hielt das Steuer und lag halb über den Bootsrand gebeugt und starrte in die herrliche smaragdgrüne Tiefe des Bergsees und freute mich an dem feuerblauen Schatten, den unser Schiff und wir selbst über die Seefläche zeichneten. Mir schien, wir schwammen mit dem Boot über einen ungeheuren Kristallberg.

Stellenweise konnte man die schlangenartigen Figuren der Seegewächse goldig am Grund aufblinken sehen oder Felsblöcke, die wie Goldklumpen spukartig aus dem grünen Wassergrund heraufsahen. Und versunkene Baumstämme waren da unten, unheimlichen Tierkörpern ähnlich, mit grünen und blauen Gliedern, die schienen mehr unwirklich als wirklich zu sein.

Ich ließ von Zeit zu Zeit einen Blütenbüschel des rosa Hyazinthenstraußes, daran ich einen kleinen Stein gebunden, in die Seetiefe gleiten, und es erstaunte mich immer wieder, wie die rosa Blumen in einer Tiefe blau und dann weißlich wurden und versanken, als fielen sie durch verschiedenfarbige Tinten.

Und ich stellte mir dann vor, wie meine Blumen nun da unten liegen mußten und sich nach der Sonne und nach den Wiesen oben sehnen würden, und daß der Seegrund sie nun nie mehr loslassen würde, und daß sie zu Stein werden mußten neben dem Stein, der sie hinuntergezogen hatte in die grüne Glaskammer des Sees.

Als ich müde war vom Hinunterschauen, sah ich drüben über dem Seeufer einige schneebedeckte Berge Tirols, und wenn auch keine Gletscher zu sehen waren, so bildete ich mir doch ein, so starr weiß müßten Gletschergipfel unberührt den ewigen Schnee tragen wie jene verschneiten Berge.

In demselben Augenblick ging die Sonne unter, und die Schneegipfel färbten sich, als wüchsen auf ihnen vor meinen Augen Felder von rosa Alpenhyazinthen. Es war aber nur die Abendsonne, die die äußersten Erdzacken aufglühen ließ.

Und dieses feierliche Schauspiel, dem ich im Boot, schwebend über der Seetiefe, im lautlosen Abend zusah, das prägte sich so stark in mich ein, daß ich es dichtend nachgestalten wollte, so wie es gewesen.

Und nach München zurückgekommen, dachte ich mir aus, ich wollte ein Drama schreiben, in welchem kein Mensch auftreten sollte, wie ich das schon einmal gesagt habe. Nur einzelne Menschenstimmen und Menschenchöre und Musik hinter der Bühne sollten die Verwandlungen begleiten.

Und ich wollte zuerst hinter der Szene eine große Stimme singen lassen. Das sollte die Stimme der menschlichen Sehnsucht sein. Und unsichtbare Chöre des Weltalls sollten ihr antworten.

Und die Sehnsucht sollte hinuntertauchen in die Meerestiefe, in die Pflanzengärten dort unten, wo die Perlen in ihren Schalen singen und tausend Jahre reifen. Und das Bühnenbild sollte den farbigen Meergrund zeigen.

Und die Sehnsucht, keine Ruhe in der Meerestiefe findend, sollte dann zum Gletscher eilen, zum ewigen Schnee. Und auf der Bühne sollte das Eis der Gletscherfelder aufglühen in der Abendsonne, und Chöre der Stimmen des ewigen Schnees sollten antworten, so wie die Scharen der Perlen in der Meerestiefe der Sehnsucht geantwortet hatten.

Und die Sehnsucht sollte auch dort keine Ruhe findend, vom Gletscher zur Wüste eilen und dem Sand und den Sandmeilen zusingen. Und der im heißen Wind aufwirbelnde Sand sollte in Chören der Sehnsucht antworten.

Und die Sehnsucht sollte endlich heimkehren, Heimgetrieben, nachdem sie nicht Ruhe gefunden, nicht in der Tiefe des Meeres, nicht in der Höhe des ewigen Schnees, nicht in der Hitze der Wüste.

Dann sollte im Abend ein Frühlingsgarten voll Blüten als letztes Bild dastehen und ferne Geigen unter den Blüten singen. Chöre der Blüten und die Mondstimme in der Frühlingsnacht und die Chöre der Blumendüfte sollten singen, und die Sehnsuchtstimme des Menschen sollte ihr letztes Lied finden und sich sagen: da sie nirgends auf Ruhe traf und auch das Weltall ihr geantwortet habe, daß nirgends Ruhe sei, so wäre die einzige Weisheit die, das Leid aller und die Liebe aller mitzuerleben, mitzujubeln und mitzuleiden. –

Ich wollte mich nun für dieses Drama vorbereiten. Schneeberge hatte ich gesehen. Auch die Seetiefe des Achensees konnte mir eine Vorstellung geben vom Meeresgrund. Nur über die Wüste wußte ich noch nichts. Und ich verschaffte mir Bücher mit Wüstenbeschreibungen.

Aber sie gefielen mir nicht. Ich konnte keine Stimmung aus ihnen erhalten. Und da erinnerte ich mich, wie ich als Knabe oft im heißen Mainsand auf einer Insel im Fluß nach dem Bade gelegen hatte. Und dieses ferne erlebte Bild des trockenen Julisandes mit der senkrechten Sonne am Himmel, gab mir mehr Wüstenvorstellung, als das Lesen von wissenschaftlichen Wüstenreisen in Büchern es vermocht hätte.

Aber es sollte noch ein Jahr dauern, bis ich die Stimmen des Dramas in Versen schreiben konnte. Das geschah im Jahre 1894, als ich zum zweiten Male in einem einsamen Pfarrhof an der Westküste Schwedens mehrere Monate zubrachte. –

Ich hatte jetzt in München fast alle Wagnervorstellungen besucht, den Nibelungenring gehört und war auch einige Jahre vorher in Bayreuth gewesen, wo ich bei einem Abstecher von Würzburg aus den «Parsifal» gehört hatte.

Wagners neue heftige Musik hatte mein junges erregbares Blut tief erschüttert. Aber Wagners Dramengestalten, die Götterfiguren in Menschengestalten, erschienen mir in der Darstellung auf der Bühne unmöglich und kindisch und nicht so überzeugend, wie es für unsere neuzeitlichen Vorstellungen nötig gewesen wäre, um in mir volle Andacht zu erwecken.

Ein dicker Tenor, der den Wotan spielte, oder eine üppige Sängerin, die die verklärte Gestalt der Freja oder die gewaltige Gestalt einer Walküre darstellen sollte, verärgerte meine Aufmerksamkeit jedesmal, so daß ich meistens die Augen im Theater schloß und nur den singenden Stimmen der Musik zuhörte und auf das Bühnenbild, das ich mir in der Phantasie viel schöner vorstellen konnte, gern verzichtete.

Ich war also aus innerem Antrieb und nicht aus Neuheitssucht auf den Gedanken gefallen, teils durch die Manfredvorstellung, teils durch die Wagnervorstellungen herausgefordert, einmal ein Drama zu schreiben, in welchem nur Chöre und Landschaftsbilder von der Bühne wirken sollten. Aber es sollte dieses durchaus nicht eine neue Dramengattung werden.

Ich wollte nur einmal eine Bühnenphantasie geben, die, ohne menschliche Figuren zu verwenden, erhebend wirken sollte. Ich hatte in der Wagnerschen «Walküre» in München auch gesehen, wie mit Dampf und bengalischen Flammen eine künstliche Branddarstellung erzeugt wurde, und ich stellte mir vor, daß die Landschaftsbilder meines Dramas, der Meeresgrund, der Gletscher und die Wüste nicht nur einfach nüchtern auf der Bühne dargestellt werden durften, sondern sie müßten, wie von Wolken getragen, erscheinen, auftauchen und in Wolken verschwinden wie Gedankenbilder im Gehirn eines Menschen. Und um dieses zu ermöglichen, sollte Dampf aus den Versenkungen aufsteigen und sollten so auf der Bühne Wolken erzeugt werden.

So wie in einem menschlichen Gehirn die Vorstellungsbilder bald klarer, bald unklarer wie aus Wolken aufzutauchen scheinen und dabei Stimmen der Gedanken sprechen oder singen, so sollten die Bühnenbilder in diesem Operndrama «Sehnsucht» sein. Und ich hatte die jedenfalls etwas waghalsige Kühnheit, an die Spitze meines Dramas, als ich es schrieb, die Worte zu stellen: «Die Bühne stellt das Gehirn eines Menschen dar.»

Die eilige Kritik, welche heutzutage den Dichtern ihren Wert schnell zu- oder abspricht und sie bei Lebzeiten schon untereinander in Rangordnungen dem deutschen Volke vorführt, und die nicht Rücksicht nimmt, ob der Dichter jung ist und sich entwickelt, sondern die ihn mit fünfundzwanzig Jahren vielleicht sogar an toten Dichtern mißt, welche achtzig Jahre geworden sind – diese hastige Kritik, die in dieser erstaunlich voreiligen Weise an den lebenden und sich entwickelnden jungen Dichtern oft schweres Unrecht begeht, konnte mir dann zwanzig Jahre hindurch diesen Jugendausspruch nicht verzeihen: «Die Bühne stellt das Gehirn eines Menschen dar.» Und man frischte diesen Satz in unzähligen Kritiken über mich jedes Jahr wieder auf.

Meine zukünftige Welt, die ich in mir täglich weiterbildete – und deren erste Anfänge mir heute noch ebenso heilig sind wie damals, weil sie ehrlich und echt gemeint waren und nicht aus Verblüffungssucht entstanden – hat man verhöhnt und verlacht, und man hat nie einen Augenblick daran denken können, daß alles, was ich damals schrieb, begründet war von dem Drang, eine neue Weltanschauung in der Dichtung zur Geltung zu bringen. Alle diese jungen Versuche aber zielten auf die Schöpfung einer mir eigenen Lyrik hin, die ich doch erst später geben konnte.

Den Dichter kann man nicht anspornen zum Blühen und ihn nicht hindern, wenn seine Dichtung blüht. Man kann nur die natürliche Verbindung zwischen Leserkreis und Dichter zeitweilig schädigen.

 


 << zurück weiter >>