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In jener Nacht zog sich der Rest der persischen Flotte mit Artemisia auf hohen Befehl aus dem Hafen von Phaleron zurück. Die Flotte steuerte in aller Eile ostwärts. Sie erschien in der unbestimmten Nacht mit all ihren entrollten Segeln wie eine über das Meer eilende Menge geflügelter, gespenstischer, ungeheuerlicher Wassertiere mit langen Pfoten, die aus den Wogen auf und ab sich hoben und senkten. Sie war wie eine ungeheure Erscheinung, wie ein im Glanz des aufgehenden Mondes durchsichtig werdendes Abbild eitler Menschenmacht, eitel und machtlos, weil die Götter es nicht gewollt hatten. Sie ruderte, sie segelte nun hinweg, um die Schiffbrücken über den Hellespont gegen einen möglichen Angriff und gegen Vernichtung durch die Griechen zu schützen. Obwohl dies ihr Ziel war, erschien sie doch vielmehr wie ein Zug entfliehender Schatten, die über das Meer sich ausbreiteten, erschien sie viel eher wie eine Flucht von Seegespenstern als eine noch mächtige und streitbare Flotte.
Die Stille der Nacht hielt ihre Flucht geheim, und der fahle Mondenschein umhüllte sie mit einem Nebel des Geheimnisvollen, das auch ihr selber Geheimnis war, das sie, die selber ein Spuk war, Gespenster sehen ließ, wenn sie in ihrer Angst die aus dem Mondnebel auftauchenden Vorgebirge, Felsen, Inseln die Form von ihr entgegenfahrenden griechischen Schiffen glaubte annehmen zu sehen; so daß ihre eigenen Schiffe, die den bangen Inselbewohnern, die sie in der Nacht vorübersteuern sahen, wie Gespenster erschienen, hierhin und dorthin entflohen, gleichsam verweht von einem Winde, der nicht wehte, um sich dann, wenn sie zu verschwimmen und am Horizont zu verschwinden dem sicheren Morgen entgegen.
An diesem Morgen sahen die Griechen das Landheer jenseits von Salamis lagern.
Sie wähnten die persische Flotte noch bei Phaleron.
Sie hörten zwar alsbald von der Flucht und verfolgten sie mit ihren Schiffen bis zur Insel Andros, aber die persische Flotte war außer Sehweite.
Die Griechen hielten in Andros Rat.
»Wir wollen die persische Flotte durch das Ägäische Meer verfolgen«, rief Themistokles aus. »Wir müssen die Schiffbrücke am Hellespont vernichten.«
»Hüten wir uns wohl davor!« rief Eurybiades. »Wenn Xerxes nicht abziehen kann mit seinem Millionenheer, so harrt unser das größte Unglück, die Hungersnot, die ohnedies schon droht!«
»Wir wollen dem König Gelegenheit geben, zu entfliehen«, riefen die peloponnesischen Flottenbefehlshaber.
»Wir wollen später in seinem eigenen Lande gegen ihn kämpfen«, riefen andere.
Themistokles hatte in einer genialen Eingebung, in einer Phantasie bereits gesehen, wie der persische König von Asien abgeschlossen ward und in die Macht der Athener geriet, die mit ihm nach ihrem Wohlgefallen verfahren würden. Die Vorstellung hatte etwas Blendendes und Verführerisches.
Themistokles lachte nachträglich selber darüber.
Allein die athenischen Flottenführer um Themistokles waren darüber entrüstet, daß die Verbündeten die Flucht der persischen Flotte duldeten. Sie machten den Vorschlag, ohne sie nach dem Hellespont zu fahren.
Es schien, als gewahre Themistokles noch lächelnd etwas von der Zukunft, die ihn selber verdammen würde. Ungnade in Athen? Warum nicht, angesichts der Grillenhaftigkeit der Glücksgöttin? Verbannung? Eine Zuflucht? Wo? In Persien? Das alles erschien kaum klar umrissen vor seinem geistigen Auge. Dennoch war es die unbewußte geniale Ahnung dessen, was sich ereignen würde.
Themistokles sprach, noch immer lächelnd, mit einer müden Bewegung seiner Hand:
»Athener! Es wäre nicht das erstemal, daß einem besiegten und ratlosen Feinde auf solche Weise eine neue Aussicht geboten wurde, das erste Mißgeschick wieder auszugleichen. Athener! Laßt uns jetzt nicht, nachdem wir die Horden der Barbaren wider unsere eigene Erwartung verjagt haben, einen fliehenden Feind verfolgen! Wir haben diesen Sieg nicht unserer Kraft zu danken, sondern den schützenden Schatten unserer Helden und dem Gotte der Griechen, gewiß, dem Gotte der Griechen. Unser Gott, unser großer Zeus, hat es nicht geduldet, daß ein Mann, ein Gottloser, ein Wicht, der Göttliches und Menschliches nicht zu unterscheiden weiß, der Götter Tempel verbrenne und ihre Bildnisse stürze, daß er das Meer geißele und es in Fesseln schlage, daß er allein der Sieger über Asien und Europa sei. Athener! Wir haben einen großen Vorteil errungen. Wir wollen uns keinen größeren wünschen. Bleiben wir in Hellas! Widmen wir uns den Unsrigen! Vertrieben ist der Barbar. Wir wollen aufbauen, was vernichtet ist. Laßt uns die Ernte der Zukunft säen und bei Beginn des Lenzes nach dem Hellespont ziehen und in Ionien einfallen!«
Die Athener jubelten Themistokles zu. Aber sogleich sandte Themistokles den Pädagogen Sikinnos zu Xerxes mit geheimer Botschaft. Der Pädagoge stieg in ein Boot mit einigen Männern. Sie ruderten ihn an Attikas Küste entlang. Er winkte der persischen Schildwache zu.
»Ich bin ein Botschafter, den Athens Flottenbefehlshaber zum König der Meder entsandt hat.«
Sikinnos wurde nach Athen geführt vor Xerxes. Sikinnos gewahrte die Erregung in der besiegten Stadt.
Xerxes erkannte ihn. Dies war der Mann, der ihm zu Salamis Rat gegeben hatte. Er wurde bleich vor Wut. Allein der Pädagoge sprach:
»Medische Majestät! Themistokles, der Sohn des Neokles, der Oberbefehlshaber der athenischen Flotte, sendet mich zu Euch, um Euch zu sagen, daß er Euch nicht ungeneigt ist.«
»Themistokles?« fragte Xerxes zweifelnd.
»Gewiß, medische Majestät! Und um Euch zu sagen, Ihr und Eure Söhne möget es nimmer vergessen, daß ...«
»Was?«
Der Pädagoge legte auf jedes Wort einen deklamatorischen Nachdruck:
»Daß er zu Eurem Wohle die Griechen, die Verbündeten und die Athener daran gehindert hat, Eure Flotte zu verfolgen und die Schiffbrücke über den Hellespont zu vernichten. Ihr, medische Majestät, könnet unbesorgt in Euer Reich zurückkehren.«
Der Pädagoge ruderte zurück. Er fand Themistokles auf seinem Schiffe damit beschäftigt, in seiner Schiffszelle Geld zu zählen. Lächelnd hörte Themistokles das Ergebnis seiner Botschaft an Xerxes.
»Warum Ihr mich, Herr,« sprach der Pädagoge, »dieses Mal zu dem Meder sandtet, ist mir ein Rätsel.«
»Mir vielleicht auch,« sagte Themistokles unbestimmt.
»Warum sucht Ihr nahezu Freundschaft mit dem Meder?«
»Sollte mein Tun Verrat sein, Sikinnos?«
»Die Götter mögen mich davor behüten, Herr, dies auszusprechen! Durch Euren scheinbaren Verrat hat die athenische Flotte die Schlacht von Salamis gewonnen. Damals aber begriff ich, was ich zu melden hatte. Jetzt begreife ich es nicht. Ich sprach meine Botschaft schlecht wie der zweite Schauspieler in diesem Frühjahr im Theater des Dionysos in einem Trauerspiele von Äschylus, dem Sohne des Euphorion.«
Themistokles erhob sich.
»Sikinnos!« sagte er. »Ich brauche Geld, viel Geld.«
»Ihr hängt zu sehr am Gelde, Herr«, sagte Sikinnos unzufrieden. »Seit Euren Jünglingsjahren habt Ihr viel zu viel Geld ausgegeben.«
»Es ist möglich«, antwortete Themistokles lachend. »Ich bin nur ein Mensch mit menschlichen Schwächen. Ich bin kein Leonidas.«
»Wie meint Ihr das, Herr?«
»Ich bin kein Halbgott und kein Spartaner.«
»Ihr seid ein Athener.«
»Ja«, sagte Themistokles. »Und ein Mensch, der Geld braucht. Gehe an Land und teile den Behörden in Andros mit, daß sie es nicht unterlassen sollen, Athen Geld zu geben zu Ehren der beiden großen Göttinnen!«
»Welcher Göttinnen, Herr?«
»Des Schicksals und der Überredung«, erwiderte lächelnd Themistokles.
Der Pädagoge ging. Nach einer Stunde kehrte er an Bord zurück.
»Nun?« fragte Themistokles.
»Die Andrier sagen, Herr, daß Athen, wenn es von so mächtigen Göttinnen beschützt werde, mit Recht groß, reich und mächtig sei. Allein auf ihrer Insel wohne ...«
»Wer?«
»Die Armut und die Ohnmacht.«
»Weigern sie sich?«
»Sie fügen sogar hinzu, daß Athens Macht nie mächtiger sein könne, als ihre Ohnmacht ohnmächtig sei.«
Themistokles lächelte nicht mehr. Er runzelte die Brauen und sprach:
»Sie sind geistreich, aber sie sollen belagert werden. Diese Verräter von Andros! Sikinnos! Geh nach Karystos und Paros! Bitte die Männer dort um Geld! Ich brauche nötig Geld.«