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Im März 1893 reiste ich zum erstenmal nach Schweden. Auf dem Wege nach Warnemünde waren schon die Felder leicht grün. Der Schnee war fortgeschmolzen, aber die dunkle Erde und die helle Sonne standen noch unvermittelt nebeneinander. Dann, nördlich von Gothenburg, an der schwedischen Küste, war das Meer noch eine Eisebene und das Land ein Schneeland. Ein Küstendampfer, der mich nach Fjellbacka, einem Fischerdorf an der Küste der Provinz Bohuslän, als Fahrgast aufgenommen hatte, machte seine erste Frühlingsfahrt. Einige tausend Meter voraus dampfte der Regierungseisbrecher, um dem Passagierschiff den Weg zu bahnen.

Die Fahrt ging sehr langsam, weil unser Dampfer, um nicht an die Ränder des scharfen Eises anzustoßen, sich nur ganz vorsichtig in der Mitte der engen Eisschollengasse vorwärts bewegen konnte. Deshalb brauchten wir bei dieser Winterfahrt die doppelte Fahrzeit, die im Sommer dasselbe Schiff nötig hatte, um nach Fjellbacka zu kommen.

Ich wußte von Schweden aus meiner Geographiestunde kaum noch die Hauptstadt zu nennen. Wir in Bayern verwechselten damals, wie ich das öfters später noch erlebte, fortwährend Christiania und Stockholm miteinander. Und zwischen Schweden und Norwegen gab es für uns keinen großen Unterschied. Es waren eben Nordländer, Nebelländer von denen wir seit der Edda und später seit Gustav Adolf nichts mehr gehört haben.

Erst seit neuester Zeit, und das waren kaum fünf, sechs Jahre her, hörte man vom geistigen Leben, das dort oben erwacht sei. Man hatte uns Ibsen, Björnson und Strindberg in Übersetzungen vermittelt. Von den Ländern selbst aber, wie man sonst dort lebte, wußte man zu Anfang der neunziger Jahre in Süddeutschland recht wenig. Man hörte nur, daß die Engländer seit einigen Jahren im Sommer die Fjorde und die Gletscher dort oben aufsuchten, und daß sie das Reisen im Norden dem Reisen in der altmodisch gewordenen Schweiz vorzogen.

Besonders Schweden, von dem man nur den Wasserfall des Trollhättan als rauschende Sehenswürdigkeit nannte, lag hinter neunundneunzig Nebeln den Blicken des Deutschen, und besonders denen des Süddeutschen entrückt. Ich erinnere mich auch, als ich Schweden schon mehrere Jahre kannte, später bei einem Vortrag über nordische Kunst von einem Pariser Schriftsteller die Worte gehört zu haben « les pays imaginaires», wobei der Vortragende mit großer Geste in die Luft deutete und mit den Worten «Fabelländer» Dänemark, Schweden und Norwegen bezeichnete. Den Parisern auch lag damals Japan näher als der nebelferne Norden.

Ich selbst hatte von Schweden in den letzten Jahren nur den Namen Strindbergs nennen hören, und aus früheren Jahren war mir von schwedischer Dichtung nur Tegner und seine «Fritjofs Saga» bekannt.

In Kopenhagen aber, in Dänemark, war ich geistig stärker zu Hause. Andersens Märchen und mein Prosameister J. P. Jacobsen hatten mich mit Stadt und Land vertraut gemacht. Norwegisches Volk kannte ich aus Ibsens «Peer Gynt», aus Björnsons «Arne», aus Kiellands «Novellen», Griegs Musik und Munchs Bildern.

Norwegen und Dänemark waren mir deshalb viel bekannter als Schweden, das ich nur in Strindbergs «Leute von Hemsö» und Ola Hansens «Sensitivia Amorosa» ein wenig aus der Dämmerung unklarer Vorstellungen hatte auftauchen sehen. Denn das Buch «Gösta Berling» von Selma Lagerlöf, das Schwedens Land und Menschen mir hätte nahebringen können, war in Deutschland noch nicht bekannt, und ich las es erst ein Jahr später in Stockholm.

Daß sich an der schwedischen Westküste die Stadt Gothenburg befand, das war aus meinem Geographiegedächtnis bereits verschwunden gewesen. Ich sah im Geist an der schwedischen Westküste nur hinter Nebeln verschanzte Fischerdörfer und vereinzelte Gutshöfe liegen.

Aber es schien auch anderen Leuten so wie mir zu gehen. Denn als ich ein paar Wochen später eine Büchersendung nach Hause zu schicken hatte und zum Einpackpapier einige Gothenburger Zeitungen verwenden mußte, erhielt ich die erstaunte Rückfrage aus Deutschland, ob es denn in Schweden oben auch Zeitungen und Schnellpressen gäbe. Man konnte sich eben von dem seit Gustav Adolfs Zeiten verschollenen Land in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wenig Vorstellung machen. –

Ich war über Kopenhagen – Helsingör gereist, hatte in der Nacht den dunklen Giebel des Hamletschlosses Helsingör über dem Nachtmeer ragen sehen, war über den Sund nach Helsingborg gekommen und von dort in einem Bahnzug – dessen Wagen stark nach Heringen rochen – durch eine öde Schneelandschaft am Meer entlang nach einer Tagesreise nach Gothenburg gekommen.

Ich war in Gothenburg noch nachts auf den Dampfer gegangen, und ich fühlte mich unter der Obhut des jungen Schweden – der nur ein paar Jahre älter war als ich – in dem neuen Lande sehr gut eingeführt. Ich sehnte mich vorläufig nicht nach dem glänzenden Berlin zurück, das noch vor meinen Augen flimmerte, wenn ich sie schloß.

Ich hatte Deutschlands Grenzen früher nur dreimal verlassen. Einmal war ich ein Vierteljahr in der französischen Schweiz in Genf gewesen, um mich im Französischen zu vervollkommnen. Das war im Frühling 1889. Im gleichen Jahr, im Herbst, war ich ein Vierteljahr bei Verwandten in Rußland, in St. Petersburg, zu Besuch gewesen. Und die dritte Auslandsreise war der kleine Pfingstausflug im Jahre 1892 von München nach Venedig.

Ich erwähne dieses, damit der Leser nicht vermuten soll, ich hätte in meinem Erstaunen, das mich nun auf meiner Weiterreise in Schweden packte, keine vergleichenden Anhaltspunkte mit anderen Ländern gehabt und wäre vielleicht deshalb so übermäßig durch Schwedens Küste in Verwunderung gesetzt worden.

Ich befand mich nun auf dem kleinen Küstendampfer, der langsam in der schmalen Wassergasse durch das gefrorene Meer dem Regierungseisbrecher nachfolgte. Am Abend des ersten Tages, als die Sonne unterging, waren wir in der Nähe der Insel Smögen, wo der Dampfer für die Nacht anlegen mußte.

Die gelblichen Felsen, die dort senkrecht aus dem Meer standen, waren von breiten roten Streifen bestrichen. Es war dies der rote Rost großer Eisenadern, die sich über die Granitmauer verzweigten. Im Abendlicht sahen die Felsen wie blutige riesige Fleischstücke aus, die da auf dem weißen Riesenteller des gefrorenen Meeres lagen.

Als es dunkel war und kein Mond am Himmel, erkletterten der Schwede und ich im Finstern einen Steinweg zwischen den Holzhütten Smögens und kamen bis zu einer Felsenplatte, auf welcher der große eiserne Leuchtturm wie ein ungeheures Eisenrohr festgeschraubt stand. Dort über der kleinen freien Klippenanhöhe leuchteten die Sterne, jeder einzelne so groß über dem Meer, als wären sie nah wie winzige Monde. Es war, als stünden dort im dunklen Weltraum tausend zuckende Leuchttürme, deren weiße Feuer auf und nieder blinkten.

Ich spürte kaum die Eiskälte der Nacht. Ich erinnere mich, daß ich erstaunt war, als ich mich mit der Hand an den eisernen Turm stützte und derselbe kalt war. Das mächtige erhabene Gefühl, das vor den großen Himmelslichtern über dem lautlosen gefrorenen Meer in mir anschwoll, war wie eine unergründliche Wärmewelle. Die schien aus einer Sonne zu kommen, die ich nicht sah, und war in mich gedrungen, und ich fühlte mich körperlich verschmolzen mit Stein und Sternen und mit ihnen unzertrennbar zusammengehörig.

Gedanken meiner neuen Weltanschauung, die ich vorher nur in meinem Gehirn wie aufklärendes Sonnenlicht empfunden hatte, waren jetzt zum erstenmal hier in der ungeheuren Einfachheit und Größe der Winternacht am Meer mit der Ahnung der ewigen Wärme, die sie geben konnten, auch in mein Blut eingedrungen. Ich fühle noch heute, wenn ich daran denke, die wohltuende warme Zufriedenheit, die jene Nachtlandschaft im Eis und beim Glanz der tausend großen Weltkörper meinem Herzen gab.

Sonst, in Würzburg oder Berlin, war der Sternhimmel über den Häusern immer eine ferne fremde Nachtwelt gewesen. Die war scheinbar edler und reiner als die Tagwelt und hatte mich nur wehmütig sehnsüchtig stimmen können. Dort aber, in Schweden auf Smögen, fühlte ich jeden Stern so nah, als wäre er auf meinem Kopf gewachsen, und die Nacht hatte nichts Fernes und Fremdes mehr. Sie war mir zugehörig, wie mein Mantel am Leib es war, wie das kleine Küstenschiff, in dem ich nachher schlafen sollte. Sie war viel größer, als ich sie jemals gesehen hatte, die Sternennacht, und war dabei doch heimlich und gemütlich, wie sie nur denen wird, die nichts mehr hineingeheimnissen können oder wollen. Sie wurde zu einer vertraulichen Stube, in der ich seit ewigen Zeiten zu Hause war.

Es war mir aber auch zugleich, als könnte ich am Fuße jenes Leuchtturms, von der Klippenanhöhe über den fernen totstillen Meerrand fort, hinter die Meerlinie sehen, und da lagen in der Nacht in Deutschland helle große Städte. Und dort in abendbeleuchteten Straßen kreiselten die Lichter der Wagen und Fenster und Gedanken. Und jede Stadt war ein Lichterhaufen auf der dunklen Landkarte Deutschlands, und der größte Lichterhaufen war Berlin. Und wie kleine Phosphorpunkte sah ich dort denkende Menschen durcheinanderrennen. Da waren Dichter und Maler und Musiker. Das Echo ihrer Worte war noch fern über dem Meere wach. Aber alles, was die Menschen dort in den Lichterhaufen ausgrübelten, und was sie mit Licht im Hirn zusammentrugen, schien mir nicht so gütig, nicht so freundlich und einfach festlich zu sein wie die reine kluge Luft in diesem reinen guten Frieden auf der kleinen schwedischen Fischerklippe. Ich dachte mir: wenn der Morgen kommt, wirst du auch in Schweden am Land in einem alltäglichen Pfarrhaus, im Spinnwebenalltag, von neuem die Erhabenheit dieser Nacht einbüßen und den Eindruck vielleicht nicht einmal mehr erinnern.

Am nächsten Morgen, als ich schon ziemlich zeitig auf Deck kam, erstaunte es mich, daß das hohle Tuten der Sirenenpfeife des Schiffes, die nur im Nebel Stimme bekam, scheinbar von vielen Schiffen rundum beantwortet wurde. Das Meer war mit dickem Nebel bepackt, und das gellende Geheul der Dampfpfeife schien mir ähnlich dem Gebrüll mächtiger sagenhafter Nebelkühe. Und als ob ein Leitstier im Dunkeln brüllte und rundum die Kuhherde antwortete, so wurde die Dampferstimme vielfach im Nebel wiederholt.

Nachdem ich lange diesem Gebrüll gelauscht hatte, wichen die Nebelberge, und dunkle Felsenumrisse standen da. Unzählige, aus dem Meer gewachsene Inseln schienen wie eine große Stadt zu sein, wie viele Häuserblocks. Und das Meer ging zwischen den steingewölbten Inselklippen in sich kreuzenden Wasserstraßen hin. Und der kleine fortschleichende Dampfer schien stillzustehen. Aber die Inseln und die dämmerigen Gassen zwischen den Felsenwänden der Inseln schienen zu wandern. Und die schmalen Seewege wurden immer ähnlicher den Gassen einer großen Stadt, immer dunkler. Zuletzt waren wir tief in die Stadt aus Inselklippen eingedrungen und hatten nur über uns, wie in richtigen Straßen, einen schmalen Streifen Himmel, und unsere Stimmen hallten wie aus großen Gewölben von den kahlen Inselwänden zurück.

Und nun wußte ich auch, daß nicht Schiffe, sondern die Echos dieser Inseln und Inselgassen das Sirenengeheul unseres Schiffes vorhin hinter dem Nebel beantwortet hatten. Jede Felsenwand hatte den Dampferruf der andern Felsenwand weitergeben. Die alten Bewohner der Mauergassen, Tausende von Möwenfamilien, saßen in langen Reihen und in Nischen und auf den Felsenstufen an den steilen Wänden und sahen uns still an.

Wußten die stummen Vogelreihen, daß es bald Frühling wurde, da der ihnen altbekannte kleine Küstendampfer nach langer Winterpause zum erstenmal wiederkehrte? Sie waren nicht scheu, die großen silberblauen Vögel. Aus ihren dunklen Mauerwohnungen äugten sie uns, die Köpfe schief legend, nach.

Und diese silbernen Vogelscharen, die ich nie vorher in solchen Massen gesehen hatte, und die Inselgassen, in denen unsere Menschenstimmen weiter redeten, wenn die Reisenden oder der Kapitän an Bord laut sprachen, und auch die Steine rundum, alle waren mir vertraute Güter, als wäre ich von Kindheit an ihr Besitzer hier. Die fremde Inselwelt war mir so lieb vertraut, als hätte ich die Vögel hier immer gefüttert, als müßten sie bei meinem Ruf mir aus der Hand fressen.

Die Felsenstimme, die aus den harten Klippen aufgeweckt wurde, kam wie aus meiner eigenen Brust. Mir war, als könnte ich erzählen, was diese Steinklippen den Winter über gedacht hatten, während hier kein Dampfer gegangen war. Es war die reine kluge Luft, der reine kluge Frieden, die hier nichts Trennendes zwischen mich und die Umgebung legte und mich allwissend stimmte.

Dann kamen wir an einen großen weiten Meerplatz zwischen Küste und Inseln. Der Wasserplatz war weiß zugefroren, als wäre er mit einer einzigen kilometergroßen Marmorplatte gepflastert. Rote Holzhäuschen, in den Schnee geduckt, standen rot bemalt am Rand des Meerplatzes auf Pfählen und erschienen mir wie Nürnberger Spielzeug. Diese Meerbucht wurde von der offenen See durch die Inseln getrennt. Die roten Häuser am Rand der buckeligen Schneeküste bildeten den Fischerort Fjellbacka, wo der Küstendampfer anlegen sollte, und wo wir den Dampfer verlassen sollten.

Von jeder verschneiten Insel rundum löste sich dann ein kleiner schwarzer Punkt, vor welchem noch ein kleinerer Punkt herzueilen schien. Jeder Punkt war ein Mann, der von einer Insel übers Meereis herbeisprang zum Dorf Fjellbacka hin, und der mit dem Fuß vor sich her ein Fäßchen stieß, das über die Eisfläche rollte. Das Fäßchen, erklärte man mir, enthielt Fische, die später auf den Küstendampfer verladen werden sollten.

Auch der große Meerplatz hier, der zugefrorene, wirkte wie eine lautlose Riesenstube, auf deren weißer Diele die Männer herbeiliefen, weil Gäste ins Haus gekommen waren. Wunderbar behaglich wirkte diese winterstille Landung.

Dann am Land führte ein Schlitten, der vom Pfarrhof geschickt war, den jungen Schweden und mich mehrere Meilen in das verschneite Land hinein, hie und da an einem Einzelgehöft vorbei. Ich sah nur wenige Bäume auf dieser Fahrt und eine einzige Windmühle. Sonst waren überall schneebedeckte Steinbuckel, nirgends ein Wald. Es schien mir, als fuhr der Schlitten nur auf leeren Eishügeln bergauf, bergab.

Schon begann ich zu bereuen, daß ich das lebensfrische Berlin mit dieser toten Eiswüste vertauscht hatte. Ich wäre am liebsten mit dem Dampfer zwischen den Inseln ewig weitergefahren. Denn was konnte mich in dem Pfarrhause anderes erwarten als Religionsgespräche und Tagesklatsch und Weltnachrichten, während ich doch so gern tiefer in die Urwelt eingedrungen wäre. Blicke, wie ich sie am Abend vorher von Smögen beim Leuchtturm und heute morgen in Klippengassen hatte – wo nur Möwenfamilien wohnten und die Steinbrust meiner Menschenstimme antwortete und ich die stille Landung in der gefrorenen Meerbucht erlebte, von diesen Blicken ersehnte ich mehr zu bekommen. Und sollte ich zu alltäglichen Menschen zurückgeführt werden, so wollte ich aber auch dann gleich lieber wieder nach Berlin zu den geistig regsamen Menschen kommen.

Ich war noch jung und voreilig und schwankenden Eindrücken leichter preisgegeben, da ich auf kein Kapital von Erfahrungen zurückschauen konnte.

Ein wenig entmutigt saß ich neben dem Schweden, der nur ein gebrochenes Deutsch sprach, der sich freute, mir seine Heimat zu zeigen, und der während der Fahrt lebhaft seinen Kutscher befragte nach allem, was er von seinem Vaterhaus wissen wollte.

Der Schwede erklärte mir, daß all die waldlosen Hügel, die ich da ringsum sah, und an denen unser Schlitten hinaufkletterte, um dann wieder an der anderen Seite zu Tal zu fahren, daß diese Buckel in alter Zeit Inseln gewesen waren, an welchen die Wikinger mit ihren Booten damals landen konnten, und bei denen sie mit den Schiffen in den Meergassen hindurchgefahren sind, so wie es der Dampfer heute zwischen den Schären draußen getan. Das Meer aber war von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter zurückgetreten, so war das Land nach Westen hin gewachsen und war allmählich aus dem Meer gestiegen. Wir flogen also eigentlich im Schlitten hier über verschneiten Meeresboden.

Mehr als die Erklärung, daß ich in der Urprovinz der alten Wikinger war – die Provinz Bohuslän fühlt sich vor allen schwedischen Provinzen mit Recht stolz, weil sie auf tausendjährige Menschenvergangenheit zurücksieht – mehr als diese Erklärung befriedigte mich der Gedanke, daß ich auch hier im Schlitten immer noch auf meerverwandtem Boden war und die Hügel des Landes als Brüder der Meerinseln ansehen durfte, jener Inseln, in deren Nähe mir auf der Herreise so wohl gewesen war. Würden mir jetzt – so dachte ich – die Menschen mit alltäglichem Gespräch in den Ohren liegen, so brauchte ich im Pfarrhaus dann nur an das Fenster zu treten und würde dann meine Augen mit den Hügeln sprechen lassen und würde die Schiffe der Wikinger auf die Steinfelder kommen sehen, als wäre da noch Meerwasser rund um die Hügel.

Ich muß noch kurz berichten, daß der junge Schwede, der da neben mir im Schlitten saß, kein alltäglicher Mensch war. Er hing zwar keinem philosophischen Gedanken nach, aber aufgewachsen als Sohn dieser Bohuslänschen Provinz, von Mutterseite von altschwedischem Adel stammend und von Vaterseite stark gemacht durch Wikingerblut, hatte er das Leben bisher als ein Riesenabenteuer angesehen und es immer festlich gestimmt aufgesucht. Auch die Unruhe der alten Wikinger hatte er ererbt, und so war er schon durch die halbe Welt gereist, trotzdem er erst siebenundzwanzig Jahre zählte.

Aber den Beginn seiner weiten Reisen hatte er nicht mit den gewöhnlichen Verkehrsmitteln, mit Dampfschiffen und Eisenbahnen, ausgeführt, sondern ein kleines Ruderboot hatte ihm genügt. Und in seinem Kahn war er, alle Gefahren verachtend, der Westküste Schwedens entlang bis nach Kiel gerudert. Dort hatte er sich vom Ruderklub feiern lassen und war dann weitergerudert nach Holland und war endlich in Calais gelandet.

Diese seine außergewöhnliche Reise, die mehrere Sommermonate dauerte, hatte in der damaligen Sportwelt Aufsehen erregt. Die großen Zeitungen brachten sein Bild, und von den Zeitungen aufgefordert, beschrieb er seine Reiseeindrücke.

Mehrmals hatte ihn unterwegs beinahe der Meerirrsinn erfaßt. Viele Nächte mußte er auf dem Meere übernachten. In anderen Nächten war er bei Leuchttürmen gelandet oder auf Leuchtschiffen, wo die Männer den Meerentstiegenen erstaunt und ehrfurchtsvoll aufgenommen hatten. In London, wo er zuletzt hinkam, stellte man sein kleines Boot, das so viele Mühseligkeiten mit seinem Herrn geteilt hatte, zur Besichtigung aus. Aber als er die Rückreise antreten wollte, waren die Stürme in der Nordsee zu schwer. Er nahm dann die Aufforderung einer Zeitung, nach Amerika zu gehen und Amerikabriefe zu schreiben, an.

Als ich den jungen Schweden und Weltfahrer bei Ola Hansen in Friedrichshagen in Berlin an einem Abend kennenlernte, war er eben von Amerika nach Europa zurückgekehrt und sollte nach Hause reisen, nach Schweden, um dort sein Buch über Amerika in seinem Vaterhaus, im Pfarrhaus zu Bohuslän, zu schreiben.

Er hatte als Kind, angeregt dadurch, daß er seinen Vater jeden Sonntag predigen hörte, zuerst Lust gehabt, selbst Prediger zu werden. Wie er mir erzählte, war er als kleiner Knabe oft auf einen Stuhl gestiegen und hatte vor den Dienstboten des Hauses gepredigt. Dann aber hatte ihn das Meer doch stärker angelockt als die Kirche, und er hatte schon, als er fünf Jahre alt war, von alten Fischern in Fjellbacka Unterweisung im Segeln bekommen und hatte dann von seinem Vater ein eigenes kleines Boot erhalten, auf dem er bald eigenmächtig von Insel zu Insel steuerte.

Da Gothenburg in regem Schiffsverkehr mit England steht und sich der junge Schwede, als er älter geworden, Schriftsteller zu werden sehnte, ließen ihn seine Eltern später hinüber nach England, nach Hull, reisen, wo er in einer Zeitungsredaktion beschäftigt wurde. Zurückgekehrt von England, pflegte er eifriger den Rudersport als die Schriftstellerei und unternahm kurz danach die abenteuerliche Ruderfahrt im eigenen Boote über die Nordsee und machte dann die Rundreise durch Amerika. –

Jener junge Mann hatte also viel Welt und Wirklichkeit erlebt und sich mutig durch Meer- und Hungerstürme durchgeschlagen, als ich ihn kennenlernte. Und wir wurden gute Kameraden. Aber nicht bloß, weil er das Leben großzügig nahm, sondern hauptsächlich deswegen wurden wir Freunde, weil er einer jener wenigen damals war, die an der Überzeugung festhielten, daß die Dichtkunst über Prosa und Dramatik erhaben sei, wenn auch augenblicklich der Zug des Zeitgeistes verächtlich auf Gedichte und gereimte Dichtungen herabsehen wollte.

Dieses Vertrauen für die Dichtkunst bei ihm zu entdecken, das war mir ganz überraschend gewesen. Der Gedanke, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, machte mir ihn besonders wert. Ich war erfreut, daß ein Mann, der die Wirklichkeit und stets die Wirklichkeit vor Augen gehabt hatte, in seinem Innern die Dichtung, die damals die verachtetste Kunst in Deutschland war, hochhielt.

Er hatte eben erst auf seiner Rückreise von Amerika den holländischen Dichter Gorter, den ich damals nicht einmal dem Namen nach kannte, in Holland aufgesucht. Gorters Gedichte und dessen Gedichtbuch «Mai» waren ihm Heiligtümer geworden.

In jener Dichtung «Mai» ist der Frühling als ein kleines Mädchen beschrieben, das auf einem Kahn durch die Kanäle Hollands fährt. Und die Dichtung erzählt in schlichten und reichen Bildern, durchdrungen von weiser Innerlichkeit, was das kleine Mädchen, das «Mai» heißt, erlebt. Er erzählte mir außerdem, daß Gorter den einfachen Beruf eines Lehrers ausübe, und daß er eine schöne Gesprächsstunde bei ihm in seinem Hause erlebt habe, aber daß Gorter sehr traurig gewesen, da ihn sein Lehrerberuf quäle.

Auch hatte der Schwede Walt Whitmans großen Band «Grashalme» aus Amerika mitgebracht. Auch von diesem Dichter wußte ich nichts Genaues. Ich hatte nur seinen Namen flüchtig nennen hören, denn in Deutschland war er damals so gut wie nicht bekannt.

Mit diesem Freund, der jetzt in sein Vaterhaus, nach beinahe zweijähriger Abwesenheit, zurückkehrte, flog ich im Schlitten über die Hügel der weiß verschneiten schwedischen Provinz Bohuslän, wo jetzt Ende März der Schnee noch viele Fuß hoch ausgebreitet lag.

Es war aber nicht bloß die Lust an der Dichtung, die uns beide zu Freunden gemacht hatte, sondern auch die Lust am Wirklichkeitsleben. Aber darin, fand ich, war der Schwede mir überlegen. Er kannte eine Welt von Bedürfnissen, die ich nur vom Hörensagen genossen hatte. Er liebte schöne Frauen, gute Getränke, erlesene Speisen, gute Zigarren, neue Kleider und außerdem alle neuzeitlichen Bequemlichkeiten. Wohl waren meine Sinne ebenso wach für alle diese Genüsse wie die seinigen, aber die Gelegenheit hatte sich mir noch nicht so geboten wie ihm, die Welt der weltmännischen Genüsse aufzusuchen und zu pflegen.

Es erstaunte mich gleich zu Beginn der Reise, mit welch ausgesuchter Feierlichkeit er sich im Hotel zu Tisch setzen konnte und mit welcher Ruhe und Gründlichkeit er die Speisekarte untersuchte. Ebenso verblüffte es mich, daß den schweren Mahlzeiten sofort Kaffee, Likör und Zigarren folgen mußten, oder daß vormittags vor der Mahlzeit ein Magenbitter oder irgendein Bolsgetränk zur Anregung des Appetits genossen werden mußte.

In meines Vaters Haus war gut gekocht und gut gelebt worden. Aber ich hatte in all den Jugendjahren keine Zeit gefunden, den Gaumengenüssen nachzuhorchen, und ich wäre wahrscheinlich noch lange nicht auf den Gedanken gekommen, die Leibesgenüsse zu pflegen, hätte ich nicht in jenem Schweden einen Meister des Genießens gefunden. Ein gedeckter Tisch schien ihm ein Altar zu sein, an dem er für eine Stunde Gottesdienst abhalten konnte. Und die Würde, die Ruhe und die Andacht, mit der er das Zerlegen des Bratens, das Salzen der Speisen, das Betrachten der aufgetragenen Schüsseln vornehmen konnte, machten, daß man die Mahlzeit in seiner Nähe für eine heilige Handlung halten mußte. Und ich mußte bei seiner Art an die alten Helden Homers denken, die einst mit derselben schönen Umständlichkeit und Andacht die Hände zum lecker bereiteten Mahle erhoben hatten.

So ließ ich es mir gern gefallen, länger, als ich es früher getan, beim Essen und bei Essensfragen zu verweilen, und gewöhnte es mir an, mir den Schweden darin als Vorbild zu nehmen. Denn ich merkte, daß es mir gar nicht schädlich war, den Körper mehr zu beachten, als ich es früher getan, und ihm Genüsse zu gönnen, zu denen ich vorher mir nicht Zeit und Ernst genug eingeräumt hatte.

Ich begriff auch bald, je länger ich in Schweden war, daß es in einem so ruhigen und verhältnismäßig menschenleeren Lande jedem Menschen von der Natur leichter gemacht wird, mehr Zeit für sich und seine Lebensansprüche zu finden. Im hohen Norden mag es auch die vernichtende Kälte sein, die den Menschen zwingt, den Körper widerstandsfähiger aufzubauen und ihm breiteres Behagen zu bieten.

Auch diese Wahrnehmung machte mir Schweden lieb. Die Ruhe und Breite, mit der jeder einzelne Mensch seine Lebenstätigkeit nahm, diese Art tat mir wohl. Ich war als Bayer gewöhnt, den Körper ebenso gewichtig zu nehmen wie den Geist, welche Art ich bei Norddeutschen und besonders bei den Berlinern damals vermißt hatte, die mehr im Gedanklichen aufgingen.

Im Pfarrhaus, das in der einsamsten Einsamkeit, die man sich kaum ausdenken kann, wie am Weltende lag, in jenem Pfarrhaus murrte es erst in meinem Innern einige Tage, wie es im Magen eines Fleischessers murren mag, dem plötzlich reinste Gemüsekost verordnet wird. Man stelle sich vor, daß ich mitten aus dem Wintertrubel der Millionenstadt Berlin in eine Schnee- und Granitwüste verschlagen war, in ein großes weißes Holzhaus, in dem man den ganzen Tag als einzigen Laut eine Zimmeruhr ticken hörte. Sie war wie das alte Herz des alten Hauses. Sie redete den ganzen Tag vor sich hin in einem mächtigen Wohnzimmer, dessen viele Fenster ins Lautlose sahen. In den Vormittagsstunden kam zu einem Südfenster die Sonne hinter großen Blumenstöcken herein, und ich möchte sagen, daß es mich nicht verwundert hätte, wenn ich in der Stille dieses einsamen weltfernen Zimmers auch plötzlich das Vorwärtsrücken der Schatten der Blumenstöcke, die die Sonne über die Diele zeichnete, laut und deutlich gehört hätte, ebenso laut wie die laut marschierende Uhr.

Im Hause befanden sich unten große Erdgeschoßwohnräume und darüber unter dem Dach einige Giebelzimmer. In diesem einsamen Hause ging der Pfarrer, der Vater des jungen Schweden, wie der alttestamentarische Liebegott, alt und weißbärtig, stattlich und ehrfurchtgebietend, die Treppe zu seinem Studierzimmer hinauf und hinunter.

Ich hatte nie vorher in einem Holzhause gewohnt, und die unwahrscheinlich dünnen Wände, die doch keinen Laut hereinließen, weil es draußen noch stiller als drinnen war, diese dünnen Wände machten mir das Haus noch unwirklicher, als wäre es eine Erscheinung, gleichsam als wohnte ich in Eierschalen und könnte das Haus leicht zerbrechen und könnte in der Stille draußen körperlos aus diesem unkörperlichen Haus fortschweben.

Die älteste Tochter des Pfarrers, ein Mädchen von vierundzwanzig Jahren, und eine Gesellschaftsdame führten mit Hilfe mehrerer Mägde den Haushalt. Das Brot wurde im Hause gebacken. Die Milch kam aus den Ställen. Fische brachten die Fischer von Fjellbacka. Zu den Festtagen des Jahres wurde ein Kalb oder ein Schwein geschlachtet und eingesalzen. Die Hauptnahrung waren Fische, Milch, Grütze und Brot. Die Mutter des Schweden, die Frau des Hauses lebte im Winter mit den jüngeren Töchtern und einem jüngeren Sohn in der Stadt Gothenburg, wo die Kinder in die Schule gingen. Sie kam mit diesen nur im Sommer und zu den Festtagen in das Pfarrhaus.

Der Begriff, daß Menschen mit Fleisch und Blut dieses einsame Haus bevölkerten, der kam mir dort, wenn ich allein in einem von diesen totstillen Zimmern stand, leicht abhanden. Denn draußen sah ich jetzt, in den Tagen im April, wo der Schnee, zu großen Stücken zerrissen, von der Sonne weggeleckt war, keine Ackererde, keinen Grasboden, sondern überall nur Granit, überall steinerne Granitbuckel. Als trüge das Land eine eiserne Rüstung, so unbeweglich starrte der graublaue Granit mich von allen Himmelsgegenden her an. Alle Hügel rundum, von denen der Schnee verschwand, waren gewölbte Granitkuppeln, ebenso wie es die Inseln im Meere draußen waren, die ich auf der Herfahrt gesehen, und zwischen denen meine Stimme wie in Kellergewölben gehallt hatte.

In diesem steinernen Schweigen war es mir zuerst, als sei ich in einen ungeheuren Kerker geraten. Die Leute, bei denen ich zu Gast war, schienen meine Kerkermeister zu sein. Da ich noch nicht Schwedisch konnte, konnte ich nicht an den Gesprächen und an der harmlosen Unterhaltung teilnehmen. Im Haus bemühte man sich zwar, das Schuldeutsch, das jeder in Erinnerung hatte aufzufrischen und mit mir deutsche Sätze zu radebrechen. Aber man kam oft eine Stunde lang nicht über zwei Sätze fort, und die Unterhaltung stockte meistens im Gelächter über die deutsche Aussprache. Zum Beispiel verkündete mir die Tochter des Hauses eines Tages auf einem Spaziergang, daß sie sieben Greise im Stalle hätten und zu Ostern einen Greis schlachten würden. Sie verwechselte das schwedische Wort «gris», das Schwein bedeutet, mit dem deutschen Wort «Greis».

So hörte ich denn wie ein lebendig Begrabener auf das Leben rundum, ohne ihm näherkommen zu können. Aber um so schärfer wuchs die Aufnahmefähigkeit meiner Augen und Ohren, je länger ich zu unfreiwilligem Schweigen verdammt war. Und es ist mir heute, als seien meine Sinne in jenem Hause dort für alle Zeiten geschärft worden. Und vor allem lernte ich Landleben kennen. Ich, der vorher nur von Stadt zu Stadt gezogen war und das Land nur in der engsten Heimat kennengelernt hatte, freute mich, hier Land- und Meeresleben und Dichtungsleben zusammen genießen zu können.

Denn oft lange Vormittage saßen der junge Schwede und ich in dem großen Wohnzimmer bei der tickenden Uhr und, versuchten Gorters holländische Verse zu übersetzen und ebenso Walt Whitmans englische Verse. Und der Eifer ging mir dabei ebensowenig aus wie dem Schweden der Rauch seiner kostbaren Zigarre.

Gegen Ende April konnten wir die Zimmer verlassen. Der heftige nordische Frühling setzte über Nacht ein. Auf vielen der Granitbuckel trieb das purpurne Preiselbeerkraut, das die Hügel bedeckte, rote Blätter, und ferne Hügel standen tagsüber wie blutübergossen in der Sonne.

Der alte Pfarrer, der alte Liebegott mit weißem Bart, hatte mich öfters in seinem kleinen Wagen bei seinen Überlandfahrten mitgenommen, zu Krankenbesuchen oder zu Besuchen in anderen Pfarrhäusern. Und ich hatte mich immer wieder wundern müssen über die Einsamkeit und über den Granit, die auf Meilen über Meilen hier nirgends ein Ende nahmen.

Wo sich zwischen zwei Granitbuckeln ein wenig Humuserde angesammelt hatte, da hatte auch meistens an dem Rand des Erdfleckchens und im Schutz des Granithügels ein Menschenpärchen sein Holzhäuschen gebaut. Nirgends im Lande war ein Dorf. Die ganze Provinz schien ein einziges weites Dorf zu sein. Nur lagen die Häuser nachbarlich meilenweit auseinander. Und auf diesen Meilenstraßen fuhr der alte Pfarrer mit seinem alten Wägelchen, mit seinem alten zwanzigjährigen Gaul, als Hirte in dieser Einsamkeit tagelang umher.

Die kleinen rotgetünchten Bretterhütten mit den weißen schmucken Fenstervierecken und der weißen Türleiste saßen zwischen grauem Granit geduckt und tauchten wie rote Gesichter aus ihren Winkeln in der Ferne auf, wenn wir durchs Land fuhren. Eine einzelne Birke oder ein vom Wind schief gewehter Ebereschenbaum schmückten karg die ununterbrochenen Steinwellen des Granithügellandes.

Hier kam der Wind nicht wogend und weich über Äcker und rauschende Halme, er prallte von Stein zu Stein und zerplatzte an den Granitkuppeln. Und als ich einmal im Frühlingstau, weiter, gegenüber dem Pfarrhause auf der nächsten Anhöhe, die nur dreimal so hoch wie das Haus war, stand und auf die ferne Meeresstimme lauschte, die jetzt aus dem Eis mit der Brandung aufgewacht war, und die man auch mehrere Meilen von der Küste her immer wie ein fernes Gewitter donnern hörte, da sah ich die kleinen Schneewasser, die in den Granitsenkungen von der Bergkuppel herunterrieseln wollten, vom Winde senkrecht aufgestellt, so daß sie, ähnlich kleinen Springbrunnen, mehrere Fuß hoch in Strahlen zur Höhe zerspritzten.

Dort oben auf einem anderen Hügel in der Nähe des Pfarrhauses zeigte mir der junge Schwede eines Tages einige mannshohe Steine, die da, einen Kreis bildend, einst vor tausend Jahren von Menschenhand aufgerichtet wurden. Hier hatten die Wikinger den Ratring gehalten, und an jedem Stein stand einst ein Häuptling angelehnt, wenn die Ältesten unter freiem Himmel berieten. Die Männer besprachen hier ihre Kriegszüge. Und der unerschütterliche Steinboden unter ihren Füßen und der unerschütterliche Himmel über ihnen machte auch ihre Ratschlüsse fest und unerschütterlich und ihr Vorhaben, das sie hier planten. Die aufgerichteten Steine, die treuen Stützen jener Männer, standen nun noch nach tausend Jahren hier, unangetastet von der Zeit.

Als wir beiden jungen Männer uns jeder an einen der Steine anlehnten, mögen die greisen Blöcke sich gewundert haben, wie leichtbeweglich die Männer einer anderen Zeit geworden waren. Und vielleicht haben sie erst daran gemerkt, daß über ihnen tausend Jahre vergangen waren.

Und wieder oben auf einer anderen Granitkuppel beim Pfarrhause zeigte mir der junge Schwede eine große Steinplatte, darauf neun kleine Schiffe eingeritzt waren. Als früher das Meer bis an diese Steinplatte reichte und der Granithügel eine der vielen Inseln in der Meeresfläche gewesen ist, war hier ein alter Landungsplatz der Wikinger. Neun Boote landeten hier. Wenn damals die Frauen hier saßen und die neun Boote abends erwarteten, die von einem Kriegszug oder Fischzug heimkehren sollten, dann deckten sie mit den Händen die Zeichnungen der Boote auf der Steinplatte zu. Und für jedes Boot, das in die Bucht einlief, zog sich eine Frauenhand von den gezeichneten Booten zurück. So wußten sie, ehe die Boote noch landeten, ob alle heil heimgekommen und keines untergegangen war.

Tiefer im Lande waren auf anderen Steinplatten unter Dornbüschen noch mächtigere Granitzeichnungen zu sehen. Da zeigte man mir eine eingeritzte Bootszeichnung, die war so groß wie ein liegender Mensch, und der Drachenkopf am Kiel und die Schilde der Krieger im Boote und viel Runenschrift waren ausführlich mit viel Schmucklinien in den Stein eingegraben.

Die Runen spielten auch immer noch eine Rolle hier im Lande. Die Kinder lernten die Runenzeichen in der Schule und die Töchter im Pfarrhause hatten Bergstöcke, in deren Holz sie sich von ihren Bekannten Erinnerungsworte in Runenschrift einritzen ließen.

Die Töchter des Pfarrers waren frisch und gewandt, und die jüngste ritt oft früh morgens in ihren Ferien in weiten Reithosen auf ungesatteltem Pferd ins Land hinein. Und wenn sie heiß und mit offenem, geringeltem Haar zurückkam und schnell ins Haus springen wollte, um sich umzukleiden, weil sie sich ihrer Reittracht vor mir schämte, kam sie mir in ihrem Gemisch von Waghalsigkeit und Mädchenverschämtheit noch begehrenswerter vor als sonst. Aber sie war erst fünfzehn Jahre alt, und ich war nur ein junger Dichtersmann, zwar reich an vielen Plänen, aber sonst kapitalarm. Und ich wußte, daß ich hier noch nicht ans Freien denken durfte.

Der junge Schwede und sein Vater saßen am Spätnachmittag oder abends meistens jeder in einem Schaukelstuhl und rauchten ihre Zigarren, und der Alte ließ sich von seinem Sohn über dessen Rundreise und über die Amerikafahrt berichten. Der Alte war einmal als junger Student Hauslehrer in Brasilien gewesen. Er kannte also auch die Welt ein bißchen, und er schmunzelte behaglich und frischte bei den Reiseerinnerungen seines Sohnes seine eigenen Reiseerinnerungen auf.

In jenen Stunden, wenn Vater und Sohn sich in ihrer Sprache unterhielten, ging ich draußen auf den Steinwegen umher und wunderte mich, wie beweglich jetzt im Frühling sogar das unbewegliche Steinland wurde. Da waren tausend kleine Wasser, die wie ein verstricktes Netz über alle Hügel und Berge gerieselt kamen, und überall hörte man die Echos von Tropfen noch tagelang, nachdem die kleinen Bäche längst versickert waren.

In der Osternacht standen dann die Hügel dunkelblau und trocken, aber ein heller gelber Berg kam wandernd am Erdrand herauf. Der war zuerst nur ein kleiner Hügel in der Ferne. Mitten unter den abenddunklen Hügeln ein einziger sonniger Hügel. Und er wuchs, während ich wanderte, und rollte über die fernen Granitkuppeln fort und wurde zur goldenen Vollmondskugel, die sich vom Erdboden ablöste.

Der Mond hier in den ewigen Steinen war wie ein Leib aus Fleisch und wanderte wie ich, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich ihm dann später in einem der stillen Steintäler an einer Wegecke ganz nah begegnet wäre. Er schien mir hier keine ferne Welt zu sein, die da im Weltraum um die Erde kreist. Er war in diesen einsamen Tälern, wo niemand meine deutsche Sprache sprechen konnte, und wo ich so allmählich lernte, schweigend mit den schweigenden Dingen zu reden, mein heimatlicher Wanderkamerad.

Aber ich dachte mir dabei den Mond nicht als Menschen aus, mit dem ich plaudern wollte. Ich sagte nicht Du und nicht Sie und nicht Mann und nicht Frau zu ihm. Ich ging und er ging, und wir schwiegen und verstanden uns, und näher bin ich dem Mond nie wieder gekommen als in den einsamen Steinhügeltälern in Bohuslän, wo wir Kameraden waren und im fremden Lande deutsch sprachen.

Da gab es auch einen Platz am Weg beim Pfarrhaus, wo ein Dachs wohnte. Seit Jahren wohnte er da und war ein alter Nachbar des Pfarrhofes. Und wenn ich mit einer der Töchter spazieren ging, sprachen die jungen Mädchen immer geheimnisvoller und leiser in der Nähe der Wohnung des Nachbarn und riefen ihm Scherzworte zu wie einem alten Hausfreund.

Und da war ein kleiner Birkenhain am Fuße eines Hügels und am Rande eines Baches. Wenn wir dort hinkamen, sprachen die Mädchen noch leiser und legten den Zeigefinger auf den Mund, weil im Frühlingsabend der Birkhahn balzte. Der war der zweite Nachbar. Und er balzte dort in jedem Frühjahr, so lange die Leute denken konnten. Vielleicht war es immer ein anderer, aber davon sprach man nicht.

Und der junge Schwede – der neben der Schriftstellerei auch Botanik pflegte – hatte eine Birke dort am Waldrand besonders lieb. Und schon als Knabe hatte er in jedem Frühjahr die Birke mit seinem Messer angeschnitten und ein kleines Rohr in den Stamm gesteckt und sich den Birkensaft in den Mund träufeln lassen und hatte oft so der Birke Herzsaft genossen.

Wenn er jetzt manchmal heimkam vom Walde, hatte er wieder seine Birkenfreundin besucht, und dann war er immer schwärmerisch gestimmt. Er behauptete auch oft, wenn er von seinen Spaziergängen heimkam, wunderbare Blumen gefunden zu haben. Doch wenn er sie mir zeigte, waren es die allerwinzigsten Blüten der Welt. Denn andere wuchsen dort in der steinernen Welt im Vorfrühling noch nicht. Stiefmütterchen, deren Blüte nicht größer als eine Linse war, kleine blühende Bärenmoose und die kleine Linea, die stark mandelduftende Lieblingsblume der Schweden, die nicht größer als ein großer Stecknadelkopf ist. Wunderbar waren diese winzigsten Blumen wohl, aber ich hätte, an die deutsche Flora gewöhnt, diese fast unsichtbar blühenden Pünktchen nicht Blumen nennen können und erwartete immer, wenn der Schwede von Blumen sprach, daß er einen Strauß von großen Blüten nach Hause bringen würde, wie ich sie aus deutschen Wäldern und Wiesen kannte.

Oben auf den Granitkuppeln, wo wir im Vorfrühling, nachdem der Schnee so plötzlich verschwunden war, zur Mittagsstunde, wenn die Sonne die Steine wärmte, am liebsten saßen, weil man von dort die ferne Meerscheibe sehen konnte, dort wuchs aus Steinplatten heraus eine rote krallenartige Blüte. Und der Schwede fing manchmal eine kleine Spinne oder eine Fliege und warf sie auf die Krallenblume. Jedes Glied dieser Blüte war eine kleine Röhre und sah klebrig glänzend aus. Ein solches Röhrchen krümmte sich sofort und verschluckte das ihm zugeworfene Insekt. Diese Blume lag da vor uns im Sonnenschein auf dem Granit, der früher Meeresboden war, und erinnerte an den verkümmerten Rest einer einst hier lebenden Tiefseepflanze, die sich am Meeresgrund Beute gefangen hatte mit schlangenartigen Armen, und die nun die Insekten in der Luft belauerte.

Winzige Eidechsen huschten vertraulich, wenn wir auf den Steinen saßen, bis an den Rand unserer Schatten. Dann aber schreckten sie vor unseren beweglichen Schatten zurück und schossen wie kleine Pfeile davon.

Die kahlen Granithöhen, deren es Tausende bis tief ins Land hinein gab, zeigten wenig scharfe Ecken oder Kanten. Man sah ihnen allen an, daß das Meer sie einst rund gewaschen hatte in mehrtausendjähriger Arbeit. Und dieses, daß da rundum im Land nicht zackige Felsen waren, sondern zu Kuppeln geschliffene, glattgerundete Höhen, an denen man noch den Gang der großen Meereswellen, die sich einst hier überstürzten, deutlich eingeprägt und eingewaschen sehen konnte, dieses vom Meer einst umspülte und jetzt verlassene Granitgekröse, das jetzt statt des Wassers Sonnenlicht und Wärme auf sich leben fühlte, gab dem Gesicht der Landschaft ein unheimliches Gemisch von alter versteinerter Sturmpracht und unendlicher himmlischer Friedlichkeit.

Wenn Westwind war und man das Ohr auf einen Steinbuckel legte, hörte man in ihm das meilenferne Meerdonnern, das fern in Fjellbacka an die Küste gezogen kam, und das deutlich den Steinen tief im Lande Stimme gab. Es war, als kehrten die alten brausenden Erinnerungen in die fernen Granitmeilen der Hügel und Täler zurück. Und man würde sich nicht gewundert haben, wäre plötzlich das wirkliche Meer angestürzt gekommen in die hügeligen Granitwüsten, die in der Frühlingssonne nicht auf Blüten, sondern auf weißen Meerschaum zu warten schienen.

Hinter dem Pfarrhause, einige hundert Schritte fort im Tal, lief ein Bach am Rande eines verwachsenen Obstgartens. Woher der Bach kam und wohin er lief, wußte ich nicht. Er kam vielleicht aus irgendeinem der alten Eichenwälder, die ein paar Meilen weiter drinnen im Lande, urwaldähnlich, in üppiger bemooster Herrlichkeit, ohne Forstaufsicht, vorweltlich wuchsen. In dem kleinen Tal hatte das stille Wasser im Verein mit Abend- und Morgennebeln seit Jahrhunderten den Granit mürbe gemacht und hatte Humus und Waldabfälle in all den Zeiten reichlich angeschwemmt und hatte mitten im Granit ein paar Wiesen und Gartenerde geschaffen.

Und die Wärmeausstrahlung des Granites, der sich in der Sonne schnell erhitzte und nachts noch warm blieb, machte, daß im Frühling in jenem Tal am Bach entlang die Wiesen über Nacht blitzrasch aufblühten, so daß sie fast nicht natürlich, sondern wie plötzlich künstlich hingestellt aussahen. Halme und Wiesenblumen schossen in acht Tagen hoch. Da waren Schierlingpflanzen, Sauerampfer, Salbei, die da eilig in den Himmel wuchsen, üppiger als auf irgendeiner anderen Ackerwiese. Und die Wiesenkräuter dufteten in der reinen Steinluft nach reinstem Honig und nach starken Gewürzen. Das Grün und die siebenfarbige Blumenschar waren hier leuchtender und selbstherrlicher als auf irgendeiner Wiese der Erde.

Eingerahmt von den dunklen, am Tage noch nachtblauen Granithügeln, die auf der Sonnenseite wie altes Silber schimmerten und rötliche und lila Schatten warfen, wirkten die wachen Wiesen wie ein greller Spuk, unwirklich in dem unwirklichsten Land, das ich je gesehen habe.

Eines Tages hatte ich lange mit dem alten Pfarrer über Deutschland gesprochen. Der alte Herr hatte einmal vor Jahren in Halle und Leipzig studiert. Und wie ich mich so recht an die deutsche Heimat zurückerinnerte, da fiel mir erst auf, wie fremd hier um mich alles war. Ich war im Gespräch mit dem alten Herrn in Gedanken in deutschen Straßen bei deutschen Lauten, auf deutschen Wegen, an Äckern, Kornfeldern hingewandert und sah mich dann zurückgekehrt vor einem der Erdgeschoßfenster des großen Wohnzimmers im schwedischen Pfarrhof stehen und sah draußen zwischen den rotgetünchten Stallungen und den rotgetünchten Futtermagazinen den blauen granitbuckligen Felsenboden, den keine Menschenhand hier bewältigen konnte. Granit überall in mannshohen Buckeln und in tiefen Furchen. Der Granit machte auch noch den inneren Hof zwischen den Stallungen und dem Wohnhaus kraus. Wie ein zu Stein erstarrter Wasserfall stand der Granit vor den Fenstern, in steinerstarrten Strudeln, unerbittlich dem Menschen trotzend, hie und da roten Eisenrost zeigend und offenliegende Eisenadern. Furchtbar gerüstet und fremdartig starrte so das Land rund die wohnlichen Holzbauten und mich deutschen Menschen an.

Wenn es Abend wurde, und die Sonne hinter den nächsten Steinkuppen schwand, ließ sie den staubreinen Himmel zwar noch lange glashell leuchten, aber die stumme Steinlandschaft verwandelte sich, sonnenverlassen, rasch in eine dunkle Kohlenlandschaft, die schien geformt aus riesigen Schlackenmassen voll Höhen und Tälern. Fast angstvoll sah ich dann immer auf die ungewohnte Verwandlung. An jenem Abend, nachdem ich im Gespräch mit dem alten weißbärtigen Herrn weit in Deutschland geweilt hatte und er mich fragte, wie es mir in Bohuslän gefiele, mußte ich unwillkürlich ausrufen:

«Fremder könnte ich mich nicht fühlen, wenn man mich plötzlich von einer Erdlandschaft in eine Mondlandschaft versetzt hätte.»

Und ich bat, man möge mir eine Landkarte zeigen, damit ich mich überzeugen könnte, daß ich wirklich nur eine bis zwei Tagesreisen von Deutschland entfernt war. Denn ich hatte, solange ich jetzt in Schweden war, noch keinen genauen Begriff davon, unter welchem Breitengrad ich eigentlich lebte. Und wenn man mir gesagt hätte: «Sie sind ganz nah am Nordkap», so hätte ich vielleicht erstaunt gefragt: «Ach, bin ich nicht weiter von Deutschland fort?» Denn die Landschaft hier im Vorfrühling erinnerte wirklich mehr an Landschaften auf dem Mond als an Erdgebiete.

Auf der Karte sah ich dann zwar zu meinem Erstaunen, daß die bohuslänsche Küste nur am Skagerrak lag, dessen Meereswellen von Schottland und von der Nordspitze Dänemarks, von Skagen herüberkommen. Ich war also mitten in mir bekannter Geographie und war noch nicht einmal in Norwegen und hatte doch, der Landschaft nach, geglaubt, ich befände mich schon am äußersten Ende der Welt oder vielleicht gar nicht mehr auf der Erde.

Ich hatte in den ersten Tagen gefürchtet, mit dem Pfarrer über Glaubensfragen in Streit zu geraten. Aber dieses Pfarrhaus war so einzig dastehend in der Welt wie die Landschaft, in der es lag. Es herrschte da jene echte selbstverständliche Lebensandacht. Die Würde und die Ruhe, die den alten Pfarrer umgaben, waren ebenso unerschütterlich wie die Weltallwürde der Granithügel draußen. Denn dieser Geistliche dachte nicht daran, Glaubensfragen irgendwelcher Art aufzuwerfen oder aufzutischen. Sein Leben war tägliche Amtsarbeit, durchdrungen von ernster menschlicher Güte.

Zu Anfang jeder Woche besuchte der alte Herr bei Wind und Wetter – die dort schneidender als irgendwo sein konnten ferne, verstecktgelegene Armeleutehäuschen seines Sprengels, wenn er vorher Nachricht bekommen, daß irgendein armes Weib oder ein Kind oder ein alter Mann krank lagen. Am Mittwochnachmittag war Katechismusstunde. Aber man denke nicht, daß da Kinder ins Haus kamen, um die Sprüche und Gebote des Katechismus aufzusagen.

Es gab im Pfarrhause eine Bank, die stand unter dem Gebälk des Dachbodens, wo des Pfarrers Arbeitszimmer als breite Mansardenstube lag, und dort vor der Tür, unter dem schiefen Dach, saßen an jedem Mittwoch schief gebückte und ein wenig schief geratene Frauenzimmer der weitzerstreuten Gemeinde. Da waren Frauen, die Ehebruch begangen hatten, und junge Mädchen, die der Verführung eines Burschen nachgegeben hatten und sich nun Mütter werden sahen, ehe sie noch mit dem Burschen einen Hausstand gegründet hatten. Diese Verfehlungen gegen Haustreue und Gesellschaftssitte mußten vom Pfarrer dadurch gerügt werden, daß die betreffenden Frauen zusammen Mittwochs zur Katechismusstunde befohlen wurden, wobei sie noch einmal das betreffende Gebot, das sie außer acht gelassen hatten, sich einprägen mußten und sich vom Pfarrer einige darauf hinweisende Worte zum besseren Verständnis ihrer Lebensstellung sagen lassen mußten.

Der junge Schwede machte sich an jedem Mittwoch immer ein besonderes Vergnügen daraus, mich aus dem Giebelzimmer, das ich bewohnte, zu rufen, um mit mir langsamen Schrittes und plaudernd im Hausboden auf und ab zu gehen, wo die büßenden Frauen und Mädchen der Fischer oder Mägde der nächsten Güter auf der langen Bank verlegen beieinander saßen und auf den Pfarrer warteten.

Freitags war der Begräbnistag. Am ersten Freitag meines Aufenthaltes dort wußte ich das nicht. Als ich ahnungslos, am Giebelfenster sitzend, von meinem Buch zufällig aufsah, hörte ich fern am Himmelsrand, wo ein Schneeweg zwischen Granithügeln ging, einen Schlitten klingeln. Als dann das Gefährt am Pfarrhaus vorbeikam, bemerkte ich einen Sarg, der neben dem Kutscher einen großen Platz im Schlitten einnahm. Dieser eine Sarg erstaunte mich noch nicht sehr. Der Schlitten mit dem Sarg fuhr hinter die Hügel, wo die Kirche lag.

Aber nach einer Weile, als ich einen Spaziergang machte, kam auf einem ganz anderen Schneeweg, von einer ganz anderen Himmelsrichtung wieder ein Schlitten an, und als ich näher kam, sah ich, daß dieser Schlitten auch einen Sarg mit sich führte. Und auf einem dritten Weg aus einer dritten Richtung hörte ich dann wieder einen Schlitten klingeln, und nun blieb ich neugierig am Kreuzweg im Schnee stehen, um zu sehen, ob er auch einen Sarg dabei hatte. Und wirklich, es war wieder ein Sarg auch auf dem dritten Schlitten.

Nun wurde es mir ganz unheimlich. Da schwarzgekleidete Leute in jedem Schlitten saßen, die in ihre Taschentücher weinten, so konnten die Särge nicht leer sein. Und da die Schlitten aus verschiedenen Himmelsgegenden kamen, nahm ich an, es sei im ganzen Land eine Epidemie ausgebrochen.

Ich hörte dann aber im Pfarrhaus, daß jeden Freitag der Beerdigungstag war. Da die Leichen in dem kühlen schwedischen Klima acht Tage zu Hause aufgebahrt liegen dürfen, konnte man es so einrichten, einen einzigen Tag in der Woche zum Beerdigen festzusetzen.

Samstags und Sonntags waren Kindstaufen und Hochzeiten angesetzt. Diese fielen aber meistens in die wärmere Jahreszeit und nicht in die Schlittenzeit, indessen die Särge natürlich auch in der wärmeren Jahreszeit nicht ausblieben.

Am Samstag und Sonntag sah ich dann immer von meinem Giebelzimmer aus, auf den verschiedensten Wegen, über den Hügeln Bauernfuhrwerke auftauchen, deren Kutscher schon von ferne beim Anblick des Pfarrhofs lustig mit der Peitsche knallten. Gewöhnlich fuhren zwei, drei kleine Wagen hintereinander; und alle Peitschen knallten, und die Räder sprangen hoch über den Steinboden, und die Wägelchen hüpften mehr, als daß sie fuhren, und die Insassen hielten ihre Hüte und ihre Tücher am Kopf fest. Nur lachende Leute kamen an diesen Tagen in den Pfarrhof. Sie wurden an der Haustür des Pfarrhauses ausgeladen und stiegen zum Pfarrer ins Studierzimmer hinauf, wo sie ihre Traupapiere abholten, um nachher zur Kirche zu fahren.

Oder ein anderer Trupp lachender Leute begegnete mir auf der Haupttreppe. Sie trugen ein kleines weinendes Kind auf weißen Kissen oder in dicke Reisedecken gehüllt. Das Kindchen hatte stundenlang im offenen Wagen reisen müssen, um seinen Vornamen im Pfarrhause zu erhalten und seine Aufnahme in die Gemeinde. Auch die Särge hatten oft stundenlang reisen müssen, um ihre Toten bei der Kirche zur Ruhe zu bringen. Ebenso mußten die Brautpaare von allen Windrichtungen stundenweit Herreisen, um sich ihren Segen zum Ehestand beim alten weißhaarigen Liebegottpfarrer zu holen. Alles dieses war seit alters her so eingerichtet und wurde befolgt.

Des Pfarrers stattliches Landkirchlein lag hinter einigen Granithügeln, eine kleine Viertelstunde entfernt vom Pfarrhause. Das Kirchenhaus war ein schöner, vielhundertjähriger, behäbiger Granitbau mit gotischem Gewölbe und erinnerte an altschottische Kapellen. Ganz einsam lag das Gebäude in der Landschaft. Auf einer erhöhten Erdfläche, die den Friedhof bildete, stand diese schmucke silbergraue Kirche und hatte weite Fernsicht über das narbige steinerne Hügelland. Das Kircheninnere hatte Ähnlichkeit mit einem trutzigen Burgsaal. Die Sonne ging den ganzen Tag rund um diesen großen Kirchensaal, der einfach weißgetüncht war und doch einen festlichen Eindruck machte. Die Sonne sah auf ihrem Rundgang zu allen Fenstern in den Saal hinein.

Im Kirchhof draußen standen als Grabsteine viele mannshohe aufgerichtete Granitblöcke, und einige dieser Steine zeigten neuzeitliche Drachenzeichnungen, alte aufgefrischte Wikingererinnerungen.

Eines Sonntagmorgens fragte mich der junge Schwede, ob ich nicht einmal seinen Vater predigen hören wollte. Ich hatte längst gefürchtet, daß einmal im Pfarrhaus dieses Ansinnen an mich gestellt werden könnte. Und als ich fragte, ob der Pfarrer den Wunsch selbst ausgesprochen hätte, ob der Vater den Sohn beauftragt habe, mich zur Kirche zu führen, lachte der Gefragte und meinte, sein Vater kümmere sich nicht darum, was ich glaube oder nicht glaube, denn ich gehörte ja nicht zu seiner Gemeinde. Der alte Herr wisse recht gut, daß jeder nach seiner Art selig werden dürfe.

Wir gingen dann zur Kirche. Der Gottesdienst hatte schon begonnen, und der junge Schwede öffnete deshalb vorsichtig und langsam die Türe, erst nur ein wenig, um zu horchen, weil wir bei einer Pause eintreten wollten.

Dicht bei der Türe hörte ich aus dem Innern des Steinhauses eine laute Predigerstimme. Aber das schien nicht die Stimme des Pfarrers, nicht die Stimme eines gesunden, würdevollen und ruhigen Menschen zu sein. Diese Stimme klagte in den jämmerlichsten Lauten, ächzte, stöhnte und krümmte sich, als winde sie sich, um aus einem Menschenkörper zu entschlüpfen, der sie quälte. Und die Stimme näselte dabei, so daß ich ihr nicht glauben konnte, daß ihre Qual echt sei. Es schien mir, als jammere sie den Jammer eingebildeter Leiden; Leiden, die sie mit einer gewissen Wollust aufzählte. Die Stimme war wie die eines eingebildeten Kranken, der atemlos eine Krankheit nach der anderen an sich zu finden beteuert, und der sich und andere überreden muß, an diese Krankheiten zu glauben, weil er getrieben ist von einer unerklärlichen Notwendigkeit, fortgesetzt mit Krankheiten, die nicht vorhanden sind, sich und andere zu beschäftigen.

«Das ist doch nicht Ihr alter, ernster, Ihr stattlicher und rüstiger Vater, der da drinnen von der Kanzel spricht», sagte ich tief erstaunt zu dem jungen Schweden, nachdem ich einen Augenblick sprachlos draußen vor der Kirchentür gelauscht hatte. «Das ist doch nicht seine natürliche Stimme, mit der er sonst so weise, vornehm und würdevoll im Hause mit uns spricht.»

Der junge Mann sah mich an und lachte. Er hatte seinen Vater oft predigen hören, und er begriff nicht recht, daß ich die Stimme des alten Herrn nicht wiederfinden konnte.

«Das ist er nicht! Das ist ganz unmöglich», behauptete ich. «Das ist ein fremder Geistlicher. Sicher hat sich Ihr Vater heute von einem anderen Prediger ablösen lassen.»

«Aber ich kenne doch die Stimme meines Vaters wieder», meinte nun der Sohn ernst werdend.

«Ob das nun Ihr alter Herr ist oder nicht», sagte ich, «dieser Stimme will ich jedenfalls nicht zuhören. Diese Stimme kommt mir so unwahr und so unmenschlich vor, daß ich dem Menschen nicht zuhören will, der diese Stimme hat. Wie kann man bei schönem Frühlingssonnenschein so wimmern, wenn man nicht todkrank oder am Sterben ist! Ich finde diese Stimme unvernünftig. Der Frühling lacht auf den Steinen, und die Steine selber sehen in der Sonne so festlich aus, daß ich es eine Sünde finde, wenn ein Mensch an diesem frohen Sonntagmorgen ein so gequältes Gewimmer aufschlägt, welches mir ganz unausstehlich in den Ohren weh tut und meine Menschenwürde plagt.»

«Es ist aber doch mein Vater», lachte jetzt wieder der Schwede, der meine Rede mehr lustig als ernst fand, und den es plötzlich gewaltig unterhielt, daß sein Vater zwei so verschiedene Stimmen hatte. «Das ist seine Amtsstimme», sagte er. «Mit dieser Stimme muß er zu den Bauern und zu den Fischern sprechen. Sonst glauben diese einfachen Leute nicht den Worten, die er zu sagen hat.»

«Dann können die Worte nicht wahr sein», meinte ich und murmelte diesen Satz vor mich hin, denn der Schwede streckte eben seinen Kopf durch die Türspalte in die Kirche hinein und zog ihn vergnügt wieder zurück und sagte:

«Natürlich ist es mein Vater und kein Hilfsprediger. Aber jetzt, wo ich die Verschiedenheit in seiner Stimme empfunden habe, kann ich heute selber nicht mehr, ohne zu lachen, in die Kirche hineingehen.»

Und wir gingen und wanderten, immer noch über den alten Herrn und seine Stimme streitend und sprechend, von der Kirche fort, und schritten lachend über das frühlingsbesonnte Steingesicht der Landschaft, das so aufrichtig und unverhüllt am Sonntag wie am Alltag mit gleicher Würde und Vornehmheit einem zu Herzen sprach, und das nur eine tiefe Weltallsprache und nur eine festliche Lebensstimme kannte.

Später zu Hause, beim Sonntagsmittagstisch, war der alte Herr großgeistig genug, unsere Aussprache über seine zwei Stimmen, die wir vor der Kirchentür hatten, und die ihm sein Sohn erzählte, lachend und humorvoll aufzufassen. Und ich war dadurch einer peinlichen Erklärung meiner Weltauffassung, die ich unvermeidlich hätte geben müssen, enthoben.

Denn es ist mir nie eingefallen, solange mich meine neue Weltanschauung beschäftigte, sie irgend jemandem unaufgefordert einreden oder aufdrängen zu wollen. Trotzdem ich damals jung und lebhaft war, schwieg ich über meine Gedanken.

Teils schwieg ich, weil ich mich in den Jahren meiner Lebensunerfahrenheit älteren und in ihren Bürden und Gedanken weiß gewordenen Männern gegenüber nicht fürwitzig benehmen wollte, aber hauptsächlich schwieg ich deshalb, weil ich die neue Weltauffassung zuerst am eigenen Leben, am eigenen Geist und Körper durchkosten und anwenden wollte.

Ich schwieg aber nicht bewußt, ich fühlte nur unbewußt: die Zeit wird kommen, wo ich entweder die Auffassung von der Festlichkeit des Lebens vergessen, abgetan und als unsinnig empfinden werde, oder ich bleibe dieser Anschauung treu, und mein Leben und meine Lebensarbeit gestalten sich von selbst im Sinne meiner neuen Anschauung.

Und dann, wenn das einmal sein wird, dachte ich, dann habe ich in mir selber den Wirklichkeitsbeweis gefunden, daß man glücklich, weltfestlich und alle Leben verstehend und auf alle Leben eingehen könnend, auch zu den ältesten und zu den jüngsten Leuten wird sagen können: «Seht, ich weiß einen Weg, einen Gedankengang, der alle Handlungen des Menschen, die Tätigkeit und die Ruhe, die Freude und das Leid festlicher und reicher machen kann, als es bisher in allen Jahrhunderten der Menschheit möglich gewesen ist.

Sich Schöpfer und Geschöpf fühlen, ob man nun Handwerker oder Dichter ist, Mann oder Frau, König oder Knecht, sich zu fühlen als Besitz aller und als Besitzer des Alls, diese Kraft legt in eure Gedanken.

Mit dieser Kraft lebt euer Leben, und ihr werdet so reich sein wie jene Götter, die ihr euch immer reich gedacht habt, so reich werdet ihr dann sein. Ihr werdet allwissend, allfühlend, allweise sein. Ihr werdet allmilde, allgütig und gestreng sein, mit euch und allen Leben. Ihr werdet dem Menschenleben in dieser festlichen Lebensauffassung eine natürliche Schönheit geben. Und ihr werdet euch alle nicht mehr erniedrigen müssen, mit Doppelzungen zu reden.»

In den nächsten Tagen nach jenem Sonntagvormittag, an dem ich zum erstenmal in meinem Leben vor einer Kirchentür umgekehrt war und mich von einer Doppelstimme hatte erschrecken lassen, dachte ich viel nach und sagte mir, daß ich wahrscheinlich niemals vor jener Kirchenstimme erschrocken wäre wenn mir der Prediger unbekannt gewesen. Denn ich hatte eigentlich in der Kirche nichts anderes erwarten dürfen als den mir seit meiner Kindheit bekannten, halb klagenden, halb strafenden Kanzelton, bei dem wir Schulknaben alle unsere Sonntagvormittage bis zur Schulentlassung hatten verbringen müssen.

Aber hier in der fremdartigen Landschaft, auf dem heimatfernen Weltfleck, wo einen noch vor der Kirchentüre die Drachenzeichnungen alter starker Wikingererinnerungen auf aufgerichteten Friedhofsteinen empfingen und einem mächtige naturstolze Menschen aus der Vorzeit in die Vorstellung gerufen wurden, hier war in der Granitpracht des ungebändigten Landes und bei der Nähe des ungebändigten freien Nordmeeres die weinende, klagende, strafende und krankende Predigtstimme etwas, das sich so gar nicht in die starke Umgebung einfügte. So daß ich schon davon allein, vom Klang des jammernden Predigttones, bedrückt worden wäre, auch wenn ich gar nicht die schöne, vornehme und kräftige Alltagsstimme des Pfarrers vom Pfarrhause her gekannt hätte. –

Kein Mann darf aber zwei Stimmen haben; die Amtsstimme und die Hausstimme sollen beide so ineinander verschmolzen sein, so wie Mund, Lunge und Herz im Amt und im Haus dasselbe bleiben und nicht an- und abgelegt werden können durch einen zweiten Mund, ein zweites Herz, eine zweite Lunge.

Das Hausamt ist ebenso feierlich und festlich zu nehmen wie das Weltamt, und keines darf das andere an Würde überbieten wollen.

Denn Kinder zu erziehen, lebende Menschen zu schaffen und zu bilden und zu versorgen im Hause, das ist eine ebensolche feierliche Arbeit wie die Amtsarbeit außer dem Hause, die Würde verbreiten soll in das Leben der Menschenmassen.

Aber es war außer der Stimme auch der Schrecken über die Lehre von der Erbsünde und über die Lehre von dem Lebensjammertal, der mich mitten im Frühsonnenschein wie eine mittelalterliche Dunkelheit an der Kirchentür überfallen hat. Die Stimme, die da drinnen in der Kirche nur von Strafe und Leid und Sorgen zu predigen schien, von irdischen Qualen und sehnsüchtig erhofften ungewissen Himmeln nach dem Tode, diese Stimme schien die Tagessonne auslöschen zu wollen.

Ich versuchte es in den nächsten Tagen nach jenem Sonntag im Pfarrhause öfters, wenn ich mich mit dem alten Herrn in altgewohnter Weise unterhielt und er sich so ernst und gemessen in seinem Schaukelstuhl im großen Wohnzimmer wiegte, ob ich die Kirchenstimme, die mir von jenem Sonntagmorgen her wie ein trüber Spuk noch im Geiste stand, in den stattlichen, wohlgepflegten und trutzigen Herrn, der einem Wikingerhäuptling ähnlicher war als einem Pfarrer, hineindenken konnte.

Es war mir das aber ganz unmöglich. Zu Hause sprach der alte Herr tief und gewichtig, verständig, gesund und bedeutsam, und sein Ton wiegte sich auf einer allmenschlichen Güte und Würde, und in seinen blauen blitzenden Schwedenaugen blinkte das Salz eines klugen Verstandes wie der Glanz des Meeres. Und wenn die Sonne vom Fenster her in seinen weißen Bart leuchtete und wir von Politik und Philosophie sprachen und sein Sohn ihn beim Deutschsprechen ein wenig unterstützte, dann war das ganze einfache Haus, das diesen Alten in Amt und Würden seit vielen Jahren beherbergt hatte, für mich mehr festliche Kirche als die Kirche, zu der der Pfarrer Sonntags ging, und in der er, wie mir schien, seinen Leib aufgab und als sein eigenes Gespenst auf der Kanzel stehen mußte und zu Gespenstern predigen mußte.

Diese Begebenheit verwischte sich aber bald, verdrängt von neuen Tagen und neuen fremdartigen Eindrücken.

Eines Tages, als wir auf der Höhe beim Pfarrhaus standen, der junge Schwede und ich, und nach der Ferne hinhorchten, wo es immer wie Erdbeben grollte, und wo die Meerlinie mit ihrem Glanz den Erdrand silbern erscheinen ließ, da sagte mein Freund zu mir:

«Ich habe mit meinem Vater gesprochen. Er leiht uns morgen Wagen und Pferd. Dann fahren wir nach Fjellbacka. Dort nehmen wir ein Segelboot und segeln mehrere Tage.»

Es war nun Mitte Mai, und überall zwischen den Steinen grünte es, und die Birken winkten im Wind mit tausend kleinen grünen Wimpeln, und die Sonne ließ sich nicht vom Meerwind verjagen. Es waren keine Wolken mehr am Himmel, und ich war sehr erstaunt, als der Schwede mit der Hand über das Land nach der Richtung des Meeres deutete und mitten im hellen Maisonnenschein behauptete, heute wäre noch Sturm auf dem Meer. Aber morgen würde der Wind wohl nachlassen, da es schon mehrere Tage gestürmt habe.

Da fühlte ich zum erstenmal, als passe das Wort Landratte auf mich. Sturm, ohne dunkle fliegende, grell beleuchtete Wolken, Sturm bei klarem blauen Himmel und reinstem Sonnenschein, dieses Sturmbild hatte noch nie in meiner Vorstellung gelebt. Aber ich fühlte, daß der Wind scharf an uns anprallte, als wir da in der Sonne unterm wolkenleeren Himmel auf dem Granithügel standen. Also mußte es draußen auf dem Meere bei diesem Winddruck hohen Seegang geben.

Der Schwede zeigte mir von unserem Platz aus einige Brandungswellen, die man am Horizont wie den weißen Dampf aus einer Kanone über dem sonnenglänzenden Meeresspiegel aufsteigen sah. Dort prallte das Meer an unterirdische Klippen und sprang in haushohem Schaum zur Luft. Das tat es aber nur an Sturmtagen. An windstilleren Tagen kreiselte es, nur ein wenig aufspritzend, an jenen Meerstellen.

Am nächsten Morgen waren wir schon um vier Uhr aufgestanden. Ein Knecht hatte das Pferd geschirrt und den Wagen vors Haus geführt. Alles schlief noch. Die Mägde hatten vergessen, uns Milch ins Eßzimmer zu stellen, und so ging mein Freund selbst nach der Milchkammer, um uns einen Morgentrunk zu holen. Er kam aber gleich wieder, leise auf den Zehen gehend, und winkte mir verstohlen.

Um zur Milchkammer zu kommen, mußte man durch die große Mädchenkammer gehen. Und als ich hinter dem jungen Schweden dort eintrat, verstand ich lachend, warum er mich gerufen hatte. An den Wänden befanden sich in dem Raum drei pritschenartige schmale Betten, so schmal, daß sie kaum den üppigen Leib der Stall- und Küchendirnen fassen konnten, die da schliefen. Die Mädchen ließen die nackten Arme auf die Dielen herunterhängen, schöne stattliche Arme mit rosiger, zarter Haut, wie sie dem schwedischen Volke eigen ist.

Die lautlose Kammer im dämmerigen Morgenlicht, in der nur die Atemzüge der drei kräftigen Geschöpfe gutmütig auf- und niedergingen, war wie ein Bild aus Homers Zeiten. Ursprünglich, naturwüchsig und festlich irdisch war der Eindruck der gesunden, schlafenden Mägde, die da den Schlaf wie eine geweihte Mahlzeit vor uns genossen.

Während ich noch unter der Türe stand, ging der Schwede in die Milchkammer und holte den Milchkrug. Er konnte sich dann nicht enthalten, im Vorübergehen mit einem Löffel einige Tropfen Milch einer Magd auf den nackten Arm zu spritzen. Die so Gestörte öffnete die Augen, schien uns aber in ihrem angenehmen Schlafdunst für zwei Traumgesichter zu halten. Sie erschrak gar nicht, rückte auch die Arme nicht von der Stelle. Sie lächelte ein wenig, schloß die Augen und atmete weiter.

Wir schlossen wieder vorsichtig die Tür, und nachdem wir die Milch lachend getrunken hatten, verließen wir das Haus und kletterten auf den Wagen.

Im Augenblick aber, da der Knecht dem jungen Schweden die Zügel gab und, uns grüßend, sich zurückzog und der Wagen mit Lärm den Hof verließ, sahen wir hinter den Erdgeschoßfenstern der Mägdekammer alle drei Mägde hinter den Scheiben stehen. Sie drückten ihre Nasen an das Fensterglas und winkten uns zum Abschied ein wenig nach.

Sie hatten alle drei den muntern Sohn des Hauses gern. Dem jungen Schweden behagten auch die Landmädchen mehr als die Stadtfräuleins. Bei jeder Gelegenheit sprach er ein wenig spöttisch über Stadtdamen und lobte die gesunden einfachen Bauernmädchen seines Landes, deren Stallgeruch ihm angenehmer war als die überfeinerten Wohlgerüche der Städterinnen.

Er war auch der erste Mensch, dem ich begegnet bin, der in Paris gewesen war und die Pariserinnen nicht ausstehen konnte. «Sie sind nur eine Firnismasse und keine Menschen», behauptete er. «Es sind Wesen mit Schminke und Puder maskiert, verstandesmäßige, geldgierige Geschöpfe, deren ganzes Dasein sich in ewigen Berechnungen abwickelt, fern von allen natürlichen, einfach menschlichen und warmen, gütigen Gefühlen.» Er sagte, er habe es nur drei Tage in Paris ausgehalten, so sehr habe ihn diese Stadt geekelt.

Ich war damals noch nicht in Paris gewesen und hörte diese Äußerungen mit Staunen. Ich hatte bis dahin Paris von den Deutschen immer nur loben hören. Dem urgermanischen Widerwillen gegen alles Romanische; dem Widerwillen, der die beiden Völker wie Hund und Katze in den tiefsten Instinkten einander nie natürlich befreundet macht, wenn nicht gegenseitige Geduld, Weisheit und Nachsicht walten, diesem Gefühl war ich noch nie so offen begegnet wie hier bei der Wikingernatur des jungen Schweden.

Ich war seit dem Tag meiner Ankunft aus Deutschland nicht wieder an der Küste in dem Fischerdorf Fjellbacka gewesen, denn der Ort lag zu weit weg, um ihn auf einem Spaziergang vom Pfarrhause erreichen zu können. Nun fand ich Fjellbacka frühlinghaft wieder. An der steil zum Meer abfallenden Hauptstraße standen die schmucken Holzhäuschen frisch weiß und gelb und blaßblau und rot bemalt, und in den winzigen Vorgärten, auf wenig Erde, zwischen buckligem Gestein, grünten sparsame Gartenbeete, in denen die wenigen Blumen kostbarer zu leuchten schienen als irgendwo; sie wurden hier den Menschen wertvoll, ähnlich dem Schluck Wasser, der in der Wüste den Wert von Menschenleben hat.

Fjellbacka heißt: Felsenhang. Die niedlichen roten Holzhäuschen kleben hier wie ein Haufen Schwalbennester an der grauen und lilarosigen Felsenwand, die dort zum Meer abfällt. Im Dorf sind winzige Gäßchen, und manches Häuschen ist nicht viel höher als ein Mensch. Manches Fischerhaus hat nur eine Küche und eine Stube, aber glänzt von Sauberkeit innen und außen. Die Gassen sind von Felsen natürlich, höckerig gepflastert, und jeder Schritt muß erklettert werden über kleinen und großen Granitbuckeln, die auch hier wie überall in Bohuslän in der Erde einen einzigen riesigen Stein zu bilden scheinen, der den Umfang einer ganzen Provinz behauptet.

Nachdem wir den Wagen in den Gasthof eingestellt hatten, traten wir unter einem nach Fisch und Teer duftenden, roten, hölzernen Vorratsschuppen hinaus auf eine Landungsrampe. Diese steht auf Holzbohlen ins Meer gerammt, und an ihr liegen unzählige kleine Boote der Fischer und Händler von Fjellbacka angeseilt.

Es machte mich fast erschrocken, wie dunkel und abgrundfinster das Meer mich ansah, das ich zuletzt acht Wochen vorher, als weiße blinde Eisfläche undurchsichtig erstarrt gesehen hatte. Und nun spielte es mit kleinen kurzen quecksilbrigen Wellen, die die Farben der verankerten bunten Fischerboote zurückspiegelten, als wäre das Wasser mit gelben, roten, blauen Glassplittern bestreut. Aber weiter draußen wurde das Meer ein dunkelgrüner Abgrund.

Es war mir einen Augenblick, als endete hier an der Anfahrtsrampe alle Erde, und das Meer schien einen Weltabgrund auszufüllen. Ich hatte das Meer vom Lande drinnen nur als ferne Spiegelfläche gesehen und ganz vergessen, daß es eine ungeheure Tiefe hatte. Bei der Winterfahrt vor einigen Wochen war mir die Meeresoberfläche, die vereist gewesen, wie ein weißer Ballsaal mit blankem Boden erschienen und hatte nicht von Tiefe gesprochen und von keiner Unergründlichkeit, vor der ich jetzt staunte.

Als wir dann ein Boot bestiegen und der Schwede mit Hilfe eines Fischers die Segel aufsetzte, da war es ein großer Genuß, sich vorzustellen, daß wir nun in dem Kahn auf der tanzenden Wasserfläche hin über Abgründe, in denen alle Möglichkeiten des Todes lauerten, schweben sollten.

Das Meer, das vor Fjellbacka nicht frei liegt, sondern nur einen Meerplatz bei der Küste bildet, der von den vorgelagerten Inseln wie von hintereinanderliegenden Hügeln begrenzt wird, das Meer hat hier durch die Eingeschlossenheit etwas Heimliches, Gemütliches. Man war hier erst in einem Vorgemach zum Unendlichkeitssaal des Meeres.

Ungefähr in der Mitte dieses eingeschlossenen Meerplatzes liegt ein winziges Steininselchen, das sich nur mehrere Fuß hoch über den Wasserspiegel hebt. Diese Insel, auf der kein Baum und kein Strauch steht, sondern wo nur ein paar Holzgerüste zum Trocknen von Fischen errichtet sind, dieser kleine hellgraue Steinbuckel befand sich noch im letzten Jahrhundert unter dem Meeresspiegel, und an jener Klippe ist damals bei einem Sturm ein Bischof in seinem Boot mit seinen Leuten aufgerannt und untergegangen.

Dieses erzählte mir der Schwede, während wir jetzt im schönsten Morgensonnenwetter an dem Inselstein vorüberkreuzten. Und es war mir wunderbar, auszudenken, daß Steine aus dem Meere wachsen, und daß neue Welten sich bilden, und daß das hundertjährige kleine Inselchen noch wie ein Kind im Verhältnis zu den großen Inseln draußen war und doch schon hundert Menschenjahre zählte.

Und auszudenken, daß da einmal, wo wir jetzt über Abgründen, mit Meersalz bespritzt, in der Morgensonne hinfuhren, das Wasser verschwunden sein würde und überall Land auferstehen würde!

Daß dann da Menschen gehen und Häuser bauen würden, wo jetzt Wasser war! So wie das Pfarrhaus drinnen im Land auf Meeresgrund stand, so würden Menschen hier walten, und niemand würde sich dann der Menschen von heute mehr erinnern nach den Tausenden von Jahren; niemand würde an uns beide denken können, niemand an diesen Tag, an dem wir hier Wirklichkeit waren.

Und wir hatten doch wirkliche Herzen und Hände, die jetzt eben in jedem Augenblick auf unser Leben bedacht sein wollten, die die sonnendurchleuchtete Segelleinwand sorgsam an den Tauen der Windrichtung anpassen mußten und vorsichtig gegen den Wind kreuzen mußten, um unsere Leben über die Abgründe zu bringen, die unter uns lagen.

Und auszudenken, daß unsere Schatten und der Schatten des Schiffes, die als schwarze gezeichnete Flecken über die grüne Wasserfläche mitfolgten, nicht körperloser waren als die Körpermasse des Bootes und unserer beiden Menschengestalten! Und ich verstand, daß das Holz des Bootes und sein Leben und das Leben der Segelleinwand und unsere Körper aus Fleisch und Blut, die so verschieden aussahen, im Grunde sich in nichts voneinander unterschieden. Sie würden, wenn hier das Wasser verschwunden und dieser Meeresplatz ein Tal mit Menschenhäusern darin geworden war, alle in der Spurlosigkeit eins geworden sein. Dieses Meer von heute, dieses Boot von heute und wir zwei Menschen im Boot waren im Grunde körperlose Schatten.

Und diese Betrachtung, die sicher täglich an verschiedenen Orten der Erde und rund um die Erde Tausende von Menschen anstellen, diese Betrachtung, die angestellt worden ist, so lange Menschen auf der Erde leben, endete bisher immer bei allen Sterblichen mit einem Seufzer des Sichhineinfindenmüssens in die lästige Vergänglichkeit.

Die Menschen aller Zeiten sahen das Vergehen ihrer Gestalt fast als eine persönliche Beleidigung an, als eine Beleidigung, die ihnen jemand antat, jemand, von dem sie behaupteten, daß er stärker wäre als sie.

Und das Menschenleben konnte nie recht aufatmen, wenn es an die Vergänglichkeit erinnert wurde. Denn nur wenige haben den Gedanken in all den Zeiten zu Ende gedacht, der mit etwas Lebenslust so leicht zu Ende zu denken ist.

Es wird uns nichts angetan, auch wenn wir am Ende unseres Menschenlebens den Tod zur Menschengestalt kommen lassen. Denn wir sind aus der Vergänglichkeit hergekommen, aus der Unergründlichkeit, und gehen in die Unergründlichkeit. Wir gehören also dem Unergründlichen immer an, auch in jeder Sekunde des Lebens, weil wir von dort herkamen. Aber wir gehören ebensogut immer der Wirklichkeit an, weil wir zur Wirklichkeit kommen konnten.

Da einmal für uns die Möglichkeit vorhanden war, ins Wirklichkeitsleben zu kommen, so können wir ruhig annehmen, daß diese Möglichkeit schon tausende Male und immer in uns vorhanden war und ist. Wir müssen verstehen lernen, daß wir bereits tausende Male zur Wirklichkeit gekommen sind, und daß wir viele tausende Male immer wieder dieselbe Möglichkeit finden werden. Die Unergründlichkeit, der Tod, hält uns nicht für ewig fest, so wie die Wirklichkeit, das Leben, uns nicht ewig festhält.

So denken logisch die meisten Asiaten heute schon, und so haben die alten Ägypter gedacht, und so sollten wir wieder denken, nur mit dem neuen Zusatz unserer in tausend Jahren weiter fortgeschrittenen Erkenntnis, daß jeder Mensch, der da stirbt, die Kraft des ganzen Weltalls so gut in sich trägt, in seiner ihm angeborenen Unergründlichkeit, wie er auch die Schwächen seiner kleinen Wirklichkeitsfigur zugleich mit sich trägt.

Und es ist kein Seufzen, mit dem ihr diese Betrachtung schließen müßt. Ihr müßt lernen, mit weisem Lächeln eurem Verschwinden nachzusehen. Ihr müßt es feiern lernen, daß eure kleine Wirklichkeit vergeht und immer wieder vergehen muß, und müßt wissen, daß ihr immer besteht als unvergänglich, so oft ihr auch das Wirklichkeitsspiel scheinbar verlaßt; das Festspiel des wirklichen Lebens behält euch immer.

Und wenn euch dann der Gedanke kommt: dieses Boot, in dem ich segle, dieses Meerwasser, auf dem ich fahre, diese Menschengestalt, in der ich heute die Segelfahrt genieße, sie werden in aber tausend Jahren verschollen sein, dann werdet ihr lächelnd sagen:

Aber die Fahrt war deswegen doch festlich und genußreich, und es gibt noch Tausende von Sternen und Tausende von Lebensarten, auf denen und in denen wir wieder aufleben werden.

Ein schöner Tag, eine schöne Morgenfahrt wie heute, ist deswegen nicht weniger schön, weil sie vergänglich ist. Denn jedes Menschen Unergründlichkeit steht hinter seiner Gegenwart, seine Unergründlichkeit, die viel tiefer ist als diese Meerestiefe unter dem Boot, und die viel tiefer ist als alle Höhe über dem Boot.

Sie, unsere Ewigkeit, unser festlicher Besitz und der festliche Besitz aller, weilt bei mir im Boot, in mir, in meiner Gestalt. Sie schaut aus dem Wasser neben mir herauf, sie dröhnt aus dem Holz des Bootes, sie leuchtet aus der Leinwand des Segels, sie blickt mich aus dem Auge meines Kameraden im Boote ebenso an, wie sie aus meinem Auge ihn und alle Dinge rundum unergründlich ansieht.

Wie wenig ist dagegen die endliche Wirklichkeit, die ihr beweisen möchtet, der ihr nachseufzen möchtet, da doch die herrliche erhabene Unergründlichkeit – die ihr besitzt, und die euch besitzt – weitaus großartiger als die Wirklichkeit jede eurer kleinsten Handlungen beleuchtet!

Darum seufzt nicht über die unwirkliche Vergänglichkeit. Nichts stört euer großes Fest, ihr seid von Ewigkeit zu Ewigkeit mitten in diesem Fest, immer und ewig. –

 


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