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Acht Tage sind vorübergegangen. Am Fuße des Kithäron liegen die beiden feindlichen Heere einander in der Ebene gegenüber. Beiderseits herrscht mißtrauisches Zögern, beiderseits herrscht Erwartung. Es ist ein Spätsommertag. Hochgestapelte Mengen weißer Wolken treiben an dem winddurchwühlten Himmel dahin. Am Ufer des Asopos bringt Hegesistratos die Opfer dar. Mardonios wohnt der Zeremonie ungeduldig bei, während der Wahrsager auf einem Altar die Eingeweide der Rinder befragt.
»Verheißen sie Günstiges?« fragt Mardonios drängend.
»Noch nicht«, antwortet der Wahrsager.
»Das griechische Heer wächst mit jedem Tage«, sagt Mardonios. »Die Kundschafter melden es alle.«
»Die Vorzeichen«, sagt der Wahrsager, »sind weder den Persern günstig noch den Griechen, die mit ihnen sind.«
»Nicht den Thebanern?«
»Auch nicht den Thessaliern. Es ist besser, zu warten.«
Mardonios vermag seine Ungeduld nicht zu meistern. Namentlich nach dem Tode des Masistios ist in ihm der fieberhafte Drang, endlich an den Griechen Rache zu nehmen, ständig gestiegen. Er befiehlt, daß neue Opfer dargebracht werden und daß ein neuer Wahrsager, Hippomachos von Leukas, die Eingeweide der Opfer deuten solle. Allein auch dieser neue Wahrsager meint, die Eingeweide lägen den Persern nicht günstig genug, um einen Angriff zu beschließen.
Mardonios möchte die Götter zwingen. Oftmals empfindet er es so, wie seine Perser es während des Festmahles zu Theben schauten. So, wie sie den fahlen Schein schauten gleich einer bleichen Sphäre des nahenden Todes, so empfindet es Mardonios hin und wieder. Aber er will es nicht empfinden. Diesmal will er siegen und ist krank vor Ungeduld, zu beginnen. Des Nachts kann er auf dem üppigen Zeltlager, das Xerxes ihm hinterließ, nicht schlafen.
Es vergehen noch einige Tage. Die Perser und auch die Thebaner reiten einander herausfordernd immer wieder bis an die Ufer des Flusses entgegen und rufen den verbündeten Griechen Schimpfworte zu. Worauf wartet das Schicksal? Warum schleppt es die Dinge, die geschehen müssen, so träge hin zwischen diesen Wolken, diesen Bergkämmen und diesem Fluß, zwischen den Zelten dort drüben am breiten Fuß des heiligen Berges, in der weiten Ebene zwischen den beiden voneinander getrennten Zeltlagern, während hin und wieder die persischen Reiter, den Speer in den Fäusten schwingend, herausfordernd über die Ebene reiten und die Dorier furchtsam zaudern?
Schon elf Tage liegen die Heere einander gegenüber. Wer wird zum Angriff übergehen? Wem werden die Götter den Sieg gönnen, der aus des Zeus geöffneter Hand zur Erde entschwebt? Wie sehr die Perser auch herausfordern mögen, die Griechen gehen nicht zum Angriff über. Die Perser selber? Die Eingeweide der Opfertiere bleiben ihnen allzu ungünstig, um etwas anderes zu tun als nur herauszufordern.
Mardonios fragt Artabazos und die anderen Feldherren um ihren Rat. Artabazos, der es gleichfalls sieht, der es gleichfalls empfindet, sagt:
»Wir wollen das Lager aufheben. Wir wollen uns in Theben verstärken. Dort gibt es Nahrung und Vorräte und Futtermittel. Hört mich, Mardonios! Wir wollen diesen Krieg beenden, wenn möglich, ohne weiter zu kämpfen. Die Eingeweide verheißen uns dauernd Unheil. Wir wollen die Götter nicht herausfordern. Sie sind gegen uns. Sendet den verbündeten Griechen Gold, ungemünztes Gold, gemünztes Gold, auch Silber und das ganze zahlreiche Schänk- und Trinkgerät aus edlem Metall, das der König uns zurückließ! Sendet alle diese Schätze den Griechen! Sendet sie denen unter ihnen, die die Macht in Händen haben!«
Die thebanischen Feldherren stimmen dem Rat des Artabazos zu. Sie mahnen zur Vorsicht. Die Götter sind nicht günstig gesinnt.
»Die Götter!« ruft Mardonios aus und richtet sich hoch auf. Toll, als ob eine Verzückung ihn durchfahre, ruft er nochmals: »Welche Götter? Die griechischen Götter, denen wir opferten?«
»Unsere Götter«, sagt Artabazos.
»Ich opfere nicht mehr«, sagt Mardonios, und entsetzt sehen ihn die Feldherren an. »Ich will das Gesetz der Perser achten und werde nach Perserregel kämpfen. Zu lange schon vertraue ich Wahrsagern, die unter diesen feindlichen Himmeln geboren wurden. Ich traue ihnen nicht mehr. Unsere Götter werden uns beistehen, und mein Heer ist mächtig.«
Niemand widerspricht ihm mehr. Er ist der Oberbefehlshaber. Er hat allezeit den Krieg gewollt und will jetzt allen und allem zum Trotz den Kampf.
Sie sehen ihn keuchend dastehen. Er ist tragisch wie die Helden der künftigen Tragödien. Er schaut sich um und ruft herausfordernd:
»Weiß einer unter euch um ein Orakel, das den Persern meinen Tod in Hellas weissagt?«
Alle schweigen. Einige wenden das Antlitz ab.
Mardonios ruft:
»Da ihr nichts wißt oder nichts zu sagen wagt, werde ich selber sagen, was ich sicher weiß. Ein Orakel hat uns die Niederlage verheißen, so wir den Tempel von Delphi plünderten. Unsere Götter haben uns durch ein Erdbeben daran gehindert, Delphis Tempel zu plündern. Wir werden auch niemals Delphis Tempel plündern. Wir werden Ehrfurcht hegen vor dem Willen der Götter und dankbar sein für ihren Schutz. Wir werden die Griechen besiegen.«
Er winkt ihnen, zu gehen. Finster verlassen die Feldherren das Zelt.
»Das Orakel des Bakis!« sagt einer der Thebaner draußen.
»Wie lautet es?« fragt Artabazos.
Der Thebaner blickt um sich. Alle umdrängen ihn horchend. Er flüstert:
»Blickt auf den Heerbann der Griechen und horcht auf das Sprachengewimmel
aller der Fremden am Rande des schilfreichen Betts des Asopos!
Zahllos werden dahinsinken bogenbedienende Meder,
mehr, als die Parze bestimmt, wenn die Stunde des Schicksals herannaht.«
»Es gibt viele Orakel mit ähnlichem Sinn«, sagt ein Thessalier.
Der Thessalier beginnt zu flüstern. Artabazos wendet sich ab. Er will nicht länger hören. Er weiß auch ohne die Orakel, was das Schicksal bringen wird. Er hat gesehen und gefühlt.