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8. Oktober. – Gleichzeitig mit meiner Stellung in der Bézuquetschen Apotheke habe ich auch die Achtung meiner Mitbürger wiedererlangt und bin zu dem ehemaligen friedlichen Leben auf der »Placette«, zwischen den zwei gelben und grünen Glaskolben im Schaufenster, zurückgekehrt, mit dem einzigen Unterschied, daß Bézuquet sich jetzt im Hintergrund des Ladens hält, als ob er der Lehrling wäre, und den Stößer in dem marmornen Mörser in Bewegung setzt und zornig seine Droguen zerstampft! Von Zeit zu Zeit unterbricht er sich darin und zieht einen kleinen Spiegel aus seiner Tasche, um seine Tättowierung zu betrachten! Unglücklicher Ferdinand! Weder Salben noch Kataplasmen, nichts ändert etwas daran, nicht einmal sein Knoblauchsüppchen, das Doktor Tournatoire geraten hat. Er wird sie seiner Lebtage behalten, diese teuflischen Malereien.
Indessen packe ich ein, klebe Zettel auf, verkaufe Aloe und Brechwurz, plaudere ein wenig mit den Kunden und unterhalte mich über alles, was man sich in der Stadt erzählt. An Markttagen kommen viele Leute zu uns; Dienstags und Freitags wird die Apotheke gar nicht mehr leer. Seit die Weinberge besser stehen, fangen unsre Bauern wieder an, Arzneien einzunehmen und Abführmittel zu schlucken; dafür haben sie eine Leidenschaft im Weichbild von Tarascon; es ist ein Festtag für sie, wenn sie sich purgieren können.
Den übrigen Teil der Woche ist es ruhig, die Ladenglocke ertönt nur selten. Ich schlage die Zeit damit tot, daß ich die Aufschriften auf den großen, in Regale geordneten Glas- und Porzellankolben lese: Sirupus gummi, ass foetida und das über der Kasse zwischen zwei Schlangen angebrachte, in griechischen Lettern geschriebene ΦΑΡΜΑΚΟΠΕΙΑ betrachte.
Nach so viel Aufregungen und Abenteuern behagt mir die große Ruhe meines jetzigen Lebens nicht schlecht. Ich bereite einen Band provençalischer Gedichte vor: »Li Ginjourlo« (die Brustbeeren). Im Norden kennt man die Brustbeeren nur als pharmaceutisches Produkt, aber bei uns sind die Früchte des Judendornes entzückende, kleine, knusperige, rote Oliven auf einem Baum mit hellem Laub. Ich werde in diesem Band meine Landschaftsbilder und meine Liebeslieder zusammenstellen. . . .
O weh! Ich sehe sie manchmal vorübergehen, meine Clorinde, lang und geschmeidig über die spitzen Kiesel der »Placette« dahintänzelnd – in Port Tarascon drüben nannten sie das ihren »Känguruhgang«; sie besucht die zweite Messe, ihr Gebetbuch in der Hand, gefolgt von der Alric, die immer auf die Dächer stieg und seit der Rückkehr nach Tarascon von dem Dienst bei Fräulein Tournatoire in den der Damen von Espazettes übergetreten ist.
Nicht ein einziges Mal richtet Clorinde ihren Blick auf die Apotheke. Zu Bézuquet zurückgekehrt, bin ich für sie nicht mehr vorhanden.
Die Stadt ist wieder völlig bezogen und sieht so ruhig aus wie früher. Man spaziert auf dem Korso, auf dem Glacis, und des Abends geht man ins Kasino und ins Theater. Alle sind zurückgekommen, Bruder Bataillet ausgenommen, der auf den Philippinen geblieben ist, um dort eine neue Genossenschaft von Weißen Brüdern zu gründen. Auch das Kloster Pampérigouste ist teilweise wieder eröffnet worden, der hochwürdige Bruder Vézole (Gott sei gelobt) hat es mit einigen andern Hochwürdigen bezogen; die Glocken haben wieder angefangen zu läuten, ganz leise, eine nach der andern; wir sind noch nicht bis zum vollen Glockenspiel durchgedrungen, aber man merkt, daß es in der Luft liegt.
Wer würde glauben, daß sich so viel ereignet hat! Wie weit das alles schon hinter einem liegt, und wie leicht das tarasconische Volk vergißt! Man darf nur unsre Jäger ansehen, wie sie, den Marquis von Espazettes an der Spitze, Sonntag morgens, nagelneu ausstaffiert, mit dem alten Eifer ausrücken und auf Weidmanns Heil hoffen, wo gar kein Wild vorhanden ist.
Ich mache Sonntags nach dem Frühstück Tartarin meine Aufwartung. Da oben am Korso steht es wohl noch, das Haus mit den grünen Jalousieen und den Wichseschachteln der kleinen Stiefelputzer vor dem Thor; aber alles ist geschlossen, alles ist still. Ich öffne die Thür. . . . Ich finde den Helden in seinem Garten, wo er, die Hände auf dem Rücken, um den Goldfischteich spazieren geht, oder in seinem Arbeitszimmer inmitten der malayischen Dolche und vergifteten Pfeile. Er sieht sie gar nicht mehr an, seine geliebten Sammlungen. Der Rahmen ist noch der nämliche, aber was sich das Bild des Mannes verändert hat! Sie haben ihn gut freisprechen gehabt, der große Mann fühlt sich gefallen und heruntergekommen; er ist von seinem Sockel gestürzt, und das macht ihn traurig.
Wir plaudern. Manchmal kommt Doktor Tournatoire und bringt seine gute Laune und seine Spässe á la Purgon mit in diese trübselige Behausung. Franquebalme kommt am Sonntag auch. Tartarin hat ihm die Verteidigung seiner Interessen anvertraut: ein Prozeß in Toulon mit dem Kapitän Scrapouchinat, der seine Rückfahrtskosten ersetzt haben will; ein zweiter Prozeß mit der Witwe Bravida, die für ihre minderjährigen Kinder eine Civilklage gegen ihn angestrengt hat. Wenn mein armer, lieber Herr diese beiden Prozesse verlöre, könnte er sich dann wohl noch aus der Verlegenheit ziehen? Er hat für dies beklagenswerte Abenteuer von Port Tarascon schon so viel geopfert!
Warum bin ich nicht reich! . . . Unglücklicherweise setzt mich das, was ich bei Bézuquet verdiene, nicht in den Stand, ihm zu Hilfe zu kommen.
10. Oktober. – Die »Brustbeeren« werden in Avignon bei dem Buchhändler Roumanille erscheinen; ich bin sehr glücklich. Noch ein weiterer Glücksfall: man veranstaltet einen großen Aufzug zu Ehren der heiligen Martha, deren Feiertag auf den 19. d. M. fällt, und auch zur Feier der Rückkehr der Tarasconer auf Frankreichs Erde. Dourladoure und ich, alle beide provençalische Dichter, sollen die provençalische Poesie auf einem allegorischen Wagen darstellen.
20. Oktober. – Am gestrigen Sonntag hat der Aufzug stattgefunden. Langer Wagenzug, Reiter in historischen Kostümen, die an langen Stäben Klingelbeutel trugen, um einzusammeln. Ein großer Andrang der Menge, Menschen an allen Fenstern: aber trotz allem keine warme Fröhlichkeit, kein Zug in der Sache. Der Scharfsinn der Veranstalter hat nicht vermocht, die Abwesenheit unsrer Großmutter vergessen zu machen: man fühlte eine Lücke, eine Leere, der Wagen der »Tarasque« fehlte. Heimlicher Groll erwachte bei der Erinnerung an den unseligen Schuß, der drüben im stillen Ocean auf sie abgefeuert wurde; Murren ließ sich im Zuge hören, als man an Tartarins Haus vorüberzog. Als die Bande Costecaldes die Menge durch einige Zurufe aufzureizen suchte, drehte sich der Marquis von Espazettes, im Kostüm eines Tempelritters, auf seinem Pferde um: »Friede, meine Herren! . . .« Er sah wahrhaft vornehm aus, und sofort war die Störung vorbei.
Die Tramontana, ein Schneewind, blies. Dourladoure und ich fühlten ihn empfindlich unter unsern Wämsern à la Charles VI., die uns eine durchreisende Operngesellschaft geliehen hatte. Auf unsern Türmen oben – jeder von uns saß auf einem Turm, denn unser Wagen, von sechs weißen Ochsen gezogen, stellte in Holz und bemalter Pappe das Schloß König Renés dar – also auf unsern Türmen ging uns dieser schneidende Wind durch Mark und Bein, und die Verse, die wir, unsre großen Leyern im Arm, recitierten, klapperten ebenso vor Kälte, wie wir selbst. Dourladoure sagte zu mir: »Zum Henker, man erfriert ja! . . .« Und dabei keine Möglichkeit, herunter zu gelangen, denn die Leitern, vermittelst welcher wir uns da droben eingenistet hatten, waren weggezogen worden.
Auf der »Promenade« wurde die Qual ganz unerträglich. . . . Und um uns vollends den Treff zu geben, hatte ich den Einfall – o Eitelkeit der Liebe! – den Weg durch die Querstraßen zu nehmen, um an dem Haus des Marquis von Espazettes vorüber zu kommen.
Nun steckten wir in diesem äußerst engen Gäßchen, in dem die Wagenräder nur ganz knapp Platz hatten. Das Hotel des Marquis war geschlossen, düster und stumm lag es da mit seinen alten, schwarzen Steinmauern; alle Jalousieen waren herabgelassen, um recht deutlich zu zeigen, daß der Adel mit den Vergnügungen des Pöbels nichts gemein haben wolle.
Ich sprach mit meiner zitternden Stimme einige den »Brustbeeren« entnommene Verse und streckte meinen Klingelbeutel aus, aber nichts rührte sich, niemand ward sichtbar. Dann gab ich dem Rosselenker Befehl, weiter zu fahren. Unmöglich, der Wagen steckte, er war an beiden Seiten festgefahren. Man versuchte, ihn vor- und rückwärts zu fahren, er steckte zwischen den hohen Mauern fest, und durch die geschlossenen Jalousieen hindurch vernahmen wir ganz in unsrer Nähe unterdrücktes Lachen, während wir vor Kälte erstarrt in der lächerlichsten Lage auf unsern Pappetürmen kauerten.
Das Schloß König Renés hat mir entschieden kein Glück gebracht! Man mußte die Ochsen ausspannen und Leitern holen, damit wir herabsteigen konnten, und all dies hat furchtbar lange gedauert! . . .
23. Oktober. – Worin besteht sie denn, diese Krankheit des Ruhmes! Man kann nicht mehr leben ohne ihn, wenn man ihn einmal verschmeckt hat.
Sonntag war ich bei Tartarin: wir plauderten im Garten und spazierten die sandbestreuten Wege auf und ab.
Ueber die Gartenmauer warfen uns die Bäume des Korso welke Blätter herüber, und da ich in Tartarins Augen Trauer las, erinnerte ich ihn an die ruhmvollen Stunden seines Lebens, nichts vermochte ihn zu zerstreuen, nicht einmal die Aehnlichkeiten zwischen seinem und Napoleons Geschick.
»Ach, geht mir mit Napoleon! . . . Es ist ja der reine Schwindel! . . . Die Sonne der Tropen ist mir zu Kopf gestiegen. Thun Sie mir den einzigen Gefallen und sprechen Sie mir nicht mehr davon.«
Verdutzt sah ich ihn an.
»Nichtsdestoweniger ist die Frau des Kommodore . . .«
»Laß mich doch in Frieden; sie hat sich die ganze Zeit über mich lustig gemacht, die Frau des Kommodore.«
Schweigend hatten wir einige Schritte zurückgelegt.
Die Windstöße, die das falbe Laub wirbelnd entführten, trugen das Geschrei der kleinen Stiefelputzer, die vor der Thür mit Korken um Geld spielten, zu uns herüber.
Da hat er zu mir gesagt: »Ich sehe jetzt ganz klar. Die Tarasconer haben mir die Augen geöffnet; es ist, als ob man mir den Star gestochen hatte.« Er kam mir seltsam vor. An der Thür drückte er mir plötzlich die Hand und sagte: »Du weißt, Kleiner, man wird meine Habe versteigern. Ich habe meinen Prozeß gegen Scrapouchinat und auch gegen die Witwe Bravida verloren, trotz der Beweisführungen Franquebalmes. . . . Er baut allzu wuchtig, dieser Bursche; sein römischer Viadukt ist eingestürzt und hat uns unter seiner Wucht erdrückt.«
Schüchtern wagte ich ihm meine kleinen Ersparnisse anzubieten. Ich hätte sie ihm herzlich gern gegeben, aber Tartarin hat es abgelehnt.
»Danke, mein Kind, ich denke, daß man aus den Waffen, den Raritäten, den seltenen Pflanzen genug lösen wird. Wenn das nicht reicht, verkaufe ich das Haus. Nachher werde ich schon weiter sehen. Adieu, Kleiner! . . . All das ist ja nichts!«
Welche Philosophie!
31. Oktober. – Heute habe ich einen großen Kummer gehabt. Ich bediente in der Apotheke Frau Truphénus, deren Kind über Stiche im Kopfe klagte, als das Knirschen von Rädern auf der »Placette« mich veranlaßte, aufzusehen. Ich hatte die große Karosse der Gräfin-Witwe von Aigueboulide erkannt. Drin saß die Alte, ihren ausgestopften Papagei neben sich; ihr gegenüber meine Clorinde mit einer andern Person, die ich nicht recht sah, weil mich das Licht blendete: nur eine blaue Uniform und ein gesticktes Käppi hatte ich erblickt.
»Wer ist denn bei den Damen?«
»Wer anders als der Enkel der alten Gräfin, der Vicomte Charlexis von Aigueboulide, der Jägeroffizier. Wissen Sie denn nicht, daß er nächsten Monat mit Fräulein Clorinde Hochzeit haben soll?«
Das war ein Schlag für mich! Ich muß ausgesehen haben wie eine Leiche.
Und ich, der ich immer noch gehofft habe!
»O, es ist die reinste Neigungspartie,« fuhr dieser Quälgeist, diese Frau Truphénus fort, »aber Sie wissen doch, was man darüber zu sagen pflegt: »Heirat aus Liebe: gute Nächte, böse Tage!«
Ach Gott, wie gern hätte ich mich so verheiratet!
5. November. – Gestern fand die Versteigerung bei Tartarin statt. Ich bin nicht dort gewesen, aber Franquebalme, der abends in die Apotheke kam, hat mir den Hergang erzählt.
Es scheint herzzerreißend gewesen zu sein. Der Verkauf hat nichts eingebracht. Wie es bei uns Sitte ist, versteigerte man vor der Thür. Nichts, nicht ein Sou wurde geboten, und doch waren sehr viel Leute gekommen.
Diese Waffen aus aller Herren Länder, die vergifteten Pfeile, Sagajen, Yatagans, Revolver, Winchester zu zweiunddreißig Schüssen, nichts, weniger als nichts.
Nichts die prächtigen Häute der Löwen des Atlas, nichts der Alpenstock, sein ruhmreicher Stock von der Jungfrau her, – all diese Schätze, diese Raritäten, eigentlich das Museum unsrer Stadt, um Spottpreise verschleudert. . . . Der Glaube verloren!
Und der Affenbrotbaum, der Baobab, in seinem kleinen Topf, der dreißig Jahre lang der Gegenstand der Bewunderung der ganzen Umgegend war! Als er auf den Tisch gestellt wurde, als der Ausrufer verkündete: »arbor gigantea, unter dessen Schatten ganze Dörfer Platz finden . . .« brach, wie es scheint, ein rasendes Gelächter los.
Auch Tartarin, der mit zwei Freunden in seinem kleinen Garten hin und her ging, vernahm drinnen dies Gelächter. Ohne Bitterkeit hat er gesagt: »Auch meinen guten Tarasconern ist der Star gestochen. Sie sehen jetzt, aber sie sind grausam.«
Das Traurigste ist, daß er, weil durch die Versteigerung nicht genug gelöst worden ist, das Haus an die von Espazettes abtreten mußte, die es für das junge Ehepaar bestimmt haben.
Und er, der arme große Mann, wo wird er sich hinwenden? Wird er über die Brücke gehen, wie er schon angedeutet hat? Wird er bei seinem alten Freund Bompard in Beaucaire Zuflucht suchen?
Wahrend mir Franquebalme, mitten in der Apotheke stehend, diese düsteren Ereignisse berichtete, wurde im Hintergrund Bézuquet mit seinen unvertilgbaren Zeichnungen unter der angelehnten Thür zur Hälfte sichtbar und hat mit papuanisch-dämonischem Lachen die Worte ausgesprochen: »Das geschieht ihm recht! . . . Das geschieht ihm recht!« Wie wenn Tartarin selbst ihn tättowiert hätte.
7. November. – Am morgigen Sonntag soll mein guter Herr die Stadt verlassen und über die Brücke gehen. . . . Ist es möglich? Tartarin von Tarascon wird Tartarin von Beaucaire. . . . Wie anders das schon ins Ohr fällt! . . . Und dann diese Brücke, diese furchtbare Brücke, über die er hinüber muß! Ich weiß wohl, daß Tartarin schon ganz andre Hindernisse überwunden hat; es ist aber einerlei, es sind dies Sachen, die man wohl im Zorn sagt, aber doch nicht thut. Ich zweifle noch!
Sonntag, 10. Dezember. – Sieben Uhr abends. Ich kehre mit blutendem Herzen zurück; kaum habe ich die Kraft, diese wenigen Zeilen hinzuwerfen.
Es ist geschehen, er ist fort, er hat die Brücke überschritten.
Zu drei oder vier waren wir, Tournatoire, Franquebalme, Beaumevieille und ich, bei ihm zusammengetroffen: unterwegs gesellte sich noch Malbos, ein ehemaliger Bürgerwehrsoldat, zu uns.
Das Herz schnürte sich mir zusammen angesichts dieser trostlosen, nackten Wände, dieses entblätterten Gartens. Tartarin selbst hat sich nicht einmal umgesehen.
Es ist doch was Gutes um unsere Beweglichkeit; durch sie sind wir Tarasconer weniger leicht niedergeschlagen, als andre Völker. Er hat Franquebalme die Schlüssel übergeben: »Sie werden sie dem Marquis von Espazettes zustellen. Ich nehme es ihm nicht übel, daß er nicht gekommen ist, es ist ganz natürlich – wie Bravida zu sagen pflegt:
›Großer Herr und Kneipkumpan
Preßt dich aus und läßt dich stahn.‹«
Und zu mir gewendet: »Du kannst auch ein Lied davon singen, Kleiner!«
Diese Anspielung auf Clorinde hat mich tief gerührt. Unter solchen Umständen noch an mich zu denken!
Auf dem Korso draußen blies ein furchtbarer Wind. Wir dachten alle bei uns selbst: »Da heißt es aufgepaßt, wenn er über die Brücke geht!«
Er selbst schien nicht im mindesten ängstlich zu sein. Wegen des Mistral sah man niemand auf den Straßen; nur der Musik, die vom Glacis zurückkam, sind wir begegnet: die Soldaten konnten kaum ihre Instrumente festhalten und faßten mit einer Hand die Schöße ihrer langen im Winde flatternden Röcke zusammen.
Tartarin sprach langsam, während er wie auf einem Spaziergang in unsrer Mitte einherging. Er unterhielt uns von sich, wie gewöhnlich einzig und allein von sich.
»Seht, ich habe an unsrem Nationalübel gelitten, ich habe allzu viele Leuchtkugeln verpufft!«
In Tarascon nennen wir »Leuchtkugeln« alles, was den Augen verlockend erscheint, nach was uns gelüstet und was wir mit unsren Händen doch nicht erreichen können. Das ist die Nahrung der Träumer, der Menschen mit großer Einbildungskraft. Und Tartarin hat wahr gesprochen, niemand hat darin so viel geleistet wie er.
Da ich den Handkoffer, die Hutschachtel und den Ueberzieher meines Helden trug, ging ich ein bißchen hintendrein und hörte nicht alles. Manche Worte gingen mir in dem Wind verloren, der an Heftigkeit wuchs, je näher wir der Rhone kamen. So viel habe ich aber verstanden, daß er sagte, er trage niemand etwas nach, und daß er mit milder Philosophie von seinem Leben sprach.
»Dieser Schuft, der Daudet, hat über mich geschrieben, ich sei ein Don Quichotte in der Haut Sancho Pansas . . . Er hat recht gehabt. Der Typus dieses aufgeblasenen, verweichlichten, träg im Fett sitzenden und stets hinter seinen Idealen zurückbleibenden Don Quichotte ist in Tarascon und Umgegend ziemlich häufig vertreten.«
Nach einer Weile sahen wir an der Ecke einer Querstraße die Rückseite unsers Excourbaniès, der sich aus dem Staub machte, und hörten ihn, als er an dem Laden des Waffenschmieds Costecalde vorüberkam, der heute früh zum Gemeinderat ernannt worden ist, aus Leibeskräften brüllen: »Hoch, hoch! . . . Hurra! . . . Es lebe Costecalde!«
»Selbst diesem trage ich nichts nach,« hat Tartarin gesagt. »Immerhin verkörpert aber dieser Excourbaniès die greulichste Seite des tarasconischen Südens. Von seinem Geschrei will ich nichts sagen, obgleich er wahrhaftig mehr brüllt, als in der Ordnung ist; ich spreche nur von diesem erschrecklichen Verlangen zu gefallen, liebenswürdig zu sein, kraft dessen er sich zu den verächtlichsten Feigheiten treiben läßt. Ist er mit Costecalde, so ruft er: »In die Rhone mit Tartarin!« Wäre er bei mir, so würde er, nur um zu schmeicheln, dasselbe von Costecalde rufen. Davon abgesehen, meine Kinder, sind die Tarasconer aber doch eine hübsche Rasse, und ohne sie wäre Frankreich längst an Pedanterie und Langeweile zu Grunde gegangen.«
Wir kamen an der Rhone an; vor uns ein trüber Sonnenuntergang, hoch oben einige Wolken. Der Wind schien sich zu legen, trotzdem war die Brücke nicht beruhigend. Man blieb an ihrem Anfang stehen, und er bat uns, nicht weiter mitzugehen.
»Vorwärts! Lebt wohl, meine Kinder! . . .«
Man umarmte und küßte sich; er begann mit Beaumevieille, dem ältesten, und endigte mit mir. Ich weinte in Strömen, ohne mich abtrocknen zu können, denn ich hatte noch immer den Handkoffer und den Ueberzieher, und ich kann wohl sagen, daß der große Mann meine Thränen getrunken hat.
Selbst tief ergriffen, nahm er seine Sachen: Hutschachtel in eine Hand, Ueberzieher über den Arm, den Handkoffer in die andre Hand; dann sagte Tournatoire zu ihm: »In erster Linie pflegen Sie sich gut, Tartarin . . . ungesundes Klima in Beaucaire. . . . Knoblauchsüppchen . . . vergessen Sie's ja nicht!« Er erwiderte, mit dem Auge zwinkernd: »Seien Sie ohne Sorge . . . Sie kennen das Verschen von der Alten: ›Je älter die Alte wurde, – Je mehr lernte sie – Und deshalb wollte sie nicht sterben‹ – Ich werde es machen wie sie.«
Wir sahen ihm nach, wie er sich unter den Bogen entfernte; ein wenig schwerfällig, aber mit sicherem Schritt. Die Brücke schwankte entsetzlich. Zwei- oder dreimal blieb er stehen wegen seines Hutes, der fortfliegen wollte. Ohne vorwärts zu gehen, riefen wir ihm aus der Ferne zu: »Adieu, Tartarin!«
Er war zu ergriffen, sich umzudrehen, und sagte nichts, nur mit der Hutschachtel winkte er uns rückwärts lebewohl zu: »Adieu! . . . Adieu!«
Drei Monate später. – Sonntag abends. – Noch einmal schlage ich sie auf, die lang unterbrochenen Erinnerungen, dies alte grüne Tagebuch, das ich meinen Kindern hinterlasse – falls ich jemals welche haben werde –; dies Buch mit den abgestoßenen Ecken, das ich fünftausend Meilen von Frankreich entfernt begonnen habe, und das mich überallhin über die Meere und in das Gefängnis begleitet hat! Es bleibt mir noch ein wenig Raum, und den benütze ich dazu, das Gerücht zu verzeichnen, das sich heute morgen in der Stadt verbreitet hat: »Tartarin ist nicht mehr!«
Seit drei Monaten hatte man keine Nachricht mehr von ihm. Ich wußte, daß er in Beaucaire wohnte, mit Bompard zusammen. Er half ihm den Platz hüten, auf dem die große Messe abgehalten wird, und das Schloß bewachen. Uebrigens der reinste Humbug, diese Aemter! Sehr oft, wenn ich Heimweh hatte nach meinem guten Herrn, nahm ich mir vor, ihn zu besuchen, aber diese verteufelte Brücke hielt mich immer wieder davon zurück.
Einmal, als ich nach dem Schloß von Beaucaire hinüber sah, glaubte ich ganz hoch oben einen zu sehen, der ein Fernglas auf Tarascon richtete. Es sah aus, als ob es Bompard wäre. Er verschwand, ging in den Turm und kehrte mit einem andren, sehr dicken Mann zurück, der mir Tartarin zu sein schien. Nun nahm auch dieser das Fernrohr und ließ es wieder los, um mit seinen Armen ein Erkennungszeichen zu winken, aber es war so weit entfernt, so klein, so undeutlich, daß es nicht die Empfindung in mir erregte, die ich zu fühlen erwartet hatte.
Heute morgen begab ich mich voll Angst, ohne zu wissen warum, wie allsonntäglich zum Rasieren in die Stadt und war sehr betroffen, als ich den verschleierten roten Himmel sah; es war eine eigentümliche fahle Beleuchtung, in der Bäume, Bänke, Fußsteige und Häuser ganz besonders hervortreten. Ich habe diese Bemerkung gemacht, als ich in die Barbierstube des Marc-Aurèle trat.
»Welch komische Sonne! Sie erwärmt nicht, sie erhellt nicht. . . . Ist es vielleicht eine Sonnenfinsternis«
»Wie, Herr Pascalon, das wissen Sie nicht? . . . Sie ist schon seit dem Ersten prophezeit.«
Und in dem Augenblick, wo er mich an der Nase hielt und das Rasiermesser ansetzte: »Und die Neuigkeit? Haben Sie sie schon gehört? . . . Es scheint, unser großer Mann ist nicht mehr von dieser Welt. . . .«
»Welcher große Mann?«
Als er nun Tartarin nannte, wäre ich um ein Haar in sein Rasiermesser gefahren.
»Das kommt davon, wenn man auswandert! . . . Er hat ohne Tarascon nicht leben können. . . .«
Marc-Aurèle, der Barbier, ahnte nicht, wie recht er hatte. Das war sicher, ohne Tarascon und ohne den Ruhm konnte er nicht leben.
Armer, guter Herr! Armer, großer Tartarin! . . .
Uebrigens dies Zusammentreffen! . . . Eine Sonnenfinsternis an seinem Todestag!
Und welch sonderbares Volk wir sind! Ich wette, daß die Todesnachricht die ganze Stadt betrübt hat, aber sie haben gethan, als ob sie die Sache ganz auf die leichte Achsel nähmen.
Und all dies nur, weil die Tarasconer seit der Geschichte von Port Tarascon, bei der sie sich so übereilt und hitzig gezeigt haben, thun wollen, als wären sie ganz Herr ihrer selbst, ganz gesetzt und hätten ihren Fehler für immer abgelegt.
In Wahrheit haben wir uns nicht im mindesten gebessert: nur lügen wir jetzt, statt »hinauf zu«, »hinunter zu«.
Wir sagen nicht mehr: »Gestern waren zum wenigsten fünfzigtausend Menschen in der Arena.« Sondern: »Wenn gestern ein halbes Dutzend Menschen in der Arena waren, so ist es das Aeußerste!«
Uebertrieben muß sein, so oder so!
Ende.