Conrad Ferdinand Meyer
Jürg Jenatsch
Conrad Ferdinand Meyer

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Lucretia hatte im Hintergrunde der Laube den Auftritt mit laut klopfendem Herzen angesehen. Konnte sie Georg retten? Wollte, durfte sie es?... Hinter ihr stand Wertmüller, dessen angriffslustige Ungeduld sie fühlte und den sie leise den Hahn seines Pistols spannen hörte. Lucretia erhob sich und schritt, von einer unwiderstehlichen Macht gezogen, langsam vor. Bei des Spaniers letzten Worten stand sie zwischen ihm und dem an einen steinernen Stützpfeiler der Laube geschnürten Gefangenen. In diesem Augenblicke flog eine Handvoll Kot und Steine von einer lachenden Kropfgestalt geworfen an die blutende Stirne des Gefesselten, aber seine Miene blieb stolz und ruhig, nur seine Lippen bewegten sich flüsternd:»Lucretia, deine Rache vollzieht sich!« klang es in romanischen Lauten, ohne daß sein Blick sich nach ihr gewendet hätte.

»Sennor«, redete die Bündnerin den spanischen Hauptmann mit fester Stimme an, »ich bin Lucretia, die Tochter jenes Planta, den Georg Jenatsch erschlagen hat. Ich habe seit dem Tode meines Vaters keinen liebern Gedanken gehabt als den der Rache; aber in diesem Manne hier erkenne ich den Mörder meines Vaters nicht.«

Der Spanier richtete seinen bösen Blick erst fragend und dann höhnisch auf sie, aber Lucretia beachtete ihn nicht. Schon hielt sie ihren kleinen Reisedolch in der Hand und begann ohne Zögern die Bande des Gefangenen zu durchschneiden.

Was jetzt um sie vorging, traf ihre Sinne kaum. Sie vernahm noch den raschen Befehl Wertmüllers an Lucas: »Pferde vor!« gewahrte noch, wie der Locotenent dem Spanier mit dem Pistol in der Hand entgegentrat und dieser den Degen aus der Scheide riß. Dann wurde sie rasch aufs Pferd gehoben, das, Musketenschüsse hinter sich hörend, in wilden Sprüngen sie von dannen trug und in jagendem Laufe an der Festung Fuentes vorüber der Straße nach Chiavenna folgte. Auf dem staubigen Heerwege sprengte sie vorwärts, mit Mühe sich auf dem erschreckten Pferde haltend und doch angstvoll zurücklauschend, ob ihr Freund oder Feind nacheile. Noch fielen, schon aus der Ferne, vereinzelte Schüsse, sonst hörte sie nichts als das Schnauben und den Hufschlag ihres eigenen Tieres.

Endlich brauste Galopp hinter ihr und schon ritt an ihrer rechten Seite, zerrissen und blutig, aber in hellem Übermute Georg Jenatsch, hinter welchem, ihn mit grimmer Miene umfassend, der alte Lucas zu Rosse saß. Zu des Fräuleins Linken schnaubte einen Augenblick später ein zweites Roßhaupt und über demselben grüßte das aufgeregte Gesicht des kleinen Locotenenten, der den Rückzug gedeckt hatte und von der Rolle, die er gespielt, höchlich befriedigt schien.

»In der Festung wird Alarm geschlagen«, sagte Jenatsch. »Hinter jenem Waldhügel biegen wir links ab von der Heerstraße, auf der man uns verfolgen wird, reiten durch die seichten Nebenwasser der Adda und gewinnen auf Wegen, die ich als gangbar kenne, längs des Sees und über die Berge das sichere Bellenz.« –

Als die Pferde den beweglichen Kiesboden des Flußbettes betraten, sprang Lucas ab und ergriff, sich vor das Pferd seiner Herrin stellend, mit treuer Hand dessen Zügel. »Im Grunde habt Ihr recht«, sagte der Alte und blickte zu Lucretias glücklichem Angesichte auf, »es war heute nicht der passende Anlaß und nicht der richtige Ort. – Euch zu liebe würd' ich mit dem leidigen Satan selbander reiten, aber – wahr bleibt's – einem ehrlichen Gaul und einem gut katholischen Christen wird heutzutage viel Geduld zugemutet.« –

Die darauf folgenden beschwerlichen Reisetage lebten als selige Erinnerungen in dem Herzen Lucretias fort. Nach dem ermüdenden Zuge quer über die südlichen Vorberge der Alpen hatte die Gesellschaft in Bellenz gerastet und Jenatsch sich beritten gemacht. Dann zogen sie langsam durch das von Wasserstürzen rauschende Misox, das südlichste und schönste Tal des Bündnerlandes. Über dem Bergdorfe San Bernardino begann der Paß jäh zu steigen und führte zu dieser frühen Jahreszeit bald über eine blendende Schneedecke. Der Himmel war von tiefer Klarheit und noch südlicher Bläue. Lucretia fühlte sich umweht von den kräftigen Alpenlüften der Heimat und ihr war auf Augenblicke, als sei sie in die fröhlichen Reisetage der Kindheit zurückgekehrt; denn Herr Pompejus war häufig mit ihr aus einem seiner festen Häuser ins andere über die Bergjoche des tälerreichen Bündens gezogen. Ihre Augen suchten mit Ungeduld den kleinen Bergsee, der, wie sie sich deutlich erinnerte, auf keiner der heimischen Wasserscheiden ausblieb. Da endlich, nahe dem nördlichen Abhange, leuchtete er ihr entgegen, unter den heutigen scharfen Sonnenstrahlen aufgetaut. Gewiß nur eine kurze Befreiung, denn der Sommer kehrt spät ein auf diesen Höhen, trotz seiner täuschenden Vorboten, und das den Himmel spiegelnde Auge mußte sich unter eisigen Stürmen wohl bald wieder schließen.

Auf der halb geschmolzenen Schneedecke kamen die Pferde nur mühsam vorwärts. Die Bündner – auch Lucretia – waren auf der Höhe abgestiegen, nur der eigensinnige Wertmüller beharrte im Sattel und blieb, wo der Berg sich zu senken begann, mit seinem bei jedem Schritte gleitenden Tiere immer mehr hinter den andern zurück. Zuletzt versank er in eine vom Schnee verräterisch bedeckte Spalte, aus welcher ihm der die übrigen Pferde am Zügel führende Lucas nur mit Zeitverlust und Mühe heraufhalf. Während dieser bei dem fluchenden Locotenenten zurückblieb, schritten Jenatsch und Lucretia rüstig und allein bergab und überließen sich der ungewohnten Lust, die Heimatluft in vollen Zügen einzuatmen. Das Fräulein dachte nicht daran, daß sie zum ersten Male auf der Reise mit Jenatsch allein sei. Waren ihr doch, wenn sie still neben Jürg einherritt, ihre beiden andern Begleiter – der Locotenent, trotz seines unausgesetzten Bestrebens sich angenehm oder unangenehm geltend zu machen, der alte Knecht, trotz seiner unverhohlenen Rachegelüste, – in gleichgültige, unpersönliche Ferne getreten.

Sie lebte in einem traumartigen Glücke unter dem Zauber ihrer Berge und ihrer Jugendliebe, den sie furchtsam sich hütete, mit einem an die grausame Gegenwart erinnernden Worte zu zerstören.

Jetzt hatten sie das erste Grün über einem schmalen baumlosen Tale erreicht und setzten sich auf ein besonntes Felsstück, um den zurückgebliebenen Locotenenten zu erwarten. Ein Wässerchen quoll daneben aus dem feuchten dunkeln Boden. Lucretia kniete nieder und bemühte sich mit der hohlen Hand einen Trunk daraus zu schöpfen. »Ich muß doch sehen«, sagte sie, »ob das bündnerische Bergwasser noch so gut schmeckt wie in meiner Jugend!«

»Nicht!« warnte Jenatsch. »Ihr seid der eiskalten Quellen entwöhnt! Hätt' ich ein Becherlein, so mischt' ich Euch einen gesunden Trunk mit ein paar feurigen Weintropfen aus meiner Feldflasche.«

Da blickte ihn Lucretia liebevoll an, holte aus ihrem Gewande einen kleinen Silberbecher hervor und ließ ihn in seine Hand gleiten. – Es war das Becherlein, das ihr einst der Knabe zum Gegengeschenk für ihre kecke kindliche Wanderfahrt nach seiner Schule in Zürich gemacht und das sie nie von sich gelassen hatte. Jürg erkannte es sogleich, umfing die Knieende und zog sie mit einem innigen Kusse an seine Brust empor. Sie sah ihn an, als wäre dieser einzige Augenblick ihr ganzes Leben. Dann brachen ihr die Tränen mit Macht hervor. »Das war zum letzten Male, Jürg«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Jetzt mische mir den Becher, daß wir beide daraus trinken! Zum Abschiede! Dann laß meine Seele in Frieden!« –

Schweigend füllte er den Becher und sie tranken.

»Siehe dieses Rinnsal zwischen uns«, begann sie wiederum, »es wird unten zum reißenden Strome. So fließt das Blut meines Vaters zwischen dir und mir! Und überschreitest du es, so müssen wir beide darin verderben. – Sieh«, fuhr sie mit weicher Stimme fort und zog ihn neben sich auf den Felssitz, »als ich dich unten in den Händen der Häscher sah, hätt' ich dich lieber mit eigener Hand getötet, als dich ein schmähliches Ende nehmen lassen. Du hast mir das Recht dazu gegeben! Du bist mein eigen! Du bist mir verfallen. Aber ich glaube dir: diesem Boden, dieser geliebten Heimaterde bist du zuerst pflichtig. So gehe hin und befreie sie. Aber, Jürg, sieh mich niemals wieder! Du weißt nicht, was ich gelitten habe, wie sich mir alle Jugendlust und Lebenskraft in dunkle Gedanken und Entwürfe verwandelte, bis ich zu einem blinden, willenlosen Werkzeuge der Rache wurde. Hüte dich vor mir, Geliebter! Kreuze nie meinen Weg! Störe nie meine Ruhe!« –

So saßen die beiden in der Einöde.

Seit Jenatsch die Tochter des Herrn Pompejus bei der Herzogin wieder gesehen, war die in den Wagnissen und Verwilderungen eines stürmischen Kriegslebens nie ganz vergessene Liebe seiner Kindheit flammend aus der Asche erstanden, und mit ihr ein trotziger Geist der Empörung gegen sein Schicksal. Mit einer Bluttat, die dem Jüngling als Vollstreckung eines gerechten Volksurteils erschienen war und die der jetzt Gereifte und Welterfahrne als eine unnütze Befleckung seiner Hände verwünschte, hatte es ihn für immer geschieden von einem großen und hilfreichen Herzen, das von jeher sein eigen war.

Dieser Geist der Auflehnung und Verzweiflung reizte ihn jetzt, die als begehrenswertes Weib vor ihm stehende Lucretia um jeden Preis zu gewinnen, und wenn sie ihm verderblich werde, – denn er kannte sie – triumphierend mit ihr unterzugehen.

Aber er erdrückte den Dämon. Stand er nicht mitten in einem andern Kampfe, der den Einsatz des ganzen Mannes forderte und alle seine Kräfte und Leidenschaften in eine Anstrengung zusammenfaßte? Auch war seine Natur von jenem Stahl, der aus den Steinwänden der Unmöglichkeit immer wieder die hellen Funken der Hoffnung herausschlägt. Er war gewohnt, an nichts zu verzweifeln und nichts aufzugeben.

Konnte sich Lucretias Gemüt nicht wieder erhellen? War es gänzlich unmöglich das Vergangene zu sühnen durch Taten von ungewöhnlicher Größe? Mußte denn unabänderlich auf den liebsten Kampfpreis verzichtet sein im Augenblicke, da sich des Ruhmes glänzende Staffeln hart vor seinen Augen erhoben?

Auch war Lucretia heute so weich, und als sie ihm den kleinen Silberbecher in die Hand drückte, hatte ihn aus ihren vertrauensvollen braunen Augen das Mägdlein angeschaut, das ihn einst beim Kinderspiele zu seinem Beschützer und Hüter erkoren!...

So bezwang er mit starkem Willen seine Leidenschaft, legte ihr Haupt sanft an seine Brust, drückte noch einen leisen Kuß auf ihre Stirn und sagte, wie er vor vielen Jahren zu dem weinenden Mägdlein zu sagen pflegte, wenn sie sich einmal entzweit hatten: »Sei gut und stille, Kind! Der Friede ist geschlossen.« –

Lucretia hatte damit Ernst gemacht. Ruhe war über ihr Gemüt gekommen mit dem Gefühle, daß die Höhe des Lebens überstiegen und die Erinnerung ihr größter Besitz sei. Nun wohnte sie seit Monaten in den Klostermauern von Cazis. Das Wort des frommen Herzogs, daß es sicherer sei, Frevel durch Opfer der Liebe zu sühnen als durch neue Gewalttat, begann in ihrer gestillten Seele Wurzel zu schlagen. Wenn sie den Wunsch der Frauen von Cazis nicht erfüllte, so war der herüberschauende Turm von Riedberg daran schuld, der sie an ihre freien Kindertage erinnerte und ihr das unabhängige Leben einer Burgherrin im Ringe ihres Gesindes und ihrer Dorfleute vor Augen stellte. Sie sehnte sich nach den alten Schloßräumen, um darin den Haushalt ihres Vaters wieder aufzurichten. – Auch schlummerte, ihr unbewußt, ein anderer Widerspruch in ihrem Herzen: sie konnte der Welt nicht klösterlich entsagen, so lange Jürg in Taten schwelgte und immer größerer Kampfbahnen sich vor ihm aufschlossen.

In dem Meßbuche, welches aufgeschlagen neben dem Fräulein auf dem Sims lag, hatte der durch das offene Fenster spielende Bergwind schon lange ungestüm hin und her geblättert, ohne daß Lucretia es gewahrte. Jetzt aber wurde sie durch den Ton einer wohlbekannten Stimme aus ihren Träumen aufgeschreckt.

Sie trat an den Fensterbogen und erblickte neben der Pförtnerin die braune Kutte des Paters Pancraz. Sein keckes, sonneverbranntes Gesicht schaute diesmal noch zuversichtlicher als gewöhnlich in die Welt und er verlangte dringend ohne Aufschub vor das Fräulein geführt zu werden, dem er glückhafte Nachricht zu bringen habe.

Kurz darauf trat er ein und verkündete seine Botschaft: »Freuet Euch, Fräulein Lucretia! Ihr seid wieder Herrin von Riedberg. Es beginnen die verdienstlichen Werke, mit denen unser großer Oberst für seine alte, schwere Schuld Buße tut. – Morgen kommen die Staatskrägen von Chur, um die Siegel zu lösen und Euch das Haus Eurer Väter wieder aufzutun. Gott gebe Euch einen gesegneten Einzug.«


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