Matthias Claudius
Der Wandsbecker Bote
Matthias Claudius

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Über das Genie
Nescio quid servile olet et non sui Juris

Ich stelle mir oft bei müßigen Stunden eine Sprache als ein Bündel Stäbe vor, wo an jedweden Stab eine verwünschte Prinzessin angezaubert ist, oder ein unglücklicher Prinz; und der Mann, der die Sprache versteht, wäre denn ein Sonntagskind, das Geister sehen kann, unterdes der andre den Stab sieht und nichts weiter. Man sagt, daß in der eigentlichen Zauberei, wenn einer das Handwerk versteht, eine Prinzessin vom Zauber erlöset, und statt ihrer ein Alp und Kobold an den Stab festgezaubert werden kann; bei den Sprachen gehts gewiß so her, und beides die Stäbe und die Geister sind sehr der Veränderung unterworfen. Die Geschichte dieser Veränderungen und Sukzessionen ist ein sehr feines Studium. Sie erfordert ein philosophisches Fühlhorn, das nicht jedermanns Gabe ist, und ohne sie kann wenig Gescheites von dem Geschmack eines Mannes und seiner Nachfolger gesagt werden, wie das die Abhandlungen in Quarto und Oktavo beweisen.

Sokrates sprach von einem Genio, der ihm ins Ohr sagte, und tausend sprachen und sprechen nach ihm von einem Genio. Vielleicht verhält sich der Genius, von dem Sokrates sprach, zu den Geniis, von denen die tausend sprechen, wie ein alter Barde und Prophet zu den Minstrels und Balladensängern, denen die Königin Elisabeth in England eine Ehre auf dem Brett antat: »alle Zigeuner, Landstreicher und Minstrels kommen in das Zuchthaus nach Neumünster«, vielleicht auch anders, denn es ist noch nicht recht ausgemacht worden, was Sokrates gemeint habe und was die tausend meinen.

Fast alle, die vom Sokratischen Genio geschrieben haben, sind entweder in die Marschländereien mondsüchtiger Phantasten geraten, oder in die dürre Sandwüsten der Wolfischen Philosophie und der mathematischen Lehrart. Es kann wohl sein, daß niemand etwas davon sagen kann, als wer einen ähnlichen Genium hat, und wer den hat, ist vielleicht zu hölzern, und so zurückhaltend als Sokrates war. Auf die letzte Vermutung bringt mich eine Erfahrung unter den Menschenkindern, nach der ein Säugling der Venus Erycina im ersten Platonischen Paroxysmo der zarten Leidenschaft stumm ist, und in der Tiefe des einsamsten Waldes den Namen des Idol suo kaum aussprechen darf. Bei so gestalten Sachen nun wäre vom Sokratischen Genio nicht viel von andern Leuten zu erfahren, und es ginge damit wie mit dem leidigen Stein der Weisen. Es sei also in Ansehung seiner genug, in einer sanften Mondnacht mit gewaschenen Händen und einem Schauer von Ehrfurcht und Eifersucht Blumen für den Mann hinzulegen, der ihn hatte, und für den, der ihn hat – und nun herunter zum modernen Genius oder zum Genie.


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