Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Fünftes Kapitel

Jenatsch war hinausgeeilt. Ein Sturm wildstreitender Gedanken tobte in seinem Innern, den vor dem Herzog niederzuhalten ihn Anstrengung gekostet hatte. Er verabscheute die Möglichkeit, während dieses Seelenkampfes irgend einem Menschen Rede stehen zu müssen. Mit eilenden Schritten stieg er, das Gewühl des wachen Dorfes unter sich lassend, die dämmerigen Bergwiesen hinan und ließ seine zornigen Gefühle dahinstürmen wie eine Schar ins Gebiß knirschender Rosse; aber sein berechnender Geist behielt die Zügel und lenkte die brausenden Mächte seines Gemüts auf immer neuen, immer gefahrvolleren, aber wohlbemessenen Bahnen.

Das Ziel wonach er sein ganzes Leben lang gerungen, das seine Tage beschäftigt und seine Nächte beunruhigt hatte, um das er mit den verschiedensten Kräften seines Wesens gekämpft, das Ziel wonach er auf den blutigsten Irrwegen geklommen und dem er sich seit Jahren mit gebändigtem Willen als ergebenes Werkzeug einer edeln und, wie er glaubte, in ihrem Machtkreise unbeschränkten Persönlichkeit auf dem sichern Wege der Gerechtigkeit und Ehre genähert hatte, – dies Ziel, das er noch heute mit der Hand berührte, es war ihm entrückt – nein, es war vor ihm versunken! Denn eines stand vor seiner Seele mit entsetzlicher Klarheit: Bünden sollte nie frei werden, sollte nach der Absicht des allgewaltigen und gewissenlosen Geistes, der Frankreichs schwachen König beherrschte und dessen innere und äußere Politik nach Gefallen lenkte, aufbehalten werden bis zum allgemeinen Frieden. Dann von Richelieu in die zu verteilende Masse verfügbarer Länder geworfen, unter die übrigen Tauschobjekte gemengt, war seiner armen Heimat unvermeidliches Schicksal, beim Länderschacher des Friedensschlusses auf den Markt gebracht und diesem oder jenem einen günstigen Handel Anbietenden zugewogen zu werden.

Der Herzog trug keine Schuld daran. Er liebte Bünden und wollte es freigeben; aber er war nicht stark genug, seinen Willen gegen den ihn mißbrauchenden des Kardinals durchzusetzen. Er wagte es nicht, sich mit einem Nebenbuhler zu messen, der über den Schranken der Gewissenhaftigkeit stand; er scheute sich seinen Gegner mit jenen wirksamsten Waffen zu bekämpfen, die Richelieu mit Meisterschaft führte! – War es nicht möglich, diese von Rohan kindisch verschmähten Waffen zu ergreifen? Dem Jäger selbst eine Schlinge zu legen?

Wo galt die menschliche Gerechtigkeit, die der Herzog verwirklichen wollte, – wo war ihr Urbild, die göttliche, um sie zu Ehren zu bringen und zu belohnen? Eitle Träume beides! Ein frommer Tor nur konnte daran glauben!... Der Herzog war blöde genug zu meinen, der Kardinal anerkenne die Gültigkeit des von dem Mächtigen einem Schwachen gegebenen Wortes! Er war töricht genug zu wähnen, ein zu Gunsten der Hugenotten im Bürgerkriege gezogenes Schwert könne jemals von Richelieu vergeben und vergessen werden, sei möglich durch ruhmreiche Dienste den Haß des mächtigen Ministers auszulöschen!... Er war so blind, nicht einzusehen, daß gerade seine zu Frankreichs Ehre verrichteten Heldentaten für den Eifersüchtigen ein Grund mehr waren, ihn zu beargwöhnen und ihn aufzuopfern!

Wohin aber war es gekommen mit diesem christlichen Ritter? Er stand am Rande des Abgrundes, ein verlorener Mann!... Und Jenatsch haßte ihn zu dieser Stunde darum, daß er ein Betrogener und Besiegter war. Doch unglaublich! er selber hatte sich ja verblenden lassen durch ein Gefühl bewundernder Liebe zu diesem edlen Menschenbilde! Er hatte geglaubt, daß der Wert reiner Gesinnung, der ihn berückt hatte, auch in der Rechnung des Kardinals eine Zahl sei... Ja, wohl hatte Richelieu mit dieser Zahl gerechnet, – wie der schlaue Fischer auf seinen Köder zählt, – und Jenatsch selbst, – doch nicht allein er – Verzweiflung ergriff ihn – sein Vaterland war ein Opfer dieses Betruges.

Vielleicht war noch Rettung möglich! Weg jetzt mit jedem hemmenden Bedenken, mit allen Banden der Dankbarkeit, mit allen Berückungen der Liebe, mit jeder Eigensucht eines rein gehaltenen Charakters! Hinunter mit der Vergangenheit! Weg die Fesseln ihrer liebgewordenen Überzeugungen und Vorurteile! Gelöst werde jeder Zusammenhang des Dankes und der Treue! –

Jetzt vertiefte sich Jenatsch mit einem durch das Gefühl der Gefahr geschärften Geiste in die Schlangenwege und Berechnungen der französischen Politik. – Eine Befürchtung, die Rohan ihm preisgegeben, ließ ihn einen Schlüssel finden zu den Gedanken des Kardinals. »Es ist nicht anders«, sagte er zu sich, »Richelieu überläßt uns seinen protestantischen Feldherrn, so lange der selbst Getäuschte auch uns aufrichtig zu täuschen vermag. – Stirbt des Herzogs Glaube oder unser Glaube, so ruft er ihn plötzlich ab und ersetzt den christlichen Worthalter durch einen Soldaten, der seine Kreatur ist... Ich aber will Fuß fassen auf dieser hugenottischen Ehre! Ich stelle mich auf diesen Felsen. Ich halte es fest dieses gute französische Pfand!«... und er schloß die eiserne Faust. Er sann nach, wie das möglich wäre, – und es trat ein Judasgedanke aus seiner Seele und stand plötzlich in so naher Häßlichkeit vor seinem Angesichte, daß ihn schauderte. Aber er sagte sich mit einem sichern Lächeln: »Der gute Herzog wird mich nicht durchschauen wie sein Gott den Judas.«

Rasch wandte er den Blick weg von dem Verrate an diesem Reinen; er konnte ihn vollbringen, aber nicht betrachten.

Hinüber richtete er das Auge nach dem fernen Frankreich und er forderte den großen Kardinal zum Zweikampf in die Schranken seines Berglandes, Mann gegen Mann, List gegen List, Frevel gegen Frevel.

Und sein Herz brannte in wilder Freude, weil in Bünden einer war, der sich der schlauen Eminenz gewachsen fühlte.

 

So durchjagte Jenatsch das Reich der Möglichkeiten mit rastlosen Gedanken. Er achtete des Weges nicht und jetzt eilte er schon im nächsten talabwärts gelegenen Dorfe längs einer langen Kirchhofmauer dahin, als er gewahr wurde, daß ein barfüßiges Bauernkind eilig neben seinen langen Schritten einherlief. Die Kleine hielt schon längst einen Brief in die Höhe, der ihr, wie sie ehrerbietig ausrichtete, von der Schwester Perpetua für seine Gnaden den Herrn Oberst übergeben worden sei, welchen die Schwester an der Pforte des Klostergartens habe vorübergehen sehn. –

Der Oberst blickte um sich, er war in Cazis. Er verabschiedete die Kleine und lenkte, wie vom Finger des Schicksals berührt, in die Dorfgasse ein, wo sich die Lichter entzündet hatten. Er hatte auf dem Umschlage im letzten Dämmerscheine die Handschrift seines alten Freundes, des Paters Pancraz, zu erkennen geglaubt. Am Fenster eines Erdgeschosses sah er ein graues Mütterchen im Scheine der Ampel spinnen. Er lehnte sich außen an die Mauer, so daß ein spärlicher Strahl auf das Blatt fiel, und las:
 

Hochmögender Herr Oberst,

Ich erdreiste mich, Euch einiges zu melden, das für Euch und unser Land wichtig sein kann. Der Vertrag von Chiavenna ist ein vergängliches Blendwerk, das uns die Eminenz in Paris vorspiegelt. Seit ich in Mailand verweile, wurde mir zur Gewißheit, was mir schon früher eine in meinem Kloster am Comersee zufällig aufgefangene Rede verriet.

Kurz vor der Weinlese herbergte dort ein französischer Ordensbruder, ein beredter Prediger, der zur Erholung seiner abgearbeiteten Lunge und des ewigen Heiles wegen – wozu Gott uns allen in Gnaden verhelfe – den Weg nach Rom angetreten hatte. Beim Nachtessen im Refektorium klagte der Prior mit ihm über die Zeitläufte und bedauerte, daß das Valtelin durch den Vertrag von Chiavenna wiederum zu Bünden geschlagen werde. »Darüber seid ohne Sorgen«, fuhr der Franzose heraus, der nicht wußte, daß ein guter Bündner am Tische saß, »daß dieser Vertrag keinen Soldo wert ist, weiß ich aus bester Quelle. Als ich mich in Paris vor meiner Abreise bei meinem Superior, dem Pater Joseph, beurlaubte, kam ich gerade dazu, wie dieser und der Nuntius des heiligen Vaters den Entwurf besagten Vertrags ihren prüfenden Blicken unterwarfen. Der Nuntius ließ sich hart dagegen aus, der hitzige Pater Joseph aber zerknitterte das Papier in seiner Faust, ballte es zu einer Kugel zusammen und warf es in den Winkel mit den Worten: ›Dieser Vertrag eines Ketzers mit Ketzern wird niemals gelten.‹ –

Ich verhielt mich mausestill, aber hatte meine Gedanken; denn, was der Pater Joseph bedeutet, wißt Ihr besser als ich. –

Hier in Mailand, wo ich mich in Ordensgeschäften seit zehn Tagen aufhalte, wurde ich gestern in den Palast des Gubernatore gerufen, um seinem Gesinde wegen eines häuslichen Diebstahls ins Gewissen zu reden. Da beschied mich der Herzog, der meine bündnerische Herkunft erfahren, zu sich und sagte mir halb ernst, halb scherzweise: »Wie ich jetzt Euch vor Augen habe, Pater Pancraz, möcht' ich wohl den Obersten Jenatsch leibhaft vor mir sehen. Es wäre mir ein Leichtes dem verständigen Manne darzutun, daß der Vertrag von Chiavenna nichts ist als ein verdorbenes Pergament, daß euch Frankreich das Veltlin nie zurückgibt und daß Spanien euch Bündnern Bedingungen machen könnte, bei denen ihr euch ganz anders stündet. – Pater Pancraz, Ihr habt mir den gestohlenen Siegelring hervorgezaubert, könntet Ihr mir Euern Jenatsch, den einzigen, mit dem mir zu verhandeln möglich ist, auf dieselbe stille und prompte Weise in dies Cabinet bringen, so solltet Ihr Eurerseits Wunder erleben.« –

Da kam es wie eine Erleuchtung über mich, Euch von dieser merkwürdigen Rede Kunde zu geben.

Kommt Ihr, so werde ich dafür sorgen, denn ich bleibe einstweilen in Mailand, daß Ihr außer dem hohen Herrn von niemand erblickt werdet. Könnet Ihr Euch daheim nicht frei machen, was ein Unglück wäre, so schickt eine Vollmacht, aber nur durch einen Mann, dem Ihr traut wie Euch selbst, wenn Ihr einen solchen kennt.

Vergebt meinen Vorwitz und säumt nicht!

Der für meines Herrn Obersten zeitliches und ewiges Heil täglich betende

Pater Pancraz.

 

Das Schreiben des Kapuziners, dessen menschenerfahrene Klugheit und schlaue Vorsicht der Oberst zu gut kannte, um sich über das Gewicht und den Ernst dieser Mitteilung zu täuschen, deckte ihm in blitzartiger Beleuchtung die Windungen eines halsbrechenden Pfades auf. Vielleicht hatte in schlimmen entmutigten Stunden sein Blick schon früher sich zuweilen dahin verirrt, aber immer hatte er ihn mit einem Gefühle der Verachtung seiner selbst erschrocken und ekelnd wieder davon abgewandt. Dieser Weg der Gefahr und Schande war das Bündnis mit Spanien. Jene Macht, die er von Kindheit an mit der ganzen Kraft seines jungen Herzens gehaßt, die er dann in vermessenem Jugendmute mit fast wahnsinniger, vor keinem Greuel zurückbebender Leidenschaft bekämpft, welcher er sein ganzes Leben hindurch als Todfeind gegenüber gestanden und deren eigennützige und wortbrüchige Politik er auch heute noch tief verachtete – sie bot ihm die Hand. Er konnte diese Hand ergreifen – nicht in Treu und Glauben – wohl aber um von ihr die französische Schlinge lösen zu lassen und sie dann zurückzustoßen.

Jetzt entschloß er sich dazu.

Langsam wandelte er auf der dunkeln Heerstraße nach Thusis zurück. Es ward ihm schwer zu brechen mit der ganzen Vergangenheit. Er wußte, daß er sich selbst in seinen Lebenstiefen damit zerbrach. Dort jenseits des Rheines im Domleschg lag das Dörfchen Scharans, dessen armer Pfarrer, sein gottesfürchtiger Vater, in Geradheit und Einfalt ihn aufgezogen und ihn zur Treue im protestantischen Glauben und zum Hasse der spanischen Verführung ermahnt hatte. Dort unfern davon stand der Turm von Riedberg, wo er den Vater Lucretias, der seiner Kindheit wohlgewollt, als willkürlicher Blutrichter nächtlicher Weile überfallen und grausam erschlagen hatte, das »Giorgio guardati« des treuen Mädchens schlecht vergeltend. Was dort schimmerte, waren die erhellten Fenster der einsamen Lucretia...

Und wieder stürzten seine Gedanken in eine neue Bahn. Er selbst konnte dem dringenden Rufe des mit Serbellonis Auftrag betrauten Pancraz jetzt unmöglich folgen. Er mußte als verderblicher Dämon unter der Maske der Treue neben dem Herzog bleiben, als argwöhnischer Wächter jede seiner Bewegungen beobachten und um jeden Preis verhindern, daß der ermattete Kranke seinen Feldherrnstab nicht am Ende doch in die Hände Richelieus niederlege.

Wer aber konnte an seiner Stelle mit Serbelloni unterhandeln? Allerdings nur einer, dem er traute wie sich selbst, aber dieser Mann war nicht vorhanden. – Noch einmal blickte er nach den Fenstern von Riedberg hinüber. Ein schneller Gedanke durchfuhr ihn und stand nach einem Augenblicke der Überlegung als klarer Entschluß in ihm fest.

Mit raschen Schritten eilte er nach Thusis zurück. Vor der Herberge stand ein Haufen Marktleute, schweigsam und in gedrückter Stimmung, denn sie hatten auf ihn und einen günstigen Bescheid vom Herzoge lange gewartet. Der alte Lugnetzer trat ihm aus der im Dunkel zusammengedrängten Gruppe entgegen mit der Frage auf den Lippen, die ihrer aller Gemüt beunruhigte.

Aber Jenatsch ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Hört an, liebe Landsleute, und bewahrt es in einem feinen Herzen«, rief er mit eindringlicher, aber gedämpfter Stimme: »Der Winter steht vor der Tür, bleibet ruhig daheim in euern Dörfern und erharret den Lenz. Kommt die Schneeschmelze zu Anfang des Märzen, dann machet euch und eure Ehrenwaffen bereit. Ich lade euch zu einem Tage nach Chur. Stunde und Losung wird euch noch gesagt werden. Dort richten wir im Namen Gottes den drei Bünden ihre alte Freiheit wieder auf,« –

Die Leute hatten in feierlichem Schweigen zugehört. Als Jenatsch geendigt, dauerte die Stille noch eine Weile fort. Dann begannen sie die Sache flüsternd sich auszulegen, bis sie tief in der Nacht auf ihre Heimwege sich zerstreuten.

 

Aber er, der zu ihnen geredet, stand nicht mehr in ihrem Kreise. Der Oberst Guler hatte ihn weggeholt und streckte ihm jetzt in der Gaststube inmitten der Offiziere ein Papier und eine eingetunkte Feder entgegen.

»Da ist der Pakt – nach Soldatenart kurz gefaßt –«, sagte er, »hast du noch die edle Courage, deren du dich heute berühmtest, Ventrebleu, so unterschreib ihn.«

Der Angesprochene stellte sich unter den Leuchter und las:

»Wenn der rückständige Sold der bündnerischen Regimenter binnen Jahresfrist von Frankreich nicht ausgezahlt wird, haftet den Bündnerobersten für ihr Guthaben, sei es Ganzes oder Rest, der Endunterzeichnete mit seinem sämtlichen liegenden und fahrenden Gut.«

Jenatsch ergriff die Feder, strich die zwei einzigen Worte »von Frankreich« und unterschrieb.


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