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»Er ist es, es ist Gonzaga! . . . Seht, seht!«
»Wie dick er geworden ist!«
»Wie bleich er aussieht!«
»Er sieht aus wie ein Türke!«
So lange hatten ihn unsre Tarasconer nicht mehr gesehen, daß sie ihn fast nicht mehr erkannten, den wackeren Bompard, der einst so mager war, mit seinem schnauzbärtigen Palikarenkopf, und mit Augen, wie die einer toll gewordenen Ziege; jetzt war er dick und fett, »mast«, wie sie sagten, aber er hatte noch denselben Bart, dieselben verrückten Augen, dasselbe in die Breite gegangene, aufgedunsene Gesicht.
Ohne nach rechts oder nach links zu sehen, folgte er dem Gerichtsdiener bis vor die Schranken.
Frage: »Sie sind wirklich Gonzaga Bompard?«
»Um die Wahrheit zu sagen, Herr Präsident, so zweifle ich beinahe daran, wenn ich sehe« – emphatische Bewegung Bompards nach der Anklagebank hin – »wenn ich, sage ich, auf dieser Armensünderbank unsern leuchtendsten Ruhm erblicke, wenn ich höre, wie hier in dieser Halle ein Mann verunglimpft wird, der die Ehre und Rechtschaffenheit selbst ist. . . .«
»Danke, Gonzaga,« sagte Tartarin von seinem Platz aus, mit vor Bewegung erstickter Stimme.
Ohne zu zucken hatte er alle Beschimpfungen über sich ergehen lassen, aber jetzt, bei dem Mitgefühl seines alten Kameraden, brach ihm fast das Herz, und die Thränen stiegen ihm in die Augen wie einem Kind, das man bemitleidet. Bompard fuhr fort: »Sei ganz ruhig, tapferer Mitbürger, du wirst auf der schmutzigen Bank dort nicht verschimmeln, und ich bringe hier den Beweis . . . den Beweis . . .«
Er stöberte in seinen Taschen und zog eine Marseiller Pfeife, ein Messer, einen alten Kieselstein, einen Feuerstahl, einen Knäuel Bindfaden, ein Metermaß, einen Barometer und eine homöopathische Pillenschachtel hervor und legte all diese Gegenstände einen um den andern auf den Tisch des Gerichtsschreibers nieder.
»Nun, Zeuge Bompard, sind Sie bald fertig?« fragte der Präsident ungeduldig.
Und der Hilfsstaatsanwalt Bompard du Mazet: »Komm, Onkel, beeile dich ein wenig!«
Der Onkel drehte sich nach ihm um. »So ist's recht! Mach du dich nur auch noch mausig, nach dem, was du dir unserm armen Freund zu sagen erlaubt hast! . . . Du wirst erleben, daß ich dich enterbe, Nichtswürdiger!«
Der Neffe blieb kalt bei dieser Drohung und der Onkel, immer noch mit der Durchforschung seiner Taschen beschäftigt, breitete eine Sammlung der wunderlichsten Dinge vor sich aus, bis er endlich fand, was er suchte: einen großen Brief mit fünf roten Siegeln.
»Herr Präsident, hier ist ein Dokument, aus dem erhellt, daß der Herzog von Mons der ärgste Halunke, ein Zuchthäusler, ein . . .« Die ärgsten Schimpfworte wollten erst noch kommen.
Doch der Präsident unterbrach ihn: »Es ist gut, geben Sie das Schriftstück her!«
Er öffnete den geheimnisvollen Brief und teilte ihn, nachdem er ihn gelesen hatte, den beiden andern Richtern mit, die ihre Nasen hineinsteckten und ihn aufmerksam prüften, ohne den Eindruck zu verraten, den er auf sie machte. Weiß Gott, das waren die echten Richter aus dem Norden! So verschlossen, so zugeknöpft!
Was wohl in diesem vertrackten Brief stand? Nach diesen Gesichtern da konnte man sich schwer einen Begriff davon machen.
Die Anwesenden reckten und neigten sich und hielten schützend die Hand vor die Augen, um aus der Ferne besser sehen zu können; selbst ganz hinten in den Galerieen fragte man einander: »Was ist denn los? Was zum Henker kann das denn sein?«
Und da, dank den offengebliebenen Fenstern und Thüren, alle Zwischenfälle, die sich in der Verhandlung ereigneten, draußen bekannt wurden, so drang ein großer Lärm, ein verworrenes Getöse wie das Rauschen der Meereswogen bei einer steifen Brise bis in den Gerichtssaal herauf.
Plötzlich schliefen die Gendarmen nicht mehr, auch die Fliegen, die in ganzen Trauben an der Decke hingen, erwachten, und da die Abendkühle in den Saal drang, verlangten die den Fenstern zunächst Sitzenden mit der den Tarasconern eignen Angst vor Luftzug, mit großem Geschrei, man solle zumachen, »denn da könne man sich den Tod holen«.
Zum hundertstenmal kreischte Präsident Mouillard: »Ein wenig Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen! . . .« und das unterbrochene Verhör nahm seinen Fortgang.
Frage: »Zeuge Bompard, wie und in welchem Augenblick ist dieser Brief in Ihre Hand gelangt?«
Antwort: »Bei der Abfahrt der »Farandole« in Marseille stellte mir der Herzog oder vielmehr der sogenannte Herzog von Mons meine Vollmachten als provisorischer Gouverneur von Port Tarascon zu, und dabei übergab er mir auch diesen Brief, der mit fünf roten Siegeln verschlossen war, obgleich er kein Geld enthielt. Ich würde darin seine letzten Instruktionen finden, sagte er, und empfahl mir dringend, ihn erst angesichts irgend einer der Admiralitätsinseln, unter, ich weiß nicht welchem Längen- und Breitengrad zu öffnen. Uebrigens steht dies auch auf dem Umschlag vermerkt, Sie können es sehen . . .«
Frage: »Ja, ja, ich sehe es . . . und dann?«
Antwort: »Dann, Herr Präsident, dann geschah es, daß ich von dieser plötzlichen Krankheit befallen wurde, die, wie man Ihnen gesagt haben wird, sogar ansteckend, krebsartig und was weiß ich noch alles war, so daß man gezwungen war, mich, meinem Ende nah, bei Schloß If zu landen. Als ich erst wieder festes Land unter den Füßen hatte, wand und krümmte ich mich vor Schmerzen, den Brief noch immer in der Tasche, denn ich hatte über meinem Leiden vergessen, ihn Bézuquet mit meinen Vollmachten zu übergeben.«
Frage: »Ein bedauerliches Vergessen. . . . Und hernach?«
Antwort: »Hernach, Herr Präsident, als es mir ein wenig besser ging, so daß ich aufstehen und mich wieder anziehen konnte, aber noch immer recht schwach, – ach, wenn Sie wüßten, wie ich damals ausgesehen habe! . . . da langte ich einmal ganz zufällig in die Tasche. . . . Herrje! Der Brief mit den roten Siegeln! . . .«
Der Präsident in strengem Ton: »Zeuge Bompard, wäre es nicht der Wahrheit entsprechender, zu sagen, daß Sie vorgezogen haben, diesen Brief, der bestimmt war, erst viertausend Meilen von Frankreich entfernt geöffnet zu werden, sofort, noch im Hafen von Marseille zu erbrechen, um zu erfahren was er enthielt, und daß Sie, als Sie dessen Inhalt lasen, vor der Verantwortung zurückschreckten, die er Ihnen auferlegte.«
»Sie kennen Bompard nicht, Herr Präsident! Ich berufe mich auf das ganze, hier gegenwärtige Tarascon.«
Auf diesen rednerischen Effekt folgte Grabesstille. Von seinen Landsleuten, die es doch, weiß Gott, nicht allzu genau mit der Wahrheit nehmen, mit dem Spitznamen »der Lügner« bezeichnet, war es von Bompard ein starkes Stück, sie in dieser Weise als Zeugen aufzurufen. Das also befragte Tarascon antwortete auch nicht. Er, ohne seine Kaltblütigkeit zu verlieren: »Sie sehen, meine Herren Richter, . . . keine Antwort ist auch eine Antwort. . . .« Und in seiner Erzählung fortfahrend: »Als ich nunmehr den Brief wieder gefunden hatte, war Bézuquet, der seit Wochen fortgesegelt war, viel zu ferne, als daß ich ihm denselben noch hätte zukommen lassen können; ich entschloß mich also, seinen Inhalt zur Kenntnis zu nehmen, und Sie können sich meine entsetzliche Lage vorstellen. . . .«
Sehr entsetzlich war aber auch die Lage der Zuhörer, die noch immer nicht wußten, was dieser auf dem Tisch des Gerichtes niedergelegte Brief enthielt, von dem doch die ganze Zeit gesprochen wurde.
Und jeder reckte den Hals; aber aus solcher Entfernung konnte man nichts sehen, als die großen, roten, hypnotisierenden Siegel auf dem Umschlag, die von Minute zu Minute ins Ungeheure zu wachsen schienen.
Bompard fuhr fort: »Was sollte ich thun, frage ich Sie, nachdem ich das Fürchterliche erfahren hatte? Der »Farandole« nachschwimmen? Ich habe einen Augenblick daran gedacht, aber ich mußte mit meinen Kräften rechnen. Die Abreise des Tutu-panpan verhindern, indem ich meinen Landsleuten diesen abscheulichen Brief mitteilte, ihre Begeisterung mit einem solchen Kaltwasserstrahl dämpfte? Aber ich wäre gesteinigt worden! Und dann, wissen Sie, habe ich mich auch gefürchtet. . . . Ich habe nicht einmal gewagt, mich in meiner Verlegenheit, ohne zu wissen, was ich sagen sollte, in Tarascon zu zeigen. Und alsdann habe ich mich gegenüber, in Beaucaire versteckt, von wo aus ich alles beobachten konnte, ohne gesehen zu werden. Ich vereinigte dort zwei Stellungen: die des Marktaufsehers und des Schloßwächters. Wie Sie sich denken können, hatte ich Muße genug. Von dem alten Turm aus beobachtete ich mit einem guten Fernglas die Rührigkeit meiner Landsleute, die sich zur Abreise rüsteten. . . . Ich quälte mich, ich war in Verzweiflung. . . . Ich breitete die Arme nach ihnen aus, ich rief ihnen aus der Ferne zu, als ob sie mich hätten hören können: ›Haltet ein! . . . Reist nicht ab! . . .‹ Ich habe sogar versucht, sie per Flasche zu warnen. . . . Sagen Sie es, Tartarin, sagen Sie es diesem Herrn, daß ich versucht habe, Sie zu warnen!«
»Ich bestätige es,« sagte Tartarin auf der Anklagebank.
»Ach, was habe ich gelitten, Herr Präsident, als ich den Tutu-panpan habe absegeln sehen nach diesem Trugbild von einem Land! . . . Noch mehr aber habe ich gelitten, als sie zurückkehrten, als ich mir gegenüber meinen berühmten Landsmann Tartarin in Ketten schmachten, wie ein Stück Vieh auf das Stroh geworfen sah. Ihn fälschlich angeklagt in diesem Turm zu wissen! . . . Dagegen werden Sie einwenden, ich hätte den Beweis seiner Unschuld schon früher beibringen sollen, allein wenn man einmal einen falschen Weg eingeschlagen hat, so ist es verteufelt schwer, wieder auf den rechten zu gelangen. Ich hatte anfangs nichts gesagt, und nun wurde es immer schwerer, zu sprechen – von der Angst vor der Brücke, dieser fürchterlichen, zu überschreitenden Brücke gar nicht zu reden. Nichtsdestoweniger habe ich sie überschritten, die Teufelsbrücke: heute morgen bin ich herübergekommen bei einem Sturmwind, der mich zwang, auf allen Vieren zu kriechen, wie einst bei der Besteigung des Montblanc. Erinnern Sie sich noch, Tartarin?«
»Ob ich mich erinnere!« erwiderte Tartarin, der Zeiten des Ruhmes voll Trauer gedenkend.
»Wie sie schwankte, diese Brücke! Welchen Heldenmut es von mir erforderte! . . . Aber ich will mich nicht rühmen. Jetzt bin ich da und bringe ihn, den Beweis, den unwiderlegbaren Beweis. . . .«
»Unwiderlegbar, glauben Sie?« sagte Mouillard mit seiner ruhigen Stimme. »Wer bürgt uns dafür, daß dieser sonderbare, so lange in Ihrer Tasche vergessene Brief auch wirklich von dem sogenannten Herzog von Mons ist? Ihr macht mir ganz den Eindruck, als ob bei euch Vorsicht geboten sei, ihr Tarasconer! Alles was ich seit sieben Stunden an Lügen gehört habe . . .«
Ein dumpfes Murren wie von gefangenen wilden Bestien ertönte im Saal, auf den Galerieen, selbst auf der »Promenade«.
Tarascon war unzufrieden und erhob Einsprache. Gonzaga Bompard selbst begnügte sich mit einem unbeschreiblichen Lächeln. »Was mich betrifft, Herr Präsident, so möchte ich nicht so weit gehen, zu behaupten, daß ich nicht meistens ein wenig übertreibe, wenn ich spreche, und daß ich mich gerade zum Apostel der Wahrheit eignen würde! aber halten Sie sich, was die Wahrhaftigkeit betrifft, an diesen da« – er bezeichnete dabei Tartarin – »der ist noch der beste von ganz Tarascon.«
Tartarin brauchte nicht lange, um Handschrift und Namenszug des edlen Herrn von Mons zu erkennen, die er unglücklicherweise beide nur allzu oft gesehen hatte; dann schwang er, hoch aufgerichtet, zu dem Gerichtshof gewendet, mit grimmer Hand das furchtbare Geheimnis mit den fünf roten Siegeln: »Herr Präsident, mit dieser cynischen Ausgeburt bewaffnet, ersuche ich Sie inständigst, anzuerkennen, daß nicht alle Betrüger im Süden zu Hause sind. Ah, Sie schelten uns Lügner, uns Tarasconer! Allein wir sind nur Menschen mit reger Einbildungskraft und überströmenden Worten, Erfinder, Schwindler, fruchtbare Stegreifdichter, trunken von Licht und Rebensaft, die sich selbst von ihren überraschenden, harmlosen Erfindungen täuschen lassen. Welcher Unterschied zwischen uns und euren Lügnern aus dem Norden, die weder aus harmloser Freude daran, noch einem momentanen Eindrucke folgend lügen, sondern wie der Schreiber dieses Briefes, stets einen Zweck, eine niederträchtige Absicht dabei verfolgen. Ja, man kann gewiß behaupten, daß, was die Lüge betrifft, der Süden nicht mit dem Norden Schritt halten kann, wenn dieser einmal anfängt! . . .«
Von diesem Gegenstand vor einem tarasconischen Publikum hingerissen, hätte Tartarin den ganzen Saal entzünden müssen, allein es war zu Ende mit dem armen großen Mann und seiner Popularität. Niemand hörte auf ihn, man kümmerte sich nur noch um diese geheimnisvolle Botschaft, die er hin und her schwenkte.
Der Unglückliche wollte weiter reden, man ließ es nicht zu.
Von allen Seiten wurde geschrieen: »Den Brief! . . . den Brief! . . .«
»Reißt ihn ihm aus der Hand! . . .«
»Er soll den Brief lesen!«
Sich dem Willen der Menge fügend, befahl Präsident Mouillard: »Gerichtsschreiber, verlesen Sie das Aktenstück!«
Ein unendliches »Ah« der Erleichterung, und in der Stille, die darauf folgte, war nichts zu hören, als das Summen der Augustfliegen und das Zirpen der Cikaden, von dem das Schlagen der atemlosen Herzen rhythmisch begleitet wurde. Näselnd begann der Gerichtsschreiber: »An Herrn Gonzaga Bompard, provisorischen Gouverneur der Kolonie Port Tarascon. Zu eröffnen unter 144º 30' östlicher Breite, gegenüber den Admiralitätsinseln.
»Mein lieber Herr Bompard,
auch der beste Spaß muß einmal ein Ende nehmen.
Wenden Sie sofort das Schiff und kehren Sie mit Ihren Tarasconern ruhig nach Hause zurück.
Es gibt keine Insel, keinen Vertrag, kein Port Tarascon, weder Are noch Hektare, weder Brennereien noch Zuckerfabriken, noch sonst irgend etwas . . . nur ein ausgezeichnetes finanzielles Unternehmen, das mir einige Millionen eingebracht hat, die, wie auch meine erhabene Person, in diesem Augenblick sorgfältig in Sicherheit gebracht sind.
Kurz, es ist nichts als eine hübsche Tarasconnade, die mir Ihre Landsleute und ihr berühmtes Oberhaupt Tartarin gütigst verzeihen werden, da dieselbe sie zerstreut, beschäftigt und ihnen die verlorne Liebe zu ihrer köstlichen kleinen Stadt wiedergegeben hat.
Herzog von Mons.«
»Ebensowenig Herzog als aus Mons. Kaum aus der Umgegend!«
Vergeblich drohte diesmal der Präsident, den Saal räumen zu lassen: nichts vermochte das Geheul, das Wutgeschrei zu ersticken, das nun losbrach und sich auf die Straße, den Korso, das Glacis fortpflanzte und die ganze Stadt erfüllte. Ach, der Belgier, der gemeine Belgier, wie hätte man ihn, falls man ihn gehabt hätte, den »Sprung vom Balkon hinab in die Rhone« machen lassen!
Männer, Weiber, Kinder, alles stimmte ein und inmitten dieses entsetzlichen Lärmes verkündete der Präsident Mouillard die Freisprechung Tartarins und Pascalons, zur großen Verzweiflung Cicero Franquebalmes, dem so seine Rede mit allen seinen Verum enim vero, seinen »es ist, weil es ist« und all der Rechtsgelehrtheit seines monumentalen Plaidoyers im Halse stecken blieb.
Der Zuhörerraum entleerte sich, das Publikum verbreitete sich auf den Straßen, auf der »Promenade«, auf den Plätzen und Plätzchen und fuhr fort, seinem Zorn durch Brüllen und Toben Luft zu machen: »Der Belgier! . . . Der gemeine Belgier! . . . Der Lügner aus dem Norden! Der Lügner aus dem Norden! . . .«