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Tonina war taktvoll und verständig; sie begriff, daß mein Zustand Schonung erheischte, und benahm sich mit vielem Zartgefühl. Sie ging stets erst zu Bett, nachdem sie meine Briefe in Empfang genommen und sich vergewissert hatte, daß ich ihrer nicht mehr bedurfte; sie betrat mein Zimmer nur noch in anständigem Anzug, und ich wußte ihr Dank dafür. Zwei Wochen lang ohne Unterbrechung stand es mit M. M. so schlecht, daß ich jeden Augenblick die Todesnachricht zu erhalten erwartete. Am Fastnachttage schrieb C. C. mir, ihre Freundin habe nicht mehr die Kraft gehabt, meinen Brief zu lesen; sie werde die letzte Ölung erhalten. Diese Nachricht traf mich so hart, daß ich nicht imstande war, das Bett zu verlassen. Ich verbrachte den ganzen Tag mit Weinen und Schreiben, und Tonina ging erst um Mitternacht von mir. Ich konnte die Nacht kein Auge schließen. Am Aschermittwoch erhielt ich in der Frühe einen Brief von C. C., daß der Arzt ihre Freundin aufgegeben hätte; diese könne höchstens noch etwa vierzehn Tage leben. Ein langsames Fieber zehre sie aus; sie sei unendlich schwach, da sie kaum ein bißchen Fleischbrühe hinunterbringen könne. Zum Unglück werde sie noch obendrein von ihrem Beichtvater gequält, der sie mit allen Schrecknissen des Todes ängstige. Ich konnte meinen Schmerz nur durch Schreiben erleichtern, und Tonina nahm sich zuweilen die Freiheit, mir zu bemerken, daß ich meinen Kummer künstlich nähre und noch an meinem Tode schuld sein werde. Ich fühlte selber, daß ich meinen Schmerz noch schärfer machte und daß das Bett, die mangelhafte Ernährung und das fortwährende Schreiben mich noch völlig wahnsinnig machen würden. Ich hatte mit meinem Kummer auch das arme Mädchen angesteckt; sie wußte nicht mehr, was sie mir sagen sollte, und ihre Hauptbeschäftigung bestand darin, mir die Tränen abzuwischen. Sie tat mir leid.
Einige Tage später schrieb ich C. C.: wenn unsere Freundin sterben sollte, würde ich sie nicht überleben. Ich bat sie, ihr zu sagen: wenn sie wollte, daß ich mir aus meinem Leben noch irgend etwas machte, müßte sie mir versprechen, sich von mir entführen zu lassen, falls ich das Glück haben sollte, daß sie wieder gesund würde.
»Ich habe«, so schrieb ich an C. C., »viertausend Zechinen und M. M.s Diamanten, die sechstausend wert sind. Dies ist ein genügendes Kapital, um uns überall in ganz Europa eine anständige Existenz zu sichern.«
Am nächsten Morgen antwortete C. C. mir, meine Geliebte sei, nachdem sie ihr meinen Brief vorgelesen habe, in ein krampfartiges Delirium verfallen, sie habe die Besinnung verloren und drei Stunden lang auf französisch ein Selbstgespräch gehalten, vor welchem alle Nonnen davongelaufen sein würden, wenn sie es verstanden hätten.
Ich war über diese Nachricht verzweifelt, und es fehlte gewiß nicht viel, so wäre ich in dieselbe Fieberraserei verfallen wie meine arme Nonne. Ihr Delirium hielt drei Tage an; sobald sie wieder bei Bewußtsein war, beauftragte sie ihre junge Freundin, mir zu schreiben, sie wüßte bestimmt, daß sie genesen würde, wenn ich ihr verspräche, meine Zusage zu halten und sie zu entführen, sobald ihre Gesundheit ihr erlauben würde, die Anstrengungen einer langen Reise zu ertragen. Natürlich antwortete ich ihr, sie könne sich um so mehr darauf verlassen, da auch mein Leben von der Ausführung dieses Planes abhinge.
So täuschten wir beide uns gegenseitig in ehrlicher Überzeugung und wurden beide gesund, denn jeder Brief von C. C., der mir von M. M.s fortschreitender Genesung berichtete, war Balsam für mein Herz. Je ruhiger ich wurde, desto mehr besserte sich auch mein Appetit. Meine Gesundheit erstarkte von Tag zu Tage, und bald fand ich auch, ohne es selber zu wissen, meinen Spaß an Toninas naiven Reden. Sie hatte die Gewohnheit angenommen, erst zu Bett zu gehen, wenn sie mich eingeschlafen sah.
Gegen Ende März schrieb M. M. selber mir, sie glaube jetzt außer Gefahr zu sein und werde bei entsprechender Pflege so weit sein, daß sie nach Ostern ihr Zimmer verlassen könne. Ich antwortete ihr, ich würde Murano nicht früher verlassen, als bis ich das Glück gehabt hätte, sie am Gitter zu sehen; dort könnten wir, ohne uns zu überstürzen, alles für die Ausführung unseres Planes verabreden.
Seit sieben Wochen hatte Herr von Bragadino mich nicht mehr gesehen; er mußte unruhig um mich sein, und ich beschloß, ihn noch an demselben Tage zu besuchen. Nachdem ich zu Tonina gesagt hatte, ich würde nicht vor zehn Uhr abends nach Hause kommen, fuhr ich ohne Mantel nach Venedig; denn da ich mich im Domino nach Murano begeben hatte, hatte ich vergessen, einen Mantel mitzunehmen. Ich hatte achtundvierzig Tage im Zimmer verbracht, ohne ein einziges Mal auszugehen; ich hatte diese Tage fast alle in Kummer und Tränen verlebt und mehrere sogar ohne Essen und ohne Schlaf. Was ich durchgemacht hatte, schmeichelte meinem Selbstgefühl: ich war von einem jungen Mädchen bedient worden, das in allen Ländern Europas mit Recht für eine Schönheit gelten würde; sie war sanft wie ein Lamm, entgegenkommend und zartfühlend, und ich konnte mir, ohne für einen Gecken zu gelten, wohl einbilden, daß sie in mich verliebt wäre, oder zum mindesten, daß ich sie völlig bereit finden würde, mir zu gefallen. Trotzdem hatte ich der Macht ihrer jungen Reize widerstehen können, ja es war mir beinahe gelungen, ihren Einfluß überhaupt nicht mehr zu fürchten. Die Gewohnheit, sie stündlich zu sehen, hatte alle Gefühle von Liebe beseitigt, Freundschaft und Dankbarkeit schienen über jedes andere Gefühl gesiegt zu haben; denn ich mußte anerkennen, daß das reizende Kind mich auf das sorgsamste und eifrigste gepflegt hatte. Sie hatte ganze Nächte auf einem Lehnstuhl neben meinem Bett verbracht, hatte mich wie eine Mutter gepflegt und mir niemals Anlaß zu Klagen gegeben.
Niemals habe ich ihr einen Kuß gegeben, niemals mir erlaubt, mich in ihrer Gegenwart zu entkleiden, und sie hatte, abgesehen von jenem ersten Mal, mein Zimmer stets nur anständig bekleidet betreten. Trotzdem wußte ich wohl, daß ich einen Kampf mit mir selber bestanden hatte, und ich war stolz auf meinen Sieg. Nur eins gefiel mir dabei nicht: ich war ziemlich fest überzeugt, daß weder M. M. noch C. C. jemals die Sache für möglich halten würden, wenn sie davon erführen, und daß selbst Laura, der ihre Tochter gewiß alles gesagt hatte, nicht daran glauben würde, wenn sie auch aus Gutmütigkeit so täte, wie wenn sie es glaubte.
Ich trat bei Herrn von Bragadino gerade in dem Augenblick ein, als die Suppe aufgetragen wurde. Er empfing mich mit einem Ausruf der Freude und lachte darüber, daß seine Ahnung, ich würde sie auf solche Weise überraschen, sich erfüllt hätte. Außer meinen beiden anderen alten Freunden waren noch de la Haye, Bavois und der Arzt Righellini bei Tisch.
»Wie? Ohne Mantel?« fragte Herr Dandolo mich.
»Ja. Ich ging im Domino fort und dachte nicht daran, zur Vorsicht einen Mantel mitzunehmen.« Man lachte; dies störte mich aber nicht weiter, und ich setzte mich. Niemand fragte mich, wo ich gewesen wäre; denn selbstverständlich konnte nur ich selber dieses Thema berühren. Nur de la Haye, der vor Neugier fast aus der Haut gefahren wäre, konnte sich nicht enthalten, einige Anspielungen zu machen.
»Sie sind so mager geworden,« sagte er zu mir, »daß die böse Welt sich Schlimmes dabei denken wird.«
»Man wird doch hoffentlich nicht sagen, ich hätte meine Zeit bei den Jesuiten verbracht.«
»Sie sind bissig. Man könnte vielleicht sagen, sie hätten die ganze Zeit im Krankenzimmer verbracht und dem Gott Merkur gehuldigt.«
»Beruhigen Sie sich, werter Herr; um mich nicht einer so kühnen Beurteilung auszusetzen, werde ich noch heute Abend wieder abreisen.«
»Oh, ich bin fest überzeugt, das werden Sie nicht tun.«
»Glauben Sie mir, Herr de la Haye,« antwortete ich spöttisch, »ich lege auf Ihr Urteil zu hohen Wert, um mich nicht danach zu richten.«
Als meine Freunde merkten, daß ich die Sache ernst nahm, schalten sie ihn aus, und der Aristarch wurde ein bißchen verlegen.
Righellini war mit dem Gesandten Murray eng befreundet; er sagte mir freundlich, er könne es kaum erwarten, diesem mitzuteilen, daß ich wieder von den Toten auferstanden und daß das ganze über mich verbreitete Gerede falsch sei. Ich antwortete ihm: »Wir wollen zu ihm gehen, bei ihm zu Abend essen, und nach dem Essen fahre ich wieder ab.«
Da ich sah, daß Bragadino und seine Freunde in Unruhe gerieten, versprach ich ihnen, am Markustage, den 25. April, wieder mit ihnen zu speisen.
Als Murray mich sah, fiel er mir um den Hals und küßte mich wie ein guter Deutscher. Er stellte mich seiner Frau vor, und diese lud mich sehr höflich zum Abendessen ein. Murray erzählte mir eine Menge Lügengeschichten, die man über mein Verschwinden in Umlauf gesetzt hatte, und fragte mich unter anderem, ob ich einen kleinen Roman vom Abbate Chiari kenne, der gegen Ende des Karnevals erschienen sei. Da ich das Buch nicht kannte, schenkte er es mir; er versicherte mir, es werde mir Spaß machen, und er hatte recht. Es war eine Satire auf den Zorzischen Klüngel; mir hatte der armselige Abbate darin eine armselige Rolle zuerteilt. Ich steckte den Roman in die Tasche und las ihn erst einige Zeit später. Nach dem Abendessen, das sehr angenehm verlief, nahm ich eine Überfahrtsgondel und kehrte nach Murano zurück.
Es war Mitternacht und sehr dunkel. So bemerkte ich nicht, daß die Gondel schlecht gedeckt und überhaupt in sehr üblem Zustand war. Ein kalter Staubregen rieselte herab, als ich die Gondel bestieg, und da der Regen immer stärker wurde, war ich bald durchnäßt. Das Unglück war nicht groß, denn ich war ja nicht weit von meinem Häuschen. Ich tastete mich die Treppe hinauf und klopfte an die Tür des Vorzimmers. Tonina erwartete mich nicht mehr und war schon zu Bett gegangen.
Von meinem Klopfen aus dem Schlaf geschreckt, kam sie im Hemd und ohne Licht an die Tür, um mir aufzumachen. Da ich Licht brauchte, sagte ich ihr, sie möchte das Feuerzeug holen. Dies tat sie sofort, machte mich aber in bescheidenem und sanftem Ton darauf aufmerksam, daß sie nicht angezogen sei.
»Wenn du nur bedeckt bist,« sagte ich, »so macht das nichts.«
Sie antwortete nichts und hatte bald eine Kerze angezündet; als sie mich aber ganz durchnäßt sah, mußte sie lachen.
»Ich brauche dich zu weiter nichts, liebes Kind, als um mir die Haare abzutrocknen,« sagte ich zu ihr. Schnell holte sie den Puder und begann, die Quaste in der Hand, ihre Arbeit. Aber ihr Hemd war zu kurz und oben sehr weit ausgeschnitten. Ein bißchen zu spät bereute ich, daß ich ihr nicht die Zeit gelassen hatte, sich anzukleiden. Ich fühlte, daß ich verloren war, um so mehr, da ihre beiden Hände beschäftigt waren und sie deshalb nicht ihr Hemd zuhalten konnte, um meinen Blicken zwei schwellende Apfel zu verbergen, die verführerischer waren, als die der Hesperiden. Was konnte ich tun, um sie nicht zu sehen? Die Augen schließen? Pfui doch! Ich gab der Natur nach und weidete meine Blicke mit solcher Gier, daß die arme Tonina ganz rot wurde.
»Weißt du was?« sagte ich zu ihr, »nimm den Busenstreif deines Hemdes zwischen die Zähne; dann werde ich nichts mehr sehen.« Aber nun war es noch schlimmer als zuvor; ich hatte nur Öl ins Feuer gegossen. Da der Schleier sehr kurz war, sah ich die beiden Säulen ihrer Beine, ja beinahe den Fries. Ohne es zu wollen, stieß ich vor Überraschung und Wollust einen lauten Schrei aus. Tonina wußte nun nicht mehr, was sie anfangen sollte, um alle ihre Schönheiten meinen Blicken zu entziehen. Sie ließ sich auf das Sofa sinken; ich aber stand, in Liebesglut entflammt, vor ihr. Ich konnte zu keinem Entschluß kommen.
»Nun?« sagte sie endlich, »soll ich hinausgehen, mich ankleiden und Sie dann fertig frisieren?«
»Nein, setze dich auf meinen Schoß und verbinde mir die Augen.«
Gehorsam kam sie meinem Befehl nach; aber der Funke hatte bereits gezündet. Ich konnte nicht mehr. Ich schloß sie in meine Arme, ohne noch an Blindekuhspiel zu denken, warf sie auf mein Bett und bedeckte sie mit Küssen. Als ich ihr schwor, ich würde sie ewig lieben, öffnete sie mir ihre Arme auf eine Art, die mir bewies, daß sie diesen Augenblick schon lange herbeigesehnt hatte.
Ich pflückte die Rose und fand sie natürlich, wie immer, viel schöner als alle anderen, die ich gepflückt hatte, seitdem ich die fruchtbaren Felder der Liebe bestellte.
Am Morgen beim Erwachen war ich in Tonina verliebt, wie ich noch kein Weib geliebt zu haben glaubte. Sie war aufgestanden, ohne mich zu wecken; sobald sie mich hörte, kam sie herein; ich schalt sie zärtlich aus, daß sie nicht auf den Morgengruß von mir gewartet hätte. Ohne mir zu antworten, gab sie mir M. M.s Brief. Ich nahm ihn und dankte ihr, legte aber den Brief beiseite, umschlang sie und zog sie neben mich.
»Wie? Welch ein Wunder!« rief Tonina; »wie? Es drängt Sie nicht, den Brief zu lesen? Unbeständiger Mann! Warum hast du dich nicht schon vor sechs Wochen von mir heilen lassen? Wie bin ich glücklich! O herrlicher Regen! Ich mache dir gar keinen Vorwurf, geliebter Schatz; liebe mich nur, wie du die liebst, die dir jeden Tag schreibt, und ich werde zufrieden sein.«
»Weißt du, wer sie ist?«
»Eine Pensionärin, schön wie ein Engel; aber sie ist da drinnen im Kloster, und ich bin hier. Du bist mein Herr und wirst es so lange sein, wie du willst.«
Ich war sehr froh, sie in ihrem Irrtum belassen zu können, und schwor ihr, ich würde sie ewig lieben. Da sie aber während unseres Gespräches aus dem Bett geschlüpft war, bat ich sie, sich wieder hinzulegen. Sie sagte mir jedoch, ich müßte im Gegenteil aufstehen, um guten Appetit zum Essen zu bekommen, denn sie wollte mir eine köstliche Mahlzeit auf venezianische Art vorsetzen.
»Wer hat sie bereitet?« fragte ich.
»Ich! Und ich habe in den fünf Stunden, seitdem ich aus dem Bett bin, meine ganze Kochkunst aufgeboten.«
»Wie spät ist es denn?«
»Ein Uhr vorbei.«
Das Mädchen interessierte mich, setzte mich in Erstaunen. Das war nicht mehr meine schüchterne Tonina von gestern! Ihr Gesicht trug den triumphierenden Ausdruck, den das Glück verleiht, und jenen Schimmer von Befriedigung, den eine glückliche Liebe über das Antlitz einer jungen Schönheit gießt. Ich begriff nicht, daß ich nicht schon das erstemal, als ich sie bei ihrer Mutter sah, ihre Reize gewürdigt hatte. Aber damals war ich zu sehr in C. C. verliebt, mein Kummer war zu groß und Tonina war noch nicht so entwickelt gewesen.
Ich stand auf, ließ mir von ihr eme Tasse Kaffee geben und bat sie, das Mittagessen um ein paar Stunden hinauszuschieben.
Ich fand M. Ms Brief zärtlich, aber nicht so interessant wie am Tage vorher. Ich setzte mich sofort hin, um ihr zu antworten, und war sehr betroffen, als ich merkte, daß mir diese Aufgabe zum ersten Male peinlich war. Indessen lieferte mein kleiner Ausflug nach Venedig mir den Stoff, vier Seiten mit Worten zu füllen.
Ich hatte mit meiner reizenden Tonina ein köstliches Essen. Ich sah in ihr gleichzeitig meine Frau, meine Geliebte und meine Haushälterin, und es war mir eine Wonne, um so geringen Preis glücklich zu sein. Wir saßen den ganzen Tag bei Tisch, sprachen von unserer Liebe und bezeugten sie uns gegenseitig durch tausend kleine Aufmerksamkeiten. Es gibt keinen reichhaltigeren und angenehmeren Gesprächsstoff, als wenn die Sprechenden beide gleichzeitig Richter und Partei sind. Sie sagte mir mit einer reizenden Aufrichtigkeit: sie habe wohl gewußt, daß sie mich nicht in sie verliebt machen könnte, weil ich bereits eine andere liebte, und deshalb habe sie mich nur durch eine Überraschung zu gewinnen hoffen dürfen; sie habe diesen Augenblick sofort kommen sehen, als ich ihr gesagt, sie brauche sich nicht zu bekleiden, um eine Kerze anzuzünden. »Bis auf diesen Angenblick«, schloß sie, »habe ich meiner Mutter die reine Wahrheit gesagt, aber sie hat mir niemals geglaubt; von nun an werde ich gar nichts mehr sagen.«
Tonina hatte natürlichen Verstand, aber sie konnte weder lesen noch schreiben. Sie freute sich, daß sie reich geworden war – denn dafür hielt sie sich – ohne daß irgend jemand auf Murano etwas gegen ihre Ehre sagen konnte. Ich verbrachte zweiundzwanzig Tage mit dem reizenden Kinde, und ich zähle diese drei Wochen noch heute zu den glücklichsten meines Lebens. Das eben macht mir das Alter so schrecklich, daß ich mit meinem glühenden Herzen nicht mehr die nötige Kraft habe, mir einen einzigen solcher glücklichen Tage zu bereiten, wie ich sie jenem wonnigen Mädchen verdankte.
Gegen Ende April sah ich M. M. am Sprechgitter; sie war abgemagert und sehr verändert, aber außer Gefahr. Bei dieser Zusammenkunfr gelang es mir, dank der Zuneigung und zärtlichen Teilnahme, die ich für sie empfand, mich so zu benehmen, daß sie unmöglich die Veränderung bemerken konnte, die meine neue Liebe in mir bewirkt hatte. Man wird mir hoffentlich ohne weiteres glauben, daß ich nicht so unvorsichtig war, sie merken zu lassen, daß ich den Fluchtplan aufgegeben hatte, auf den sie fester denn je rechnete. Ich hatte große Angst, sie könnte einen Rückfall bekommen, wenn ich ihr diese Hoffnung raubte. Ich behielt mein Kasino, das mir nur wenig kostete. Da ich M. M. jede Woche zweimal besuchte, so schlief ich an diesen beiden Tagen auf Murano und vergnügte mich mit meiner Tonina an den Freuden der Liebe.
Am Markustage speiste ich meinem Versprechen gemäß bei meinen drei Freunden und ging nachher mit dem Doktor Righellini in das Sprechzimmer des Klosters delle Vergini, wo eine Jungfrau den Schleier nahm.
Das Jungfrauenkloster steht unter der persönlichen Gerichtsbarkeit des Dogen, dem die Nonnen den Titel Durchlauchtigster Vater geben; sie gehören sämtlich den ersten venetianischen Familien an.
Als ich dem Doktor Righellini die Mutter M. E. pries, die eine vollendete Schönheit war, flüsterte er mir ins Ohr, er mache sich anheischig, sie mir für Geld zu verschaffen, wenn ich neugierig auf sie sei. Hundert Zechinen für sie und zehn für den Kuppler waren der geforderte Preis. Er versicherte mir, Murray habe sie gehabt und könne sie jederzeit haben. Als er mich überrascht sah, fuhr er fort, es gäbe überhaupt keine Nonne in Venedig, die nicht für Geld zu haben wäre, wenn man es richtig anzufangen wüßte. »Murray hatte den Mut, fünfhundert Zechinen auszugeben, um sich eine auserwählt schöne Nonne von Murano zu verschaffen; sie wurde damals vom französischen Gesandten ausgehalten.«
Obgleich meine Leidenschaft für M. M. im Schwinden war, fühlte ich doch mein Herz wie von einer eisigen Hand zusammengepreßt. Ich mußte die größte Willenskraft aufbieten, um gleichgültig zu erscheinen. Trotzdem war ich keinen Augenblick im Zweifel; ich war überzeugt, daß es sich nur um eine scheußliche Verleumdung handelte. Die Sache ging mich aber doch zu nahe an, als daß ich nicht alles hätte aufbieten sollen, Klarheit hineinzubringen.
Ich antwortete daher Righellini mit dem ruhigsten Gesicht, es möchte wohl sein, daß man sich diese oder jene Nonne um Geld verschaffen könnte; aber es würde doch jedenfalls nur selten vorkommen, weil das Herauskommen aus dem Kloster doch zu schwierig wäre. »Wenn es sich bei der mit Recht wegen ihrer Schönheit berühmten Nonne von Murano um M. M. vom Kloster *** handelt, so glaube ich nicht nur nicht, daß Murray sie jemals gehabt hat, sondern ich bin auch überzeugt, daß sie niemals von Herrn de Bernis ausgehalten worden ist. Wenn der französische Gesandte sie gekannt hat, so kann er sie nur am Sprechgitter getroffen haben; und was man da anfangen kann, das weiß ich allerdings wirklich nicht.«
Righellini war klug, und er war ein anständiger Mann; er antwortete mir in kühlem Ton, der englische Gesandte sei ein Ehrenmann, und er habe es von ihm selber gehört. »Wenn Murray mir die Sache nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hätte, würde ich es Ihnen von ihm selbst bestätigen lassen. Ich werde Ihnen verbunden sein, wenn Sie ihn niemals wissen lassen, daß ich mit Ihnen darüber gesprochen habe.«
»Sie können sich auf meine Verschwiegenheit verlassen.«
Am selben Abend speiste ich mit Righellini in Murrays Kasino. Die Geschichte lag mir am Herzen, und da ich die zwei Leute vor mir hatte, die mir die gewünschten Aufklärungen verschaffen konnten, so fing ich an, begeisterungsvoll die schöne M. E. zu preisen, die ich im Jungfrauenkloster gesehen hätte.
Der Gesandte ging sofort auf das Thema ein und sagte: »Unter Maurern – Sie können sich den Genuß ihrer Reize verschaffen, wenn Sie eine gewisse Summe opfern wollen, die übrigens nicht allzu hoch ist; aber man muß eingeweiht sein.«
»Man wird Ihnen etwas vorgeredet haben.«
»Nein, man hat mir den Beweis geliefert, und die Geschichte war weniger schwierig, als Sie denken.«
»Wenn man Ihnen den Beweis geliefert hat, so mache ich Ihnen mein Kompliment und zweifle nicht mehr daran. Ich beneide Sie um Ihr Glück, denn ich glaube nicht, daß man in Venedigs Klöstern eine zweite so vollendete Schönheit finden kann.«
»Sie irren sich. Mutter M. M. vom Kloster *** auf Murano ist ganz gewiß schöner.«
»Ich habe von ihr sprechen gehört und habe sie einmal gesehen; aber ich halte es nicht für möglich, sie sich für Geld zu verschaffen.«
»Ich glaube doch!« sagte er lächelnd; »und wenn ich etwas glaube, so geschieht das aus guten Gründen.«
»Sie setzen mich in Erstaunen. Trotzdem möchte ich wetten, daß man Sie getäuscht hat.«
»Sie würden die Wette verlieren. Sie haben sie freilich nur einmal gesehen – aber würden Sie sie nach ihrem Bildnis wiedererkennen?«
»Aber gewiß! Ihr Gesicht hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht.«
»Warten Sie!«
Er stand auf, ging hinaus und kam eine Minute darauf mit einer Schachtel zurück, worin sich acht oder zehn Miniaturporträts befanden. Es waren lauter Brustbilder in gleicher Ausführung: aufgelöste Haare und entblößte Busen.
»Da haben Sie seltene Schönheiten,« sagte ich zu ihm, »ohne Zweifel haben Sie sie näher gekannt.«
»Allerdings; sollten Sie einige von ihnen erkennen, so seien Sie verschwiegen.«
»Selbstverständlich. Diese drei kenne ich. Diese eine sieht M. M. ähnlich; aber geben Sie zu, daß man sie getäuscht haben kann; es sei denn, Sie hätten sie im Kloster selbst gehabt oder sie persönlich abgeholt; denn schließlich gibt es doch Frauen, die einander ähnlich sind.«
»Wie sollte man mich denn getäuscht haben? Ich habe sie in ihrem Nonnenkleide hier in meinem Kasino gehabt und habe eine ganze Nacht mit ihr zugebracht. Ihr selber übergab ich eine Börse, die fünfhundert Zechinen enthielt; der ehrenwerte Kuppler bekam fünfzig.«
»Ich denke mir, Sie werden ihr Besuche im Sprechzimmer gemacht haben, nachdem Sie sie hier gesehen haben.«
»Nein, niemals; sie fürchtete nämlich, ihr offizieller Liebhaber möchte es erfahren. Wie Sie wohl wissen, war dies der französische Gesandte.«
»Aber sie empfing ihn nur am Sprechgitter.«
»Sie kam in weltlicher Kleidung zu ihm, so oft er es wünschte. Das weiß ich von demselben Menschen, der sie mir zuführte.«
»Haben Sie sie mehrere Male kommen lassen.«
»Nur ein einziges Mal. Dies genügt mir. Aber für hundert Zechinen kann ich sie haben, sobald ich will.«
»Dies ist alles gewiß richtig, aber ich möchte fünfhundert Zechinen wetten, daß man Sie betrogen hat.«
»In drei Tagen werde ich Ihnen Antwort geben.«
Ich wiederhole nochmals: ich zweifelte keinen Augenblick, daß die ganze Geschichte ein ungeheurer Schwindel war; aber ich mußte Gewißheit darüber haben, denn ich schauderte bei dem bloßen Gedanken, daß es doch wahr sein könnte. Es wäre ein Verbrechen gewesen, daß mich von vielerlei Verpflichtungen freigemacht haben würde; aber ich war doch innerlich von ihrer Unschuld fest überzeugt. Sollte ich sie wirklich schuldig finden – was ja immerhin im Bereich der Möglichkeit lag – so wollte ich gerne fünfhundert Zechinen verlieren ; dieser Preis wäre nicht zu hoch gewesen für die Bereicherung meiner Menschenkenntnis durch eine so schreckliche Entdeckung.
Mich folterte eine entsetzliche Unruhe, die vielleicht die ärgste Qual der Seele ist. Wenn der ehrenwerte Engländer das Opfer einer Mystifikation oder vielmehr einer Gaunerei gewesen war, so erforderte M. M.s Ehre gebieterisch von mir, ihm seine Täuschung zu benehmen, ohne sie bloßzustellen. Hierzu war ich denn auch fest entschlossen, und das Glück war mir günstig.
Drei oder vier Tage darauf sagte Murray dem Doktor, er wünsche mich zu sehen. Wir gingen zu ihm, und er empfing mich mit den Worten: Die Sache ist in Ordnung; für hundert Zechinen bin ich sicher, die schöne Nonne zu bekommen.«
»Gut, also wetten wir fünfhundert Zechinen!«
»Nein, nicht fünfhundert, mein Lieber! Ich würde mich schämen, mit dieser totsicheren Wette Ihnen fünfhundert abzunehmen; aber die hundert, die sie mir kosten soll, will ich gerne gewinnen. Gewinne ich, so bezahlen Sie mir mein Vergnügen; verliere ich, so werde ich ihr nichts geben.«
»Wann soll des Rätsels Lösung stattfinden.«
»Mein Merkur hat mir gesagt, wir müssen einen Tag abwarten, wo Maskenfreiheit ist. Jetzt handelt es sich darum, wie wir es anfangen, um beide die notwendige Uberzeugung zu erlangen; denn sonst kann keiner von uns sich für verpflichtet halten, die Wette zu bezahlen. Diese Uberzeugung beiden zu verschaffen, scheint mir jedoch schwierig; denn wenn ich wirklich M. M. habe, so wäre es gegen meine Ehre, wenn sie Verdacht schöpfen könnte, daß ich ihr Geheimnis verraten hätte.«
»Nein, das wäre allerdings eine unverzeihliche Gemeinheit. Ich habe folgenden Plan, der uns beiden Genugtuung verschaffen kann; denn nach seiner Durchführung wird jeder von uns, mag er gewonnen oder verloren haben, überzeugt sein, daß alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Sobald Sie im Besitz der echten oder falschen Nonne sind, verlassen Sie sie unter irgendeinem Vorwand und treffen sich mit mir an einem vorher vereinbarten Ort.
Wir gehen zusammen nach dem Kloster, ich werde M. M. rufen lassen. Wenn Sie sie gesehen und mit ihr gesprochen haben, werden Sie doch überzeugt sein, daß die, die Sie in Ihrem Hause verlassen haben, eine Betrügerin ist.«
»Gewiß, dann werde ich vollkommen überzeugt sein und werde mit dem allergrößten Vergnügen meine Wette bezahlen.«
»Dasselbe kann auch ich Ihnen versichern. Ich werde also M. M. ins Sprechzimmer rufen lassen; wenn die Laienschwester uns sagt, sie sei krank oder beschäftigt, so gehen wir, und Sie haben gewonnen. Sie gehen zum Souper mit Ihrer Schönen, ich gehe anderswohin.«
»Vortrefflich, da aber die Zusammenkunft nur bei Nacht stattfinden kann, so wäre es doch möglich, daß die Pförtnerin Ihnen antwortet, zu solcher Stunde lasse sie keine von den Schwestern mehr rufen.«
»In diesem Fall würde ich ebenfalls verloren haben.«
»Sie sind also sicher, daß sie kommen wird, wenn sie im Kloster ist?«
»Das ist meine Sache. Ich wiederhole Ihnen: Wenn Sie sie nicht zu sprechen bekommen, erkläre ich mich für besiegt und habe hundert Zechinen verloren, oder auch tausend, wenn Sie wollen.«
»Dies ist klar und deutlich gesprochen, mein lieber Freund, und ich danke Ihnen im voraus!«
»Ich bitte Sie nur um eins: Seien Sie ganz pünktlich, und lassen Sie die Stunde nicht allzu unpassend für ein Kloster sein.«
»Vielleicht eine Stunde nach Sonnenuntergang; genügt das?«
»Ausgezeichnet.«
»Ich werde auch dafür sorgen, daß die Maske an dem Orte bleibt, an welchen ich sie bestellen werde, auch wenn es wirklich die echte M. M. sein sollte.«
»Sie wird nicht lange zu warten haben, wenn Sie sie in ein Kasino kommen lassen, das ich selber in Murano habe, und wo ich ein junges Mädchen besitze, in das ich verliebt bin. Ich werde dafür sorgen, daß sie an dem betreffenden Tage nicht anwesend ist, und werde Ihnen den Schlüssel zum Kasino geben. Ich werde sogar dafür sorgen, daß Sie ein ausgezeichnetes kaltes Abendessen vorfinden.«
»Wundervoll! Aber ich muß dem Merkur den Ort bezeichnen können.«
»Da haben Sie recht. Ich lade Sie für morgen Abend zum Essen ein; aber alles muß im größten Geheimnis vor sich gehen. Wir begeben uns in einer Gondel nach dem Kasino, und nach dem Essen verlassen wir das Haus durch die Straßentür; auf diese Art erfahren Sie, wie Sie zu Wasser und zu Lande hinkommen können. Sie brauchen Ihrem Zuführer nur die Anlegestelle und die Haustüre zu zeigen; an dem Tage, für welchen er Ihnen die Nonne verspricht, bekommen Sie den Schlüssel. Sie finden im Hause nur einen alten Mann, der im Erdgeschoß wohnt; er wird Sie weder beim Kommen noch beim Gehen bemerken. Meine Kleine wird nichts sehen und wird nicht gesehen werden, und alles wird vortrefflich gehen, darauf können Sie sich verlassen.«
Der Engländer war hoch erfreut über alle diese Anordnungen und sagte zu mir:
»Ich fange an, die Wette für verloren zu halten, aber das tut nichts: Ich werde mich über den Verlust ebenso sehr freuen, wie über den Gewinn.«
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag.
Am anderen Vormittag fuhr ich nach Murano, um Tonina Bescheid zu sagen, daß ich bei ihr zu Abend essen und zwei Freunde mitbringen würde.
Da aber unser lieber Engländer ein ebenso großer Freund des Bacchus wie der Liebe war, so übergab ich meiner kleinen Hausfrau etliche Flaschen ausgezeichneten Weines. Tonina war entzückt, daß sie uns bewirten sollte, und fragte mich nur, ob meine beiden Freunde gleich nach dem Essen fortgehen würden?"
»Ja, mein Schatz.«
Bei dieser Antwort strahlte sie vor Vergnügen. Der Nachtisch lag ihr am Herzen.
Von ihr ging ich nach dem Kloster, wo ich mit M. M. eine Stunde im Sprechzimmer verbrachte. Ich sah mit Vergnügen, daß sie jeden Tag gesünder und schöner wurde, und machte ihr mein Kompliment darüber.
Am Abend fanden meine beiden Freunde sich pünktlich am verabredeten Ort ein; zwei Stunden nach Sonnenuntergang begaben wir uns nach meinem kleinen Kasino.
Unser kleines Souper war köstlich, und meine Tonina entfaltete dabei ein anmutiges Benehmen, das mich entzückte. Welche Freude war es für mich, Righellini hingerissen und den Gesandten stumm vor Bewunderung zu sehen!
Wenn ich verliebt war, war mein Ton nicht ermutigend für Freunde, dem Gegenstand meiner Liebe den Hof zu machen, aber ich war sehr nachsichtig und entgegenkommend, wenn die Zeit bereits meine Glut gemildert hatte. Etwa um Mitternacht trennten wir uns; ich begleitete Murray bis zu der Stelle, wo ich am Tage der Entscheidung auf ihn warten sollte; dann ging ich wieder nach Hause, um meiner reizenden Tonina die Ehre anzutun, die sie verdiente. Sie sprach mit hohem Lobe von meinen beiden Freunden und drückte immer wieder ihre Überraschung aus, daß der Engländer frisch und munter das Haus verlassen hatte, obgleich er für sich allein sechs Flaschen meines besten Weines geleert hatte. Murray sah aus wie ein von Rubens gemalter schöner Bacchus.
Am Pfingstsonntag kam Righellini zu mir und sagte mir, der englische Gesandte habe mit M. M.s angeblichem Merkur alles für den übernächsten Tag verabredet.
Ich gab ihm die Schlüssel zu meiner Wohnung in Murano und bat ihn, unserem Freunde zu sagen, daß ich mich pünktlich einfinden würde.
Die Ungeduld verursachte mir ein außerordentlich unbequemes Herzklopfen, und ich verbrachte die beiden Nächte, ohne ein Auge schließen zu können; denn obwohl ich gewiß war, daß M. M. unschuldig sein mußte, war ich doch in der größten Unruhe. Aber woher kam denn diese Unruhe? Offenbar nur von meiner Ungeduld, den Gesandten seines Irrtums überführt zu sehen. M. M. mußte in seinen Augen geradezu eine Protistuierte sein; erst wenn er eingestehen mußte, daß er von Gaunern betrogen worden war, stand die Nonne wieder in allen Ehren da.
Murray war ebenso ungeduldig wie ich, nur mit dem sehr begreiflichen Unterschiede, daß er das Abenteuer sehr komisch fand und herzlich darüber lachte, während es in meinen Augen entsetzlich tragisch war und ich vor Entrüstung darüber bebte.
Am Dienstag Morgen fuhr ich nach Murano und sagte Tonina, sie möchte in mein Zimmer ein kaltes Abendessen bereit stellen, dessen Zusammensetzung ich angab.
Ich befahl ihr zwei Gedecke aufzulegen und Kerzen auf den Tisch zu stellen; auch übergab ich ihr eine Anzahl Flaschen Wein.
Ferner befahl ich ihr, sich am Abend im Zimmer des alten Hausherrn aufzuhalten und dieses erst wieder zu verlassen, wenn die Personen, die meine Wohnung benutzen sollten, wieder fort wären. Sie versprach mir Gehorsam und erlaubte sich keine einzige Frage.
Ich ging nun in das Sprechzimmer des Klosters und ließ M. M. rufen. Sie hatte meinen Besuch nicht erwartet und fragte mich, warum ich nicht die Ausfahrt des Bucentoro mitmache; diese fand nämlich an jenem Tage statt, da das Wetter günstig war. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr antwortete, aber ich erinnere mich noch, daß sie meine Bemerkungen unzusammenhängend fand. Endlich kam ich auf den wichtigen Punkt zu sprechen, und sagte ihr, ich müßte sie um einen Dienst bitten, von welchem die Ruhe meiner Seele abhinge; aber sie müßte mir meine Bitte blindlings und ohne eine Frage zu stellen bewilligen.
»Befiehl mein Herz, sei überzeugt, daß ich, soweit es von mir abhängt, dir nichts verweigern werde.«
»Ich werde heute abend eine Stunde nach Sonnenuntergang kommen und werde dich an dieses Gitter rufen lassen: bitte, komm! Es wird ein anderer Herr bei mir sein; ich bitte dich, an diesen einige höfliche Worte zu richten; hierauf wirst du dich entfernen. Jetzt müssen wir noch einen Vorwand suchen, um die unpassende Stunde zu rechtfertigen.«
»Ich werde dir deinen Wunsch erfüllen, aber du machst dir ja gar keinen Begriff, welche Schwierigkeiten mir das in unserem Kloster bereitet; denn mit Sonnenuntergang werden die Sprechzimmer geschlossen, und die Schlüssel befinden sich bei der Äbtissin. Da es sich jedoch nur um fünf Minuten handelt, so werde ich der Äbtissin sagen, ich erwarte einen Brief von meinem Bruder, den man mir erst heute Abend überbringen könne. Du wirst mir also einen Brief übergeben, damit die Nonne, die mich begleiten wird, bezeugen kann, daß ich nicht gelogen habe.«
»Du wirst nicht allein kommen?«
»Nein, darum wage ich nicht einmal zu bitten.«
»Gut; aber richte es so ein, daß du irgendeine kurzsichtige Alte bei dir hast.«
»Ich werde den Armleuchter in den Hintergrund des Zimmers stellen lassen.«
»Nein, mein Engel, ich bitte dich recht sehr, tu das nicht! Du mußt ihn im Gegenteil so hinstellen lassen, daß du vollkommen deutlich gesehen werden kannst.«
»Das ist sonderbar; aber ich habe dir blinden Gehorsam versprochen, und ich werde deshalb mit zwei Armleuchtern kommen. Darf ich hoffen, daß du bei unserem nächsten Zusammensein das Rätsel lösen wirst?«
»Spätestens morgen wirst du alles mit allen Einzelheiten erfahren.«
»Ich werde vor Neugier nicht schlafen können.«
»Nein, mein Herz, schlafe ruhig und sei überzeugt, daß ich dir dankbar sein werde.«
Der Leser wird glauben, nach diesem Gespräch müsse doch nun mein Herz vollkommen ruhig geworden sein. Aber weit entfernt davon! Als ich nach Venedig zurückfuhr, quälte mich die Furcht, Murray würde mir am Abend an der Tür des Domes, wo ich ihn erwarten sollte, sagen, sein Merkur hätte ihm die Nachricht gebracht, daß die Nonne die Zusammenkunft aufschieben müßte. Wenn dieser Fall eingetreten wäre, so hätte ich wohl nicht gerade M. M. in Verdacht gehabt; aber der Gesandte hätte glauben können, daß die Sache durch meine Veranlassung zum Scheitern gebracht wäre. Ganz gewiß hätte ich ihn dann nicht ins Sprechzimmer geführt, sondern wäre sehr traurig allein hingegangen.
So verbrachte ich qualvoll den ganzen Tag, der mir unendlich lang vorkam. Am Abend steckte ich einen Brief in die Tasche und begab mich zum verabredeten Ort, wo ich auf den Gesandten warten sollte. Glücklicherweise war auch Murray sehr pünktlich.
»Ist die Nonne da?« rief ich, sobald ich ihn erblickte.
»Ja, lieber Freund. Wenn Sie wünschen, wollen wir ins Sprechzimmer gehen, aber Sie sollen sehen, man wird Ihnen sagen, sie sei krank oder beschäftigt. Wenn Sie wollen, können Sie noch von der Wette zurücktreten.«
»Um Gottes willen nicht! Ich halte sehr viel auf diese hundert Dukaten! Vorwärts!«
Wir klingelten an der Pforte; ich ließ M. M. rufen, und die Schließerin schenkte mir das Leben wieder, als sie mir sagte, ich würde erwartet. Ich betrat mit meinem lieben Engländer das Sprechzimmer und fand es von vier Kerzen erleuchtet. Wenn ich an diese Augenblicke zurückdenke, habe ich mein Leben lieb! Ich erkannte an dieser Anordnung nicht nur die Unschuld meiner edlen und hochherzigen Geliebten, sondern sah auch voll Bewunderung ihre scharfsinnige Klugheit. Murray war ernst geworden und lachte nicht mehr.
Strahlend von Anmut und Schönheit trat M. M. ein; eine Laienschwester war bei ihr, beide trugen einen Handleuchter. Sie machte mir in sehr gutem Französisch ein sehr schmeichelhaftes Kompliment. Ich übergab ihr den Brief. Sie sah sich Aufschrift und Siegel an und steckte ihn in die Tasche. Dann dankte sie mir und sagte, sie würde den Brief sofort beantworten. Hierauf wandte sie sich zu meinem Begleiter:
»Vielleicht bin ich schuld, mein Herr, daß Sie den ersten Akt der Oper verloren haben.«
»Die Ehre, Sie einen Augenblick zu sehen, Madame, ist mehr wert, als alle Opern der Welt.«
»Mir scheint, Sie sind Engländer?«
»Ja, Madame.«
»Die englische Nation ist heute die erste der Welt, denn sie ist frei und mächtig. Meine Herren, ich bin Ihre ganz gehorsame Dienerin.« Niemals hatte ich M. M. schöner gesehen, als in diesem Augenblick. Liebeglühend verließ ich das Sprechzimmer; mich erfüllte eine Freude ganz neuer Art, wie ich sie bis dahin noch nicht gekannt hatte. Mit großen Schritten eilte ich nach meinem Kasino, ohne mich um den Ministerresidenten zu bekümmern, der es nicht eben eilig hatte, mir zu folgen. Vor meiner Tür wartete ich auf ihn.
»Nun,« sagte ich zu ihm, »sind Sie jetzt überzeugt, daß Sie betrogen worden sind?«
»Seien Sie nur still! Wir werden noch Zeit genug haben, darüber zu sprechen. Kommen Sie mit hinauf!«
»Ich soll mit hinaufkommen?«
»Ich bitte Sie darum.«
»Was soll ich denn vier Stunden mit dem Geschöpf anfangen, das da oben auf mich wartet?«
»Wir wollen uns über sie lustig machen.«
»Werfen Sie sie doch lieber hinaus!«
»Nein; ihr Zuhälter soll morgen früh um zwei Uhr kommen und sie abholen. Sie würde ihn warnen, und er würde meiner gerechten Rache entgehen. Wir werden sie alle beide zum Fenster hinauswerfen.«
»Mäßigen Sie sich! M. M.s Ehre erfordert, daß diese Geschichte nicht bekannt wird. Gehen wir meinetwegen hinauf; wir werden unseren Spaß haben. Ich bin neugierig, die Vettel zu sehen.«
Murray trat zuerst ein. Sobald das Mädchen mich sah, hielt sie sich ein Tuch vors Gesicht und sagte dem Gesandten, sein Vorgehen sei unwürdig. Murray antwortete ihr nicht. Sie war nicht so groß wie M. M. und hatte sich in schlechtem Französisch ausgedrückt.
Ihr Mantel und ihre Maske lagen auf dem Bette; außerdem aber war sie als Nonne gekleidet. Da mir viel daran lag, ihr Gesicht zu sehen, so bat ich sie freundlich, es mir zu zeigen.
»Ich kenne Sie nicht,« sagte sie zu mir; »wer sind Sie?«
»Sie sind in meinem Hause, und Sie wissen nicht, wer ich bin?«
»Ich bin in Ihrem Hause, weil man mich verraten hat. Ich glaubte nicht, mit einem Schelm zu tun zu haben!«
Auf dieses Wort hin gebot Murray ihr Schweigen, indem er sie mit dem Titel ihres ehrenwerten Gewerbes belegte. Das Frauenzimmer stand auf und wollte ihren Mantel nehmen, indem sie sagte, sie wolle jetzt gehen. Murray aber stieß sie zurück und bedeutete ihr, sie müßte noch warten, bis ihr edler Zuhälter käme; er riet ihr, keinen Lärm zu machen, wenn sie nicht Lust hätte, lieber ins Gefängnis zu wandern.
»Ich ins Gefängnis!«
Mit diesen Worten griff sie nach ihrem Rockschlitz ; schnell aber packte ich ihre eine Hand und Murray die andere. Wir stießen sie auf einen Stuhl und nahmen ihr die Pistolen ab, die sie in ihren Taschen hatte.
Murray riß ihr heiliges Gewand vorne auseinander und zog einen acht Zoll langen Dolch daraus hervor. Die falsche Nonne weinte bitterlich.
»Willst du«, fragte der Gesandte, »schweigen und dich ruhig verhalten, bis Capucefalo kommt, oder willst du sofort ins Gefängnis gehen?«
»Und wenn er da ist?«
»Dann versprech ich dir, dich laufen zu lassen.«
»Mit ihm?«
»Vielleicht.«
»Gut; ich werde ruhig bleiben.«
»Hast du noch Waffen?«
Auf diese Frage antwortete das Weib damit, daß sie ihr Kleid und ihren Unterrock auszog; hätten wir sie gewähren lassen, so würde sie sich in den Zustand der Natur versetzt haben – ohne Zweifel in der Hoffnung, von unserer tierischen Sinnlichkeit zu erreichen, was sie von unserer Vernunft nicht erwarten durfte.
Ich war aufs Höchste erstaunt, zu bemerken, daß sie nur eine ganz flüchtige Ähnlichkeit mit M. M. hatte. Ich sagte dies dem Gesandten, und er gab es zu; dafür mußte ich aber auch ihm zugeben, daß bei seiner Voreingenommenheit sein Mißgriff erklärlich wäre und daß mehr als einer an seiner Stelle auf denselben Leim gegangen wäre. Die Lust, eine Nonne zu besitzen, die von Berufs wegen und durch ein feierliches Gelübde, mag dies nun freiwillig oder gezwungen sein, den Freuden dieser Welt und besonders dem fleischlichen Verkehr mit dem anderen Geschlecht entsagt hat – diese Lust nach der verbotenen Frucht stachelt uns wie Eva die Begier nach dem Apfel und wächst noch durch die Schwierigkeiten, die die Durchbrechung des fatalen Klosterbannes bereitet. Es wird unter meinen Lesern wenige geben, die es nicht selbst empfunden haben, daß die Freuden, die am schwersten zu erlangen sind, am süßesten schmecken, und daß man oftmals etwas, wofür man sein Leben in die Schanze schlägt, weil es schwer zu erlangen ist, nicht einmal ansehen würde, wenn es sich von selber anböte.
Leser, im nächsten Kapitel wirst du sehen, wie dieses burleske Abenteuer endet; laß uns beide mal einen Augenblick verschnaufen.