Casanova
Erinnerungen, Band 2
Casanova

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Unter den Bleidächern. – Erdbeben.

Wie kommt es, daß gewisse Worte eine eigentümliche Herrschaft auf die Seele ausüben? Wer kann diese Erscheinungen erklären? Noch am Tage vorher hatte ich mich so sehr mit meinem Mut gebrüstet und mich auf meine Unschuld berufen, aber das Wort Tribunal versteinerte mich, und ich hatte nur noch so viel Kraft, um mechanisch gehorchen zu können.

Mein Sekretär stand offen; alle meine Papiere lagen auf einem Tisch, den ich zum Schreiben benutzte.

»Nehmen Sie!« sagte ich zum Sendboten des furchtbaren Gerichtshofes, indem ich mit der Hand auf die Papiere zeigte, die den Tisch bedeckten. Er füllte damit einen Sack, den er einem Sbirren gab. Hierauf sagte er mir, ich hätte ihm auch die eingebundenen Manuskripte auszuliefern, die ich besitzen müßte, und ich zeigte ihm den Ort, wo sie lagen. Mir gingen die Augen auf. Ich sah jetzt klar und deutlich, daß der elende Manuzzi mich verraten hatte, der sich, wie ich vorhin erzählte, unter dem Vorwande, den Verkauf dieser Bücher vermitteln zu wollen, bei mir eingeschlichen hatte. Es waren der Schlüssel Salomonis, der Cecor-ben, die peccatrix, eine ausführliche Belehrung über die Planetenstunden, ferner die Beschwörungen, die erforderlich sein sollen, um mit den Dämonen der verschiedenen Rangstufen zu verkehren. Die Leute, welche wußten, daß ich diese Bücher besaß, hielten mich für einen großen Zauberer, und dies war mir nicht unangenehm.

Messer-Grande nahm auch die Bücher, die ich auf meinem Nachttisch hatte, darunter Petrarca, Ariosto, Horaz, den Philosophe militaire, ein Manuskript, das MatildaDieser Frauenname ist sehr rätselhaft; man möchte meinen, daß die Schenkerin des Manuskripts doch wohl nur M. M. sein könnte. Vielleicht war Matilda der Name, den sie in der Welt getragen hatte. Jedenfalls hieß sie im Kloster Maria Magdalena; dies steht durch das Zeugnis Bartholds, der in der Original-Handschrift die durchstrichenen, aber noch deutlich lesbaren Namen gesehen hat, unzweifelhaft fest. mir gegeben hatte, den Portier des Chartreux und den Aretin. Diesen hatte Manuzzi denunziert, denn Messer-Grande fragte mich ausdrücklich danach. Der Spion sah aus wie ein anständiger Mann, und dies ist eine notwendige Eigenschaft für das Geschäft, das er betrieb. Sein Sohn machte in Polen sein Glück, indem er eine Frau von Opeska heiratete, die er später ermordete. Dies behauptete man wenigstens. Beweise habe ich nicht dafür, und ich gehe sogar in der christlichen Liebe so weit, daß ich es nicht glaube, obgleich er der Tat sehr wohl fähig war.

Während Messer-Grande meine Handschriften, Bücher und Briefe einheimste, zog ich mich mechanisch an, weder schneller noch langsamer als sonst. Ich wusch, rasierte und kämmte mich, zog ein Spitzenhemd und meinen schönen Anzug an. Und dies alles tat ich, ohne mir etwas dabei zu denken und ohne ein Wort zu sagen. Messer-Grande, der mich nicht einen Augenblick aus den Augen ließ, hatte nichts dagegen, daß ich mich anzog, wie wenn ich zu einer Hochzeit ginge.

Als wir mein Zimmer verließen, sah ich zu meiner großen Überraschung etwa vierzig Sbirren im Vorzimmer: man hatte mir die Ehre erwiesen, diese Anzahl für notwendig zu halten, um sich meiner Person zu bemächtigen, während nach dem Satze: ne Hercules quidem contra duos, nur zwei nötig gewesen wären. Es ist eigentümlich, daß man in London, wo ein jeder tapfer ist, nur einen ausschickt, um einen Menschen zu verhaften, während man in meinem lieben Vaterlande, wo man im allgemeinen sehr feige ist, dreißig braucht. Vielleicht kommt es daher, daß ein Feigling als Angreifer mehr Furcht haben muß, als ein angegriffener Feigling; daher kann ein für gewöhnlich furchtsamer Mensch unter Umständen tapfer sein. Soviel ist sicher, daß man in Venedig oft einen einzelnen sich gegen zwanzig Sbirren verteidigen sieht, und daß er ihnen schließlich entrinnt, nachdem er sie tüchtig durchgebleut hat. Ich erinnere mich, daß ich in Paris einmal einem meiner Freunde half vierzig solchen Trabanten zu entkommen, und daß wir das ganze elende Gesindel in die Flucht schlugen.

Messer-Grande ließ mich in eine Gondel steigen und setzte sich neben mich; vier Mann nahm er als Schutzwache mit. In seinem Hause angelangt, bot er mir Kaffee an, den ich ablehnte; dann schloß er mich in ein Zimmer ein. Hier schlief ich vier Stunden, wachte aber jede Viertelstunde auf, um Wasser zu lassen. Dies war eine eigentümliche Erscheinung; denn ich litt durchaus nicht an Harnzwang, es war sehr heiß, und ich hatte am Tage vorher zu Abend gespeist. Ich hatte früher einmal die Erfahrung gemacht, daß eine Überraschung durch eine Gewaltmaßregel auf mich wie ein starkes Betäubungsmittel wirkte; jetzt aber bemerkte ich, daß eine Überraschung noch höheren Grades harntreibend wirkte. Ich schenke diese Entdeckung den Ärzten: vielleicht gelingt es irgend einem Gelehrten, sie zur Erleichterung der Menschheit zu verwerten. In Prag mußte ich vor sechs Jahren herzlich lachen, als ich hörte, daß einige sehr zart besaitete Damen sich darüber entrüstet hätten, daß ich in meiner Flucht aus den Bleikammern, die ich damals bereits veröffentlichte, diese Einzelheit mitgeteilt hätte, die ich nach ihrer Meinung sehr gut hätte auslassen können. Vielleicht hätte ich sie aber auch ausgelassen, wenn ich einer Dame die Geschichte erzählt hätte; aber das Publikum ist keine hübsche Frau, die ich zu schonen wünschen könnte; meine Absicht zielt auf Belehrung. Übrigens sehe ich nichts Unpassendes bei der von mir berichteten Tatsache; denn Männer wie Frauen sind diesem Bedürfnis unterworfen, gerade so wie sie essen und trinken müssen; und wenn dabei etwas für empfindliche Nerven anstößig sein könnte, so wäre es höchstens der für unsere Eitelkeit peinliche Gedanke, daß wir dies Bedürfnis mit Kühen und Säuen gemein haben.

Gegen drei Uhr trat der Sbirrenhäuptling ein und sagte mir, er habe Befehl, mich unter die Bleidächer zu bringen. Ohne ein Wort zu sagen, folgte ich ihm. Wir stiegen in eine Gondel und fuhren auf tausend Umwegen durch die kleinen Kanäle nach dem Großen Kanal. Am Gefängniskai stiegen wir aus. Nachdem wir mehrere Treppen hinaufgestiegen waren, gingen wir über eine geschlossene Brücke, die über den Rio di palazzo hinweg die Verbindung zwischen den Gefängnissen und dem Dogenpalast herstellt. Jenseits dieser Brücke befindet sich eine Galerie, die wir durchschritten. Dann kamen wir in ein Zimmer und von diesem in ein anderes, wo Messer-Grande mich einem Herrn vorstellte, der die Patrizierrobe trug. Dieser musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen und sagte dann zu ihm: è quello, mettetelo in deposito! – Er ists, bringt ihn in Gewahrsam!

Dieser Mann war der Sekretär der Inquisitoren, der wohlweise Domenico Cavalli, der sich augenscheinlich schämte, in meiner Gegenwart venetianisch zu sprechen, denn er gab seinen Befehl in toscanischer Mundart.

Messer-Grande übergab mich nun dem Gefängniswärter der Bleikammern, der mit einem ungeheuren Schlüsselbunde dabeistand. Unter der Bedeckung von zwei Häschern ließ er mich zwei kleine Treppen hinabsteigen, die auf einen Korridor führten; von diesem gelangten wir durch eine verschlossene Tür in einen zweiten Korridor, von diesem in einen dritten, an dessen Ende der Wächter wieder eine Tür aufschloß. Diese führte zu einem schmutzigen Dachboden, der sechs Klafter lang und zwei Klafter breit war und durch eine sehr hoch oben befindliche Dachluke sein Licht empfing. Ich hielt diese Dachkammer für mein Gefängnis, aber ich befand mich im Irrtum, denn der Wächter nahm einen riesenhaften großen Schlüssel und öffnete eine dick mit Eisen beschlagene Tür, die nur dreieinhalb Fuß hoch war und in der Mitte ein rundes Loch von acht Zoll im Durchmesser hatte, und befahl mir einzutreten. Ich war gerade damit beschäftigt, mir eine eiserne Maschine anzusehen, welche fest in die dicke Mauer eingelassen war. Diese Maschine hatte die Form eines Hufeisens, war ungefähr einen Zoll dick und von dem einen Ende zum andern etwa fünf Zoll breit. Ich dachte darüber nach, wozu wohl diese schreckliche Maschine gebraucht werden möchte, da sagte der Schließer lächelnd zu mir: »Ich sehe, mein Herr, Sie möchten gerne wissen, wozu dieser Apparat dient, und ich kann Ihren Wunsch erfüllen. Wenn ihre Exzellenzen befehlen, daß irgend jemand erdrosselt werden soll, läßt man ihn, mit dem Rücken gegen dieses Halseisen, sich auf einen Schemel setzen; der Kopf befindet sich in einer solchen Lage, daß das Eisen die Hälfte seines Halses umspannt. Die andere Seite wird von einer Schnur umspannt, die durch dieses Loch läuft; die beiden Enden sind an der Achse eines Drehrades befestigt, und ein Mann dreht dieses Rad, bis der Patient seine Seele unserm Herrn und Gott übergeben hat, denn der Beichtvater geht Gott sei Dank nicht von seiner Seite, bis er den letzten Atemzug getan hat.«

»Das ist sehr sinnreich, und ich denke mir, daß Sie der Mann sind, der die Ehre hat, das Rad zu drehen.«

Er antwortete mir nicht, sondern winkte mir nur, ich solle eintreten. Dies tat ich, indem ich mich halb bis zur Erde bückte. Er schloß mich ein und fragte mich dann durch das vergitterte Loch in der Tür, was ich essen wolle. »Ich habe noch nicht daran gedacht,« antwortete ich ihm. Hierauf entfernte er sich, indem er sorgfältig alle Türen verschloß.

Niedergeschlagen und halb betäubt stützte ich meine Ellenbogen auf die Brüstung des vergitterten Zellenfensters. Diefes war zwei Fuß hoch und ebenso breit; sechs Zoll dicke Eisenstangen kreuzten sich und bildeten sechzehn Öffnungen von etwa fünf Zoll im Geviert. Durch diese Offnung wäre mein Gefängnis ziemlich hell gewesen, aber ein anderthalb Fuß breiter Balken vom Dachgerüst befand sich unterhalb der Dachluke, die ich schräg gegenüber hatte, und fing das Licht ab, das ich von dem abscheulichen Dachboden her hätte erhalten können. Ich untersuchte beinahe tastend dieses traurige Loch, wobei ich den Kopf gesenkt halten mußte, denn es war nur fünfeinhalb Fuß hoch. Ich fand, daß es dreiviertel eines Quadrates von zwei Klaftern bildete. Das fehlende vierte Viertel wurde durch eine Art von Alkoven eingenommen, worin ein Bett stehen konnte; aber ich fand weder Bett noch Tisch noch Stuhl, noch überhaupt ein Möbel irgendwelcher Art, mit Ausnahme eines Kübels, dessen Zweck der Leser erraten kann, und eines an der Wand angebrachten Brettes, das einen Fuß breit war und sich vier Fuß hoch über dem Fußboden befand. Auf dieses Brett legte ich meinen Mantel von matter Seide, meinen so unglücklich eingeweihten Rock und meinen Hut, der mit spanischen Spitzen eingefaßt war und eine schöne weiße Feder trug. Die Hitze war fürchterlich und der Instinkt führte mich mechanisch an das kleine Gitterfenster, das die einzige Stelle war, wo ich meine Ellbogen aufstützen konnte. Die Dachluke konnte ich nicht sehen, aber in dem Licht, das durch diese Luke in den Dachboden fiel, sah ich Ratten von fürchterlicher Größe, die da nach Herzenslust herumspazierten; denn die häßlichen Tiere, deren Anblick mir verhaßt ist, kamen ohne die geringste Angst bis unter mein Gitterfenster. Bei diesem unangenehmen Anblick schloß ich schnell mittels eines inneren Ladens das runde Loch in der Mitte der Tür, denn bei einem Besuch von ihnen wäre mir das Blut erstarrt. Ich versank in die tiefste Träumerei, meine Arme auf die Fensterbrüstung aufgestützt. So verbrachte ich acht Stunden schweigend, ohne eine Bewegung zu machen.

Beim Klang der Uhr, die die einundzwanzigste Stunde anzeigte, erwachte ich; ich wurde etwas unruhig, daß niemand kam, um mir etwas zu essen zu bringen und mir meine Sachen und die Möbel zu besorgen, die ich brauchte, um schlafen zu können. Mir schien, man hätte mir doch mindestens einen Stuhl, Brot und Wasser bringen müssen. Ich hatte keinen Appetit; aber konnte man das wissen? Und niemals in meinem Leben war mir der Mund so trocken und so bitter gewesen. Ich war jedoch überzeugt, daß vor Einbruch der Nacht irgend jemand erscheinen würde; als ich es aber vierundzwanzig schlagen hörte, wurde ich wütend; ich trommelte mit den Fäusten und stieß mit den Füßen gegen die Tür, fluchte und schrie. Nachdem ich dies länger als eine Stunde getrieben hatte, sah ich noch immer keinen Menschen und hatte nicht einmal ein Anzeichen, ob irgend einer mein Geschrei gehört hatte. Dichte Finsternis umgab mich. Aus Furcht, daß die Ratten in mein Gefängnis springen könnten, schloß ich das Gitterfenster und warf mich dann der Länge nach auf den Fußboden. Eine so grausame Vernachlässigung schien mir nicht natürlich zu sein, und ich kam zu dem Schluß, die barbarischen Inquisitoren hätten mir den Tod geschworen. Ich brauchte nicht länger darüber nachzudenken, womit ich eine so elende Behandlung verdient haben könnte; denn so sorgfältig ich auch meine Handlungen prüfte, so fand ich doch nicht den geringsten Anhaltspunkt. Ich war Wüstling, Spieler, kühn in meinen Worten und dachte grundsätzlich nur daran, mein Leben zu genießen; aber in all diesem sah ich kein Staatsverbrechen. Trotzdem sah ich mich wie einen Verbrecher behandelt, und in meiner Wut und Verzweiflung brauchte ich gegen die fürchterliche Tyrannei, die mich verfolgte, Ausdrücke, die zu erraten ich meinen Lesern überlassen muß, da der Anstand mir verbietet, sie hier zu wiederholen. Aber trotz der Aufregung, trotz dem Hunger, der sich fühlbar zu machen begann, trotz dem Durst, der mich verzehrte, trotz der Härte des Fußbodens, auf dem ich ausgestreckt war, forderte die erschöpfte Natur ihre Rechte, und ich schlief ein. Mein kräftiger Körper brauchte Schlaf; bei einem jungen und gesunden Menschen treten vor diesem gebieterischen Bedürfnis alle anderen zurück, und besonders in dieser Hinsicht kann man den Schlaf den Wohltäter der Menschheit nennen.

Ich erwachte, als es Mitternacht schlug. Wie furchtbar ist das Erwachen, wenn es einen aus den Illusionen des Nichts reißt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich drei Stunden verbracht hatte, ohne irgend einen Schmerz zu empfinden. Ich lag auf der linken Seite; ohne mich im übrigen zu rühren, streckte ich die rechte Hand aus, um mein Taschentuch zu erfassen, das ich, wie ich mich erinnerte, links von mir auf den Boden gelegt hatte. Ich taste danach – Gott! welche Überraschung! Meine Hand ergreift eine andere eiskalte Hand! Der Schreck durchfuhr mich vom Kopf bis zu den Füßen und mir standen die Haare zu Berge.

Nie in meinem ganzen Leben ist mir ein solcher Schreck in die Seele gefahren; niemals hätte ich geglaubt, daß ich eine solche Angst haben könnte. Drei oder vier Minuten lag ich in einer Art von Betäubung, ich konnte mich nicht nur nicht bewegen, sondern nicht einmal denken. Als ich wieder etwas zu mir selbst gekommen war, glaubte ich, die Hand, die ich zu berühren gemeint hatte, könnte doch wohl nur in meiner erhitzten Phantasie vorhanden sein. In dieser Hoffnung streckte ich abermals die Hand aus – und fand wieder dieselbe kalte Hand. Entsetzt stieß ich einen gellenden Schrei aus; ich schob die Hand, die ich hielt, zur Seite, und zog schaudernd meinen Arm zurück.

Bald jedoch wurde ich etwas ruhiger und konnte nachdenken. Ich kam zu dem Schluß, man müßte während meines Schlafes einen Leichnam an meiner Seite niedergelegt haben. Daß er nicht dagewesen war, als ich mich hingelegt hatte, wußte ich bestimmt. »Es wird«, sagte ich zu mir selber, »der Leichnam irgend eines Unglücklichen sein, den man erdrosselt hat, und man will mir auf diese Art das Schicksal zeigen, das auch mir bevorsteht. Dieser Gedanke brachte mich außer mir; ich wurde wild; an Stelle der Furcht trat die Wut, und ich streckte zum dritten Male meinen Arm nach der eisigen Hand aus. Ich packte sie fest, um mich von der abscheulichen Tatsache völlig sicher zu überzeugen. Ich wollte aufstehen; ich stützte mich auf meinen linken Ellbogen und fühlte, daß die Hand, die ich hielt, meine eigene war. Sie war von dem Gewicht meines Körpers und von der Härte des Fußbodens, der mir als Bettpfühl diente, völlig abgestorben und hatte Wärme, Beweglichkeit und Empfindung verloren.

Dieses Erlebnis hatte zwar etwas Komisches an sich, aber es erheiterte mich keineswegs; es rief vielmehr die schwärzesten Gedanken in mir wach. Ich bemerkte, daß ich an einem Ort war, wo die Wahrheit falsch erscheinen müßte, da ja das falsche wahr erschien; wo der Verstand die Hälfte seiner Rechte verlor, und wo durch die krankhafte Phantasie die Vernunft entweder einer wesenlosen Hoffnung oder einer entsetzlichen Verzweiflung zum Opfer fallen mußte. Ich beschloß, in dieser Beziehung auf meiner Hut zu fein, und rief zum erstenmal in meinem Leben, im Alter von dreißig Jahren, die Philosophie zu Hilfe. Wohl trug ich alle ihre Keime in meiner Seele, aber ich hatte bis dahin nicht nötig gehabt, von ihr Gebrauch zu machen.

Ich glaube, die meisten Menschen sterben, ohne jemals gedacht zu haben, und daran ist nicht sowohl Mangel an Geist und Vernunft schuld, sondern es ist eben einfach der notwendige Anstoß zur Erweckung der Denkfähigkeit niemals durch ein außerordentliches Ereignis hervorgebracht worden, das sie aus ihren Alltagsgewohnheiten herausreißt.

Nach der gehabten Aufregung war an Schlaf nicht mehr zu denken. Aber warum hätte ich aufstehen sollen? Ich konnte ja wegen der niedrigen Decke nicht gerade stehen. Ich faßte also den Entschluß, der unter den obwaltenden Umständen der einzige vernünftige war, und blieb sitzen. So saß ich bis etwa vier Uhr morgens, als das Dämmerlicht des jungen Tages erschien. Um fünf sollte die Sonne aufgehen, und ich sehnte mich nach dem Tage; ein Vorgefühl, das ich für untrüglich hielt, sagte mir, daß man mich entlassen würde. Ich brannte vor Begier nach Rache; dies verhehlte ich mir nicht. Ich sah mich an der Spitze des Volkes die Regierung stürzen, die mich vergewaltigt; erbarmungslos metzelte ich alle Aristokraten nieder, alles mußte zu Staub zerrieben werden. Ich raste im Fieberwahn. Ich kannte die Urheber meiner Leiden und zerstörte in Gedanken die Quelle, aus der sie entsprang. Ich stellte das Naturrecht wieder her, wonach alle Menschen nur dem Gesetz gehorchen müssen und nur von ihresgleichen auf Grund der von ihnen anerkannten Gesetze gerichtet werden können; mit einem Wort: ich baute Luftschlösser. So geht es dem Menschen, wenn eine große Leidenschaft ihn bewegt. Er merkt es nicht, daß das, was ihn so in Bewegung setzt, nicht die Vernunft, sondern sein größter Feind, der Zorn ist.

Ich brauchte weniger lange zu warten, als ich selber angenommen hatte, und dies beruhigte mich schon ein wenig. Um halb fünf wurde die tiefe Stille des Ortes, einer wahren Hölle für lebende Menschen, durch das Kreischen von Riegeln unterbrochen: man öffnete die Türen der Gänge, die man durchschreiten mußte, um bis zu mir zu gelangen.

»Haben Sie nun Zeit gehabt, sich zu überlegen, was Sie essen wollen?« rief die rauhe Stimme meines Kerkermeisters mir durch das Guckloch zu.

Man ist sehr glücklich, wenn die Unverschämtheit eines gemeinen Menschen sich nur unter der Maske von Spott und Hohn zeigt. Ich antwortete ihm, ich wünschte eine Reissuppe, Kochfleisch, Braten, Brot, Wein und Wasser. Ich bemerkte, daß der Lümmel erstaunt war, nicht die Klagen zu hören, die er erwartet hatte. Er ging und kam eine Viertelstunde darauf wieder, um mir zu sagen: »Ich wundere mich, daß Sie nicht ein Bett und die notwendigen Möbel haben wollen; denn wenn Sie sich einbilden, man habe Sie nur für eine Nacht hierher gebracht, so irren Sie sich.«

»Bringen Sie mir also alles, was Sie für notwendig halten.«

»Wo soll ich es holen? Da haben Sie Bleistift und Papier: schreiben Sie alles auf.«

Ich schrieb ihm auf, wo er mir Hemden, Strümpfe, Kleider aller Art, ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl holen sollte; außerdem verlangte ich die Bücher, die Messer-Grande mir abgenommen hatte, Papier, Federn usw. Als ich ihm dies alles vorgelesen hatte – denn der Kerl konnte nicht lesen – sagte er zu mir: »Streichen Sie aus, Herr, streichen Sie aus! Streichen Sie Bücher, Papier, Federn, Spiegel, Rasiermesser! Dies alles ist hier verbotene Ware. Dann geben Sie mir Geld, um Ihr Mittagessen zu kaufen.«

Ich hatte drei Zechinen bei mir; davon gab ich ihm eine, und er ging. Er war eine Stunde lang, wie ich später erfuhr, in den verschiedenen Gängen beschäftigt, sieben andere Gefangene zu bedienen, die alle voneinander getrennt saßen, um jeden Verkehr zwischen ihnen unmöglich zu machen.

Gegen Mittag kam der Schließer wieder; bei ihm befanden sich fünf Gefängnisknechte, die die Staatsgefangenen zu bedienen hatten. Er öffnete meinen Kerker, damit die von mir verlangten Möbel und mein Mittagessen hineingebracht werden konnten. Das Bett wurde im Alkoven untergebracht, und mein Essen auf einen kleinen Tisch gestellt; mein Besteck bestand aus einem Elfenbeinlöffel, den er für mein Geld gekauft hatte; Gabel, Messer und alle schneidenden Werkzeuge waren verboten. Zum Schluß sagte er mir: »Bestellen Sie, was Sie morgen essen wollen; denn ich kann nur einmal täglich, gleich nach Sonnenaufgang hierher kommen. Der hochedle Sekretär hat mir befohlen, Ihnen zu sagen, er werde Ihnen passende Bücher schicken; die von Ihnen gewünschten sind verboten.«

»Danken Sie ihm für die Gnade, daß er mich in ein Gefängnis allein gesetzt hat.«

»Ich werde tun, was Sie wünschen; aber Sie haben unrecht, daß Sie sich auf solche Weise über ihn lustig machen.«

»Ich mache mich nicht lustig; ich denke es ist doch wohl besser allein zu sein, als mit den Verbrechern zusammen zu sitzen, die sich hier oben befinden müssen.«

»Wie, Herr, Verbrecher? Dafür würde ich mich bedanken! Hier sind nur ehrenwerte Leute, die man allerdings aus Gründen, die nur Ihren Exzellenzen bekannt sind, von der Gesellschaft getrennt halten muß. Man hat Sie allein gesetzt, um Sie noch härter zu bestrafen. Wollen Sie wirklich, daß ich in Ihrem Namen dafür danken soll?«

»Das wußte ich nicht.«

Der Dummkopf hatte recht; dies merkte ich sehr bald. Ein Mensch der allein eingesperrt ist, hat keine Möglichkeit, sich zu beschäftigen. Wenn man an einem dunklen Ort allein ist, wo man nicht sehen kann, wohin nur einmal am Tage der Mann kommt, der das Essen bringt, wo man nur in gebückter Haltung herumgehen kann, dann ist man der allerunglücklichste Mensch. Man wünscht sich, wenn man daran glaubt, in die Hölle, nur um Gesellschaft zu haben. Dieses Gefühl ist so gebieterisch, daß ich schließlich mir sogar einen Mörder, einen Pestkranken, einen Bären als Kerkergenossen wünschte. Einsamkeit hinter Schloß und Riegel bringt einen Menschen zur Verzweiflung; aber um an die Wahrheit dieses Satzes zu glauben, muß man vielleicht selber die Erfahrung gemacht haben. Und solche Erfahrung zu machen, möchte ich selbst meinen Feinden nicht wünschen. Wenn ein wissenschaftlich gebildeter Mensch in meiner Lage Federn, Tinte und Papier erhält, vermindert sich sein Unglück um neun Zehntel; aber die Henker, die mich verfolgten, dachten nicht daran, mir Erleichterungen zu bewilligen.

Als der Schließer fort war, stellte ich meinen Tisch unter das Loch, um ein wenig Licht zu haben, und setzte mich zum Essen hin, aber es war mir nicht möglich, mehr als ein paar Löffel Suppe hinunterzubringen. Ich war seit fast achtundvierzig Stunden nüchtern, und so war es nicht zu verwundern, daß ich krank war. Ich verbrachte den ganzen Tag in meinem Lehnstuhl sitzend und dachte nur an die Bücher, die man mir gnädigst versprochen hatte. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge schließen, denn die Ratten machten einen entsetzlichen Lärm, und die Turmuhr von San Marco schlug so betäubend laut, daß ich glaubte, sie müßte in meinem Zimmer sein. Diese doppelte Qual war aber nicht die einzige, die ich zu ertragen hatte. Ich glaube, wohl wenige Leser können sich einen Begriff von dem machen, was ich jetzt berichten will: Tausende von Flöhen belustigten sich an meinem ganzen Leibe. Die kleinen Insekten saugten mir mit unbeschreiblicher Hartnäckigkeit und Begier das Blut aus. Von ihren unaufhörlichen Stichen bekam ich geradezu Krämpfe; sie vergifteten mein ganzes Blut.

Mit Tagesanbruch kam Lorenzo – so hieß mein Kerkermeister – ließ mein Bett machen und das Zimmer ausfegen und reinigen. Einer seiner Sbirren reichte mir Wasser, um mich zu waschen. Ich wollte in die Dachkammer hinausgehen, aber Lorenzo sagte mir, das sei nicht erlaubt. Er gab mir zwei dicke Bücher. Ich öffnete sie nicht, weil ich nicht sicher war, daß ich eine erste Regung des Unwillens hätte unterdrücken können, zu der sie mich vielleicht gereizt hätten, und die der Spion selbstverständlich seinen Herren hinterbracht hätte. Er ging, nachdem er mir mein Essen und zwei zerschnittene Zitronen hingesetzt hatte.

Sobald ich allein war, aß ich schnell meine Suppe, um sie warm zu bekommen; hierauf trat ich mit einem Buch an meine Luke und sah mit Vergnügen, daß es mir möglich sein konnte, zu lesen. Ich sah mir den Titel an; er lautete: »Die mystische Stadt der Schwester Maria des Jesus, genannt d'Agrada«. Ich hatte keinen Begriff, was dies für ein Buch sein konnte. Das zweite war von einem Jesuiten namens Caravita. Dieser Jesuit, ein Heuchler, wie alle seinesgleichen, empfahl eine neue Anbetung zum heiligen Herzen unseres Herrn Jesu Christi. Von allen menschlichen Teilen unseres göttlichen Befreiers mußte man nach der Meinung des Verfassers gerade diesen besonders anbeten. Eigentümliche Idee eines unwissenden Narren, über die ich mich von der ersten Seite an ärgerte; denn das Herz schien mir kein ehrwürdigeres Eingeweide zu sein als Lunge, Magen oder irgend ein anderer Teil. Die mystische Stadt interessierte mich ein wenig.

Ich las alles, was die aufgeregte Phantasie einer spanischen Jungfrau nur hervorbringen kann – einer spanischen Jungfrau, die über alle Maßen fromm, melancholisch, in der Einsamkeit ihres Klosters nur unwissende, heuchlerische, bigotte Pfaffen zu Ratgebern ihres Gewissens hatte. Alle ihre phantastischen und ungeheuerlichen Visionen waren mit dem schönen Namen Offenbarungen geschmückt. Als Liebhaberin und besonders innige Freundin der heiligen Jungfrau hatte sie von Gott selber den Befehl erhalten, das Leben seiner göttlichen Mutter zu beschreiben. Die erforderlichen Anweisungen, die kein Mensch irgendwo gelesen haben konnte, waren ihr vom Heiligen Geist erteilt worden.

Sie begann das Leben Mariens nicht mit dem Tage ihrer Geburt, sondern mit dem ihrer unbefleckten Empfängnis im Schoße ihrer Mutter Anna. Diese Schwester Maria d'Agrada war Oberin eines Franziskanerinnenklosters, das sie selber in ihrer Vaterstadt gegründet hatte. Nachdem sie ausführlich alles erzählt hat, was ihre göttliche Heldin in den neun Monaten tat, die sie im Mutterleib verbrachte, teilt sie uns mit, daß sie im Alter von drei Jahren das Haus gefegt hätte. Dabei hätten ihr neunhundert Bediente geholfen, lauter Engel, die Gott selber zu diesem Dienst bestimmt hätte. Diese Engel standen unter dem besonderen Befehl ihres Fürsten Michael, der den Verkehr von ihr zu Gott und von Gott zu ihr besorgte.

Das Erstaunliche an diesem Buche ist, daß der urteilsfähige Leser stets die Überzeugung haben muß, daß die mehr als fanatische Verfasserin nichts erfunden hat, denn so weit kann die Erfindung nicht gehen: alles ist in gutem Glauben, aus voller Überzeugung gesagt. Es sind Visionen eines überspannten Gehirns, das ohne einen Schatten von Stolz, trunken von Gott, nichts weiter zu enthüllen glaubt, als was der heilige Geist ihr eingibt.

Dieses Buch war mit Erlaubnis der allerheiligsten und allerschrecklichsten Inquisition gedruckt. Ich konnte mich vor Erstaunen nicht fassen. Das Werk erregte oder vermehrte in meinem Geist durchaus keine fromme Glut oder auch nur einen einfachen Glaubenseifer, sondern veranlaßte mich im Gegenteil, alle, überhaupt alle unsere mystischen und sogar unsere dogmatischen Überlieferungen für Fabeln zu halten.

Bücher wie dieses können nicht ohne Wirkung bleiben, denn z. B. ein Leser, dessen Geist für Eindrücke empfänglicher und mehr als der meinige dem Wunderbaren zugänglich ist, läuft Gefahr, Geisterseher und Graphomane zu werden, wie diese arme Jungfrau.

Da ich mich mit irgend etwas beschäftigen mußte, so verbrachte ich eine volle Woche über diesem Meisterwerk der Unvernunft, das aus einem überspannten Gehirn hervorgegangen war. Ich hütete mich wohl, dem Schließer etwas über das schöne Werk zu sagen, aber ich begann allmählich mich selber davon beeinflußt zu fühlen.

Sobald ich einschlief, spürte ich die Pest, womit Schwester d'Agrada meinen Geist ansteckte, der von Melancholie, schlechter Nahrung, Mangel an Luft und Bewegung und von der entsetzlichen Ungewißheit über das mir Bevorstehende geschwächt war. Über meine tollen Träume mußte ich lachen, wenn ich beim Erwachen mich ihrer erinnerte. Hätte ich das notwendige Schreibzeug gehabt, so würde ich sie aufgezeichnet haben, und vielleicht hätte ich in meinem Kerker ein Werk geschaffen, das noch verrückter gewesen wäre, als das von Herrn Cavalli so sinnreich für mich ausgewählte.

Durch diese Erfahrung habe ich erkannt, wie sehr diejenigen sich täuschen, die dem menschlichen Geist eine gewisse positive Kraft zuschreiben; diese Kraft ist nur verhältnismäßig, und wenn ein Mensch sich selber gründlich beobachtete, würde er nur Schwäche in sich entdecken. Ich sah, daß der Mensch wohl wahnsinnig werden kann, obgleich es selten geschieht; denn unsere Vernunft gleicht dem Pulver, das zwar sehr leicht entzündlich ist, aber dennoch sich niemals entzündet, wenn es nicht mit einem Funken in Berührung kommt; das Buch der Spanierin besitzt alle Eigenschaften, um einen Menschen verrückt zu machen; aber damit das Gift diese Wirkung auf ihn übe, muß man ihn isolieren, – unter die Bleidächer stecken – und ihm jede andere Beschäftigung rauben.

Als ich im November 1767 von Pampeluna nach Madrid reiste, hielt mein Fuhrmann Andrea Capello zum Mittagessen in einer Stadt von Alt-Castilien an. Ich fand sie so traurig und so häßlich, daß ich Lust bekam, ihren Namen zu erfahren. O! wie herzlich mußte ich lachen, als man mir sagte, es sei die Stadt Agrada.

Hier also, sagte ich zu mir, hat das Gehirn der verrückten Heiligen das wunderbare Meisterwerk ausgeheckt, das ich ohne Herrn Cavalli niemals kennen gelernt hätte! Ein alter Priester, dem ich sofort die größte Achtung einflößte, als ich ihn nach der wahrheitsliebenden Geschichtsschreiberin der Muttergottes befragte, zeigte mir sogar den Ort, wo sie geschrieben hatte, und versicherte mir, Vater, Mutter, Schwester und alle Anverwandten der seligen Biographin seien lauter sehr große Heilige gewesen. Er sagte mir – und es war wahr, – daß die spanische Regierung in Rom ihre Heiligsprechung zugleich mit der des ehrwürdigen Palafox betreibe. Vielleicht war es diese mystische Stadt, die den Pater Malagrida das notwendige Talent verlieh, um das Leben der heiligen Anna zu schreiben, das ebenfalls vom heiligen Geist ihm diktiert wurde. Aber der arme Teufel von einem Jesuiten mußte dafür das Martyrium erleiden. Ein Grund mehr, um ihm die Heiligsprechung zu verschaffen, falls jemals die schreckliche Gesellschaft wieder auferstehen und zu der Allmacht gelangen sollte, die das geheime Ziel ist, wonach sie strebt.

Nach neun oder zehn Tagen hatte ich kein Geld mehr. Lorenzo verlangte welches von mir. »Ich habe keins!«

»Wo soll ich welches holen?«

»Nirgendwo.«

Was diesem unwissenden, habsüchtigen, schwatzhaften und neugierigen Menschen an mir auffiel, war mein Schweigen und meine Einsilbigkeit.

Am nächsten Tage sagte er mir, das Tribunal bewillige mir täglich fünfzig Soldi; das Geld bleibe in seinen Händen, aber er würde mir jeden Monat Rechenschaft ablegen und den Überschuß nach meinem Wunsch verwenden.

»Du wirst mir wöchentlich zweimal die Leydener Zeitung bringen.«

»Unmöglich! das ist nicht erlaubt.«

Fünfundsiebzig Lire monatlich waren mehr als ich brauchte, da ich nicht mehr essen konnte: die ungeheure Hitze und die durch schlechte Ernährung verursachte Erschöpfung hatten mich ganz entkräftet.

Wir befanden uns in den Hundstagen: die Sonnenstrahlen fielen mit solcher Gewalt auf meinen Kerker, daß ich mich wie in einer Badestube befand. Der Schweiß rann an meinem armen Leibe rechts und links von dem Lehnstuhl, auf dem ich ganz nackt sitzen mußte, auf den Fußboden hinunter.

Seit vierzehn Tagen schmachtete ich in dieser Hölle und hatte noch nicht eine einzige Darmentleerung gehabt. Nach Verlauf dieser fast unglaublichen Zeit verlangte die Natur nach ihrem Recht, und ich glaubte, mein letztes Stündlein sei gekommen. Die Hämorrhoidaladern waren derart angeschwollen, daß ihre Spannung mir unerträgliche stechende Schmerzen verursachte. Ich verdankte diesem traurigen Aufenthalt die Entwicklung des schmerzhaften Leidens, dessen Heilung mir seitdem niemals gelungen ist. Dieselben Schmerzen stellen sich von Zeit zu Zeit wieder ein, wenngleich weniger heftig; sie erinnern mich an die Ursache und tragen nicht dazu bei, mir die Erinnerung an diese Zeit angenehm zu machen. Wenn die Heilkunde uns nicht die Mittel lehrt, um alle Leiden zu heilen, so gibt sie uns dafür sichere Mittel an die Hand, uns Leiden von mehr als einer Art zuzuziehen. Diese Krankheit trug mir in Rußland Komplimente ein; dort legt man so großen Wert auf sie, daß ich mich nicht darüber zu beklagen wagte, als ich mich zehn Jahre später in jenem Lande aufhielt. Ganz ähnliches war mir in Konstantinopel begegnet; als ich einmal einen Schnupfen hatte und in Gegenwart eines Türken darüber klagte, stellte er die Betrachtung an, daß ein Christenhund eines solchen Glückes nicht würdig sei.

Am fünfzehnten Tage befiel mich ein heftiges Fieber, und ich blieb im Bett liegen. Ich sagte Lorenzo nichts davon; als er aber am übernächsten Tage das ganze Essen, das er mir gebracht hatte, unberührt fand, fragte er mich, wie es mir ginge.

»Sehr gut.«

»Das ist nicht möglich, Herr, denn Sie essen nicht. Sie sind krank, und Sie werden die Großmut des Tribunals erkennen, das Ihnen Arzt, Wundarzt und Medizin umsonst besorgen wird.«

Er ging und kam drei Stunden darauf ohne seine Trabanten wieder. Er trug eine Kerze in der Hand, und ihm folgte eine würdevolle Persönlichkeit: der Arzt. Ich lag in der Glut des Fiebers, das mich seit drei Tagen nicht verlassen hatte. Er trat an mein Bett und befragte mich. Ich sagte ihm, mit meinem Beichtvater und mit meinem Arzt spräche ich nur unter vier Augen. Der Doktor sagte zu Lorenzo, er solle hinausgehen, aber der Argus weigerte sich dessen. Nun ging der Arzt, in dem er mir sagte, ich sei in Lebensgefahr. Dies wünschte ich gerade; denn so wie es war, war das Leben nicht das höchste Gut für mich. Übrigens empfand ich eine gewisse Genugtuung in dem Gedanken, daß dadurch meine unbarmherzigen Verfolger vielleicht gezwungen wären, einzusehen, wie unmenschlich und schauderhaft die Behandlung war, mit der sie mich bedachten.

Vier Stunden darauf hörte ich abermals das Geräusch der Riegel, und der Arzt trat wieder ein. Diesmal trug er selber die Kerze und Lorenzo blieb draußen. Ich war so schwach, daß ich meiner Schwäche eine wirkliche Ruhe verdankte. Die wohltätige Natur hat den wirklich kranken Menschen von den Qualen der Langeweile befreit.

Ich war entzückt, daß mein niederträchtiger Kerkermeister draußen blieb; denn seitdem er mir das Halseisen erklärt hatte, verabscheute ich ihn.

Ich brauchte keine Viertelstunde, um den Doktor von allem zu unterrichten.

»Wenn Sie wieder gesund werden wollen,« sagte er zu mir, »dürfen Sie nicht mehr traurig sein.«

»Schreiben Sie das Rezept und tragen Sie es zu dem einzigen Apotheker, der es anfertigen kann. Herr Cavalli ist der schlechte Arzt, der mir das »Herz Jesu« und die »Mystische Stadt« gegeben hat.«

»Es ist sehr wohl möglich, daß Sie diesen beiden Giften das Fieber und die Hämorrhoiden verdanken. Ich werde Sie nicht verlassen.«

Er ging erst, nachdem er eigenhändig eine sehr schwache Limonade zubereitet hatte, von der er mich aufforderte, recht oft zu trinken. Ich verbrachte die Nacht in halber Betäubung und träumte von tausend mystischen Dummheiten.

Am nächsten Morgen kam er wieder mit Lorenzo und einem Wundarzt, der mir die Ader schlug. Er gab mir eine Flasche Fleischbrühe und eine Arznei, die ich am Abend einnehmen sollte.

»Ich habe die Erlaubnis erhalten,« sagte er mir, »Sie in den Dachraum bringen zu lassen, wo die Hitze weniger stark und die Luft nicht so stickig ist wie hier.«

»Ich verzichte auf diese Gnade, denn ich verabscheue diese Ratten, die Sie nicht kennen und die gewiß in mein Bett kommen würden.«

»Welches Elend! Ich habe Herrn Cavalli gesagt, daß er Sie mit seinen Büchern beinahe getötet hätte; er hat mich beauftragt, sie ihm zurückzubringen und Ihnen dafür den Boëtius zu geben. Hier ist er.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür; er ist besser als Seneca: er wird mir wohltun.«

»Ich lasse Ihnen Gerstenwasser hier und ein sehr notwendiges Instrument; sehen Sie zu, daß Sie wieder gesund werden.«

Er machte mir vier Besuche und brachte mich glücklich durch. Mein Temperament tat das übrige, und bald kehrte der Appetit zurück. Zu Anfang des September befand ich mich vollständig wohl; mich quälten keine anderen leiblichen Leiden als die fürchterliche Hitze, das Ungeziefer und die Langeweile – denn ich konnte nicht fortwährend Boetius lesen.

Eines Tages sagte Lorenzo zu mir, ich hätte die Erlaubnis, meinen Kerker zu verlassen, um mich draußen zu waschen, während man mein Bett machte und ausfegte. Ich benutzte diesen Gnadenbeweis, um während der zehn Minuten, die das Aufräumen dauerte, mir Bewegung zu machen. Da ich sehr schnell hin und her lief, hatten die Ratten Angst und wagten sich nicht zu zeigen. An demselben Tage legte Lorenzo mir Rechenschaft über mein Geld ab; er war mir dreißig Lire schuldig, die ich leider nicht in die Tasche stecken durfte. Ich ließ sie ihm, indem ich ihm sagte, er solle dafür Messen für mich lesen lassen. Ich war überzeugt, daß er einen ganz anderen Gebrauch davon machen würde, und er dankte mir in einem Tone der Befriedigung, dem ich entnahm, daß er selber der Priester sein würde. Ebenso machte ich es jeden Monat, und ich habe niemals eine Quittung von einem Meßprediger gelesen. Lorenzo hatte Recht, daß er das Opfer in der Schenke vornahm; so hatte das Geld doch für einen Nutzen.

Ich lebte so in den Tag hinein. Jeden Abend tröstete ich mich mit der Hoffnung, daß man mir am nächsten Tage meine Freiheit wiedergeben würde. Als ich mich jeden Tag in meiner Erwartung getäuscht sah, kam mein armer Kopf auf den Gedanken, es werde unfehlbar am ersten Oktober geschehen. An diesem Tage begann nämlich die Herrschaft der neuen Inquisitoren. Nach dieser schönen Berechnung mußte meine Haft bis zum Abgang der gegenwärtigen Inquisitoren dauern: aus diesem Grunde hatte ich niemals den Sekretär gesehen, der sonst ohne Zweifel mich besucht hätte, um mich zu verhören, auszuforschen, meiner Verbrechen zu überführen und schließlich mir mein Urteil zu verkünden. Gegen dies alles schien mir kein Einwand möglich, weil alles natürlich war; aber dieser Schluß war falsch unter den Bleidächern, wo nichts nach der natürlichen Beobachtung vor sich geht. Ich bildete mir ein, die Inquisitoren müßten meine Unschuld und ihre Ungerechtigkeit eingesehen haben und behielten mich nur noch der Form wegen im Gefängnis, um nicht ihren Ruf durch den Makel der Ungerechtigkeit zu beflecken. Infolgedessen zog ich den Schluß, sie würden mir die Freiheit wieder geben in dem Augenblick, wo sie das Zepter ihrer unerhörten Gewalt niederlegten. Mein Geist befand sich in einem Zustande so vollkommener Ruhe, daß ich mich imstande fühlte, ihnen zu verzeihen und die Beleidigung zu vergessen, die sie mir angetan hatten. Wie könnten wohl die Herren, so sagte ich zu mir, mich hier der Gnade ihrer Nachfolger überlassen, denen sie doch nichts Genügendes vorlegen könnten, um meine Verurteilung zu rechtfertigen? Ich fand es unmöglich, daß man mich hätte verurteilen und meinen Urteilsspruch hätte ausfertigen können, ohne mir ihn mitzuteilen, ohne mir auch nur den Grund meiner Haft anzugeben. Mein gutes Recht erschien mir unbestreitbar. Dementsprechend zog ich meine Folgerungen; aber ich hätte mich nicht auf die Gründe der Vernunft stützen dürfen, einem Tribunal gegenüber, das sich von allen Tribunalen der Erde durch Willkür und Eigenmächtigkeit unterscheidet. Es genügt, daß die Inquisitoren gegen irgend jemand ein Verfahren einleiten. Damit ist er schon schuldig, und wozu braucht man dann erst mit ihm zu sprechen? Und wenn man ihn verurteilt hat, wozu braucht man ihm sein Urteil verkünden? Seine Einwilligung ist nicht notwendig. Und so denken sie, es sei besser, einem Unglücklichen die Hoffnung zu überlassen; denn selbst wenn man ihm alles sagte, würde er darum nicht eine Stunde früher aus dem Gefängnis herauskommen.

Wer weise ist, läßt sich in seine Angelegenheiten von anderen nicht hineinreden, und die Angelegenheiten des Tribunals von Venedig sind Richten und Verurteilen. Der Schuldige ist eine Maschine, die sich nicht in ihre Angelegenheiten zu mischen braucht, um daran mitzuwirken. Er ist ein Nagel, den man nur auf den Kopf zu schlagen braucht, um ihn in die Mauer zu treiben.

Ich kannte zum Teil die Gebräuche des Kolosses, unter dessen Füßen ich lag; aber es gibt auf der Erde Dinge, die man nicht eher gut kennen kann, als bis man sie in eigener Erfahrung durchgemacht hat. Wenn unter meinen Lesern jemand ist, dem diese Regeln ungerecht erscheinen, so nehme ich ihn. das nicht übel; denn ich weiß, daß es allerdings vollkommen so aussieht. Aber er wolle mir gestatten, ihm zu sagen, daß diese Regeln als Teil der Staatsverfassung notwendig sind, weil ein Tribunal dieser Art nur durch sie bestehen kann. Die Aufrechterhalter sind Senatoren, die unter den geeignetsten ausgewählt werden und im Rufe stehen, tugendhafte Männer zu sein.

Am letzten September verbrachte ich eine schlaflose Nacht; ich war entsetzlich ungeduldig, den neuen Tag erscheinen zu sehen, so sicher fühlte ich mich, daß ich an diesem Tage wieder meine Freiheit erlangen würde. Die Herrschaft der Schurken, die mich ihrer beraubt hatten, ging zu Ende; aber der Tag erschien, Lorenzo kam wie gewöhnlich und meldete mir nichts neues. Fünf oder sechs Tage lang war ich in Wut und Verzweiflung. Dann bildete ich mir ein, man wolle aus Gründen, die ich unmöglich ahnen könnte, mich auf Lebenszeit einsperren. Über diese scheußliche Idee mußte ich lachen, denn ich fühlte, daß ich nur noch sehr kurze Zeit Sklave zu bleiben brauchte, sobald ich beschlossen hätte, meiner Haft, wäre es auch mit Gefahr meines Lebens, ein Ende zu machen. Ich wußte, daß es mir gelingen würde, zu entfliehen oder den Tod zu finden.

Zu Anfang November faßte ich ernstlich den Plan, mich gewaltsam aus einem Orte zu entfernen, wo man mich widerrechtlich festhielt, und dieser Plan wurde mein einziger Gedanke. Zunächst zerbrach ich mir den Kopf, um ein Mittel zu finden, wie ich meinen Plan ausführen könnte. Ich dachte mir wohl hundert aus, von denen eins immer kühner war als das andere; aber immer wieder tauchte ein neuer Plan auf, und ich verwarf wieder den, welchem ich zuletzt den Vorzug gegeben hatte.

Während dieser mühevollen Arbeit meiner Einbildungskraft trat ein eigentümliches Ereignis ein, das mir zum Bewußtsein brachte, in welchem traurigen Zustande mein Geist sich befand.

Ich stand in der Dachkammer und blickte nach oben nach der Dachluke und dem darunter befindlichen dicken Balken. Plötzlich sah ich diesen Balken schwanken oder vielmehr sich nach seiner rechten Seite drehen und dann langsam und gleichmäßig wieder in die alte Stellung zurückkehren. Da ich zugleich mein Gleichgewicht verlor, so erkannte ich, daß es ein Stoß von einem Erdbeben war. Lorenzo und die Sbirren, die in diesem Augenblick aus dem Kerker herauskamen, sagten mir, sie hätten gleichfalls eine schwankende Bewegung verspürt. Meine Stimmung war so, daß dieses Ereignis mich in eine freudige Stimmung versetzte, die ich aber in mir verschloß, ohne ein Wort zu sagen. Vier oder fünf Sekunden darauf wiederholte sich die gleiche Bewegung, und ich rief unwillkürlich: un utra! un altra, gran Dio! ma piu forte! – Noch einen! Noch einen, aber stärker! Die Sbirren entflohen entsetzt über diese vermeintliche Ruchlosigkeit eines verzweifelten Wahnsinnigen.

Als sie fort waren, dachte ich über mich selber nach und fand, daß ich es zu den Möglichkeiten rechnete, ich könnte meine Freiheit wieder erlangen, indem der große Palast einstürzte: Das Riesengebäude mußte zusammenbrechen, und ich mußte heil und gesund und folglich frei auf dem Markusplatze anlangen, wo ich schlimmstenfalls unter ungeheuren Trümmermassen begraben worden wäre. In einer Lage wie die, worin ich mich befand, zählt man die Freiheit für alles und das Leben für nichts oder doch für sehr wenig. Im Grunde war ich bereits auf dem Wege, wahnsinnig zu werden. Dieses Erdbeben hing mit dem großen Erdbeben zusammen, wodurch zu gleicher Zeit Lissabon zerstört wurde.


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