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»Ich komme auf die Religion zurück. Zum religiösen Leben genügt doch nicht allein das Gefühl der Frömmigkeit; jede Religion muß in einer positiven Glaubenslehre ihre Grundlage haben.«
Sehen Sie, auch Ihnen gibt die Religion keine Ruhe! – Ich verstehe, daß Ihnen meine Religionsphilosophie beim ersten Anhören nicht genügt und Ihrer Kritik nicht genügt. Ich werde versuchen, die Hauptfragen nochmals zu formulieren. Seien Sie nicht ungeduldig, wenn ich das eine oder andere wiederhole.
Ja, jede Religion muß formuliert sein, hat also ihre Lehre, ihre Glaubenslehre, Dogmen und Theologie; aber jede Religion muß auch praktiziert und erlebt sein. Ich fürchte mich nicht zu sagen: Lebendig erlebt. Für mich ist Jesus der religiöse Führer und Lehrmeister. Jesus war kein Theolog, sondern ein Prophet, der größte der Propheten. Was für die Kunst, Wissenschaft, Politik und auf andern Gebieten das Genie ist, das ist für die Religion der Prophet. Prophetentum bedeutet nicht nur weissagen und voraussehen, sondern auch das Wort Gottes verkünden, strafen und führen, zu geistigerem und neuem Leben erheben; Vorbild sein, die Stimme des Gewissens sein, Erwecker des Lebens – es ist schwer in Worte zu fassen.
Nach Jesu Lehre ist die Religion der Glaube an einen einzigen Gott, den Schöpfer, den Lenker der Welt, den Vater; aber Jesus überspannt den Transzendentismus nicht, seine Religion ist eben nicht nur für den Himmel, sondern auch für die Erde und für das tägliche, gewöhnliche Leben. Er sprach nicht viel von den Anfängen noch vom Ende der Welt, befaßte sich nicht mit der Geschichte, wie das Alte Testament, das in dieser Hinsicht nur eine nationale Religion und Lehre bot. Die Religion Jesu äußert sich in Sittlichkeit und Menschlichkeit, ist Humanismus sub specie aeternitatis. Den Unterschied zwischen Frömmigkeit und Sittlichkeit erfassen wir in den Worten: heilig und gut. Heiligkeit ist sittliches Leben in Gott.
»Kann denn Sittlichkeit nicht ohne Religion sein?«
Das kann sie; manchmal ist sie dann besser als die Sittlichkeit frommer Kirchenmenschen – es geht eben darum, was für eine Frömmigkeit und was für eine Sittlichkeit es ist. In die Kirche gehen, beten, gewohnheitsmäßig die Zeremonien ausüben und ähnliches ist nicht schwer; aber voll und stets der Beziehung zu Gott bewußt sein, jeden Menschen achten und ihm helfen, den Egoismus in sich unterdrücken, vernünftig und sittlich leben – das ist schwer, und das ist wahre Frömmigkeit. Sittlichkeit und geistiges Leben können ohne Religion und außerhalb der Religion sein, aber ich frage mich: Sind sie vollkommen? Nach meinem Verstand: nein. Ich verlange eine Religion als notwendige Erfüllung des geistigen und kulturellen Lebens. Dadurch, daß ich in der Sittlichkeit den Hauptbestandteil der Religion sehe, mache ich aus der Sittlichkeit sozusagen einen religiösen Kult. Sittlich leben ist eben Verehrung Gottes.
»Genügen Glaube an Gott und Sittlichkeit zum vollen religiösen Leben?«
Sie genügen nicht. Schon im Neuen Testament lesen wir, daß auch die Teufel an Gott glauben, aber zittern. Wollen wir das Wort Glaube gebrauchen, so muß der religiöse Glaube das persönliche Verhältnis, das intime Verhältnis zu Gott sein. Glaube kann eine bloße Hypothese sein; aber zu Gott gelangen wir nicht nur durch Spekulation. Wenn in der Religion der Transzendentismus überspannt wird, so wird leicht der Nächste und das sittliche Leben vergessen; untergeordnete religiöse Bestandteile, Kirchentum und Zeremoniell werden betont und gewertet; man verfällt auch in ein unlebendiges, lebensfeindliches Feuer, das das Leben selbst verleugnet wie Askese, Einsiedeltum, Verstümmelung an Körper und Geist. Als Heilige wurden ja Menschen anerkannt, die auf Säulen lebten und meinten, dadurch Gott zu dienen, andere ließen sich bei lebendigem Leib von Ungeziefer zerfressen und wer weiß was noch. Darin liegt eben die Überschätzung des Transzendenten; die Menschen wollen Gott durch etwas Besonderes und Widernatürliches dienen – das ist religiöse Akrobatik! Ja, ich lehne auch die religiöse Mystik ab; mit Gott sich dadurch vereinigen, daß Verstand und leibliches Leben unterdrückt werden, sich so konzentrieren, daß man in Ekstase und Rausch verfällt und in einem solchen Zustand mit der Gottheit verkehren – das alles ist ein mehr oder weniger pathologischer Zustand. Religion ist keine Sache der Nerven und Anfälle, sondern das Bewußtwerden des Lebenssinnes, das Bewußtwerden des normalen, an Körper und Geist gesunden Menschen. Aber es gibt eine religiöse Pathologie, religiöse Abweichungen und geradezu seelische Krankheiten, es gibt auch einen religiösen Analphabetismus. Die »Gottesmenschen« des russischen Muschiks sind eine sonderbare Rasse, ich habe sie gesehen und beobachtet! Die Menschen haben ja Epilepsie und Wahnsinn als Äußerung Gottes verehrt. Auch darin liegt eine Überschätzung des Transzendenten oder konkreter gesagt: das Bedürfnis nach dem Geheimnis und dem Geheimnisvollen.
»Kann Religion überhaupt ohne Geheimnis sein?«
Das kann sie nicht; aber es kommt darauf an, was für Geheimnisse wir anerkennen. In Wirklichkeit ist uns die Welt und das Leben ein Geheimnis. Wieviel davon erkennen und wissen wir tatsächlich? Der Mensch hat eine natürliche Neigung zum Mysteriösen: die Welt ist dem Menschen und der Mensch sich selbst ein Mysterium. Ist das unscheinbare Feldblümchen nicht ein Geheimnis? Man sehe es nur an – woher seine Schönheit, seine Zweckmäßigkeit, woher kommt es überhaupt?
In seiner Schwäche, Not und Elend dürstet der Mensch nach Wundern und Offenbarungen, immer und überall, im Spiel und in der Krankheit, in der Politik und in sozialer Sehnsucht, in den metaphysischen Fragen der Seele und des Lebens. Daher die Vorliebe für den Okkultismus und die sogenannten geheimnisvollen Erscheinungen.
Mein Gott, geheimnisvolle Erscheinungen! Daß ich die ganze Welt sehe, daß ich diesen Baum in mich aufnehme, daß ich ihn anstaune, daß ich mir des Geheimnisses seines Lebens und Wuchses bewußt werde – als ob das alles nicht ebenso geheimnisvoll, ebenso bewunderungswürdig wäre! Ist denn die Seele nach dem Tode etwas Geheimnisvolleres und Mysteriöseres als die Seele im Leben ... und die Seele der sogenannten großen Männer etwas Bewunderungswürdigeres als die Seele der Frau dort, die das Heu recht?
Die Menschen, die in ihre allernächste Umgebung versenkt sind, vermögen nicht die Größe aller Dinge zu sehen; jedes unscheinbare Ding, das alltäglichste Ereignis ist etwas Geheimnisvolles und Ungeheures! Lassen wir uns durch die Gewohnheit nicht täuschen. Wir haben uns vor allem an uns selbst gewöhnt, haben uns gewöhnt, nur unsere nächste Umgebung zu sehen, aber sinnen wir nach, sehen wir uns die bekannten Personen und Dinge nur ordentlich an, und unsere Anschauung vom Geheimnisvollen und Wunderbaren wird sich erweitern!
Was ist Frömmigkeit in psychologischer Beziehung? Das Verhältnis zu Gott, das persönliche Verhältnis kann verschiedenartig empfunden werden; jeder Mensch erlebt es gewissermaßen irgendwie anders; auch darin sind wir jeder eine besondere Persönlichkeit mit verschiedener Begabung und eigenen Erfahrungen. Im Alten Testament bildete die Furcht vor dem Herrn den Anfang der Weisheit und die wahre Frömmigkeit; bis heute deckt sich für uns das Wort »gottesfürchtig« mit dem Begriff »fromm«; auch den Griechen und Römern war das Verhältnis des Menschen zu den Göttern und der Gottheit Deisidaimonia, Theosebeia. Bei Aristoteles finde ich wörtlich den Ausspruch, der Mensch könne Gott nicht lieben. Jesus umschrieb das Verhältnis des Menschen zu Gott als die Liebe und das Verhältnis des Sohnes; Gott ist des Menschen Vater, wir sind seine Söhne. Das ist eine neue Definition der Frömmigkeit und der Religion, und das Christentum ragt dadurch über das Altertum hinaus. Gewiß gibt es auch im Alten Testament, soweit Jahwe der Gott des Geschlechtes, des Stammes oder des Volkes war, etwas von familiärer Beziehung zu Gott.
Jesus vereinigte die Liebe zu Gott mit der Liebe zum Nächsten und er machte das göttliche Sohnestum und die gegenseitige Liebe der Gottessöhne universal; die Liebe zum Nächsten gilt gegenüber allen Menschen und Völkern. Dadurch wird der Glaube an einen einzigen Gott erfüllt: es gibt nur einen Gott, den Gott aller Völker und Menschen.
Jesus übernahm das Alte Testament, er ist nicht gekommen, wie er sagte, um es zu zerstören, sondern um es zu erfüllen. Jesus schuf nicht erst die Religion, sie bestand schon immer und längst vor ihm; er war Reformator. Auch die christlichen Kirchen übernahmen das Alte Testament und bewahrten neben der Liebe Jesu auch den alttestamentarischen timor Domini – mehr als nötig ist.
Außer diesem Verhältnis zu Gott und zum Nächsten können Sie aus der Religion noch andere Elemente herausanalysieren; der Kult, die Zeremonie, die religiösen Einrichtungen erwecken in den Gläubigen starke Gefühle, oft stärkere, als das Gefühl zum unsichtbaren Gott ist. Das Verhältnis zur Hierarchie, zu den Priestern und Predigern, die Abhängigkeit von der Kirche und ihren Führern ist – ähnlich wie in der Politik und anderswo – ein wichtiger Bestandteil der Religion. Darum, weil diese Elemente soviel enthalten und jedermann sich für ein anderes entscheiden kann, mitunter für ein ganz äußerliches, untergeordnetes, etwa eine Zeremonie oder einen Glaubensartikel, gibt es nicht nur eine Frömmigkeit; Gott ist nur einer, aber das persönliche Verhältnis zu ihm ist verschieden je nach den Zeiten und Menschen.
Das religiöse Leben – ebenso wie alle anderen Tätigkeiten – mechanisiert sich leicht; so kann zum Beispiel der Besuch der Kirche jeden Sonntag oder jeden Tag, das Sichbekreuzigen, Beten und so weiter eine ganz mechanische Übung werden; bei vielen Menschen ist die Religion nur eine Gewohnheit – Sie kennen doch die sogenannten Bet-Schwestern mit ihren Lippengebeten.
Das Gebet – ja.
Ich sehe im Geiste vor mir das Standbild eines amerikanischen Bildhauers, einen Indianer zu Pferde; das Pferd steht da, als verstünde es seinen Reiter, der seinen Sinn zum Großen Geist erhebt, die Arme ausgebreitet, die Augen zum Firmament gewendet – ein echtes, schönes Gebet. Selbstverständlich können wir unser religiöses Verhältnis zu Gott nicht anders ausdrücken als durch Begriffe unserer empirischen Psychologie. Die Theologen sagen selbst, daß Gott ein uns unerreichbares Wesen sei.
Gerade wegen der Unerreichbarkeit Gottes ist die Verehrung des Gründers der Religion und der Kirche ein starkes Element der Frömmigkeit in allen Religionen: Die Verehrung Buddhas, Mosis, Mohammeds und freilich auch Jesu. Die christlichen Mystiker, aber auch die normal frommen Gläubigen wenden ihre Liebe mehr Jesu als Gott zu; die christliche Theologie identifiziert überhaupt Jesus mit Gott. Die Apotheose, die Deifikation in allen Religionen ist nichts anderes als das Streben, sich die unzulängliche, durch Sinne und Verstand unfaßbare Gottheit näherzubringen, irgendwie zu vermenschlichen. Daher drücken Kunst, Architektur, Bildhauerei, Malerei, Poesie, Musik, Gesang und Tanz religiöse Vorstellungen oft wirkungsvoller aus als theologische Definitionen. Moses trachtete, so sehr er die materielle Nachbildung Gottes aus Furcht vor dem Götzendienst verbot, dennoch Gott durch Worte, Definitionen und die ganze Geschichte der göttlichen Offenbarungen anschaulich zu machen – der reine Anthropomorphismus. Das ist menschlich und natürlich; wir bilden die unzugängliche Gottheit zwar notwendigerweise auf menschliche Art ab, weil wir nicht anders können, aber wir müssen wenigstens bestrebt sein, sie geistig zu erfassen. Jesu Jünger Jakob wußte, als er die reine und unbefleckte Religion definierte, nicht mehr zu sagen, als daß wir die Waisen und Witwen in ihren Nöten aufsuchen sollen und uns selbst unbefleckt von der Welt bewahren sollen; und Johannes schreibt in seiner Epistel das schon erwähnte Wort, daß man den unsichtbaren Gott nicht ohne Liebe zum sichtbaren Nächsten lieben könne.
Der wissenschaftlich denkende Mensch überwindet den mythischen Anthropomorphismus verstandes- und auch gefühlsmäßig; von Jesu belehrt, überwindet er die Religion der Furcht und Angst und ersetzt sie durch die Verehrung Gottes und die Liebe zum Nächsten.
Ich möchte mein Verhältnis zu Gott lateinisch als reverentia bezeichnen – Verehrung, volles Vertrauen, Dankbarkeit und Hoffen. Und was die Liebe zum Nächsten betrifft, so nehme ich das Gebot, wie Jesus es empfahl, in vollem Umfang an: daß wir selbst den Feind lieben sollen. Es ist möglich, wenn auch nicht leicht. Es befreit nicht von dem Recht und der Pflicht, mich dem Unrecht und der Bedrückung zu widersetzen; aber ich bemühe mich, zum Feind ehrenhaft und gerecht zu sein. In der alten Ritterlichkeit, die die Achtung vor dem Gegner forderte, im Kampf und nach dem Kampfe, ist ein schönes Element. Jesus verbarg, als er die Händler aus dem Tempel vertrieb, seinen Zorn nicht; Zorn ist nicht Haß.
Die Religion ist nicht nur das Verhältnis zu Gott, sondern auch das Verhältnis des Menschen zum Menschen. Ich sage mir: Kann es wahre, volle Liebe zum Nächsten ohne höchste Schätzung der menschlichen Persönlichkeit, ohne Glauben an die Unsterblichkeit der Menschenseele geben? Ich kenne alle Einwände der Materialisten, Pantheisten, Aufklärer und so weiter; aber die Liebe zum Nächsten, die natürliche und keiner Beweise bedürftige Liebe – ist sie uns allein nicht schon ein Beweis dafür, was der Mensch uns sein soll und sein muß? Ich berufe mich auf Jesu Liebe zum Nächsten, ich berufe mich auf Platons Anerkennung der Unsterblichkeit. In dieser Richtung bin ich Platoniker; Plato mühte sich als erster um Beweise der Unsterblichkeit. Ich gehe mit Plato auch gegen die modernen Theologen, die sich mit dem Glauben an die Unsterblichkeit keinen rechten Rat wissen; sie schieben sie in die Apologie und andere Lehren ab und lassen sie in der Dogmatik aus. Um so mehr lobe ich mir Plato, weil er auf die Wichtigkeit dieser Lehre auch methodisch hingewiesen hat.
Die Frömmigkeit ist ein besonderer Zustand von Wahrhaftigkeit; dem frommen Menschen ist Welt und Leben gleichsam ein klassisches Drama, aber ohne satyrisches Nachspiel; das klassische Drama ist eben dem Ursprung und Wesen nach eine religiöse Kundgebung. Das Leben ist keine Posse, keine Komödie, keine Tragödie, es ist ein Drama; es ist niemals ohne Größe, ohne Schicksalslogik. Etwas Humor schadet dabei nicht: das hat Shakespeare begriffen. Gewiß hat auch Jesus gelächelt, denn in der Liebe ist Freude. Durch die Religion erfassen wir die Bedeutung des Lebens, seinen Ernst und Wert – und seine Schönheit. Die Erhabenheit und Größe Gottes erfüllt uns mit Verehrung und Ergebenheit. Die Religion gibt auch uns einen Teil dieser Größe, einen nur kleinen Teil, der uns die natürliche Demut nicht erläßt; gerade die Religion überwindet den Titanismus. Erinnern Sie sich, daß das Alte Testament mit Titanismus beginnt; die Schlange verspricht dem ersten Elternpaar, daß es wie die Götter sein werde. Der Titanismus von Goethes Faust beginnt tatsächlich bei Adam. Wie sollte dieser Titan auch nicht! Er sagt doch selbst: »Mir fehlt der Glaube.«
Die Frömmigkeit ist individuell, läßt aber keinen Solipsismus zu; in der Frömmigkeit selbst ist die Anerkennung der Welt außerhalb unser selbst, der Welt Gottes und der Welt des Nächsten enthalten.
Die Religion überwindet in uns die Vereinsamung; man stelle sich nur lebhaft vor, was es bedeutet, allein zu sein! Ich habe mich oft in absoluter Einsamkeit beobachtet. Bei uns ist die Natur zu reich, als daß wir das völlige Gefühl von Einsamkeit haben könnten; in der Wüste ist dieses Gefühl vollständiger. Jesus ging denn auch in die Wüste – die Meditation erfordert Einsamkeit. Sammlung tut dem Menschen not. Sie kann aber kein Beruf sein; darum haben die Einsiedler kein normales Leben gelebt. Das Leben erfordert Arbeit für sich und für den Nächsten; wir dürfen vor den Schwierigkeiten des Lebens und der Welt nicht fliehen, wir müssen die Welt überwinden. Mönchtum und Einsiedlertum ist als Stand und Beschäftigung eigentlich eine Mechanisierung der Einsamkeit: nicht Sammlung, sondern Gewohnheit – oder Handwerk.
Ich weiß, daß der metaphysische Vorwitz noch nach vielen Dingen fragen kann und fragt; Sie wollten aber mein Credo hören; sein letztes Wort ist reverentia: die bewußte Achtung vor Gott und dem Menschen; in der Achtung des Nächsten ist die Liebe inbegriffen, ich will sagen, auch die bewußte Liebe.
»Sie betonen die Bewußtheit, also den Verstand auch in der Religion.«
Ja, wie in allem; überall müssen wir den kritischen, vergleichenden Verstand betonen. Die Frömmigkeit ist ein natürlicher Zustand des Menschen. Schon Paulus erkannte die natürliche Religion neben der geoffenbarten oder übernatürlichen an; auch heute pflegt man zu sagen: anima naturaliter christiana. Die natürliche Religion besteht eben darin, daß wir uns durch unsern eigenen Verstand und unsere Begabung der Welt und unseres Verhältnisses zu ihr bewußt werden. Der Glaube an die Gottheit, unsere Beziehung zu Gott, kurzum die Religion ist das Ergebnis tiefen Nachdenkens und der Erfahrungen der Zeiten; jeder von uns knüpft bewußt oder unbewußt an die historische Entwicklung und tausendjährige Tradition an. Der denkende Mensch will und muß sich einfach klar werden: was ist die Welt, wer hat sie geschaffen, was ist Gott, was sind wir selbst, wohin gehen wir, was ist der Tod? Letzten Endes laufen alle diese Fragen in der einen zusammen: was, wer bin eigentlich ich? Diese Fragen und die Antworten auf sie erregen freilich stark unsere Gefühle, beflügeln unsere Hoffnungen und bewegen unseren Willen; deshalb übersehen wir in ihnen den verstandesmäßigen Anteil – doch darüber haben wir schon gesprochen. Die sogenannten Gefühlserkenntnisse, Intuitionen, Erleuchtungen, Inspirationen, die Schau und Ähnliches, alles das sind rasche sinnliche und verstandesmäßige Beobachtungen oder Urteile, die wir der begleitenden oder nachfolgenden gefühlsmäßigen und freien Erregung zuschreiben. Das gilt auch für die Frömmigkeit und die Religion; wir haben religiöse Gefühle, Stimmungen und Sehnsüchte, aber wir hätten sie nicht ohne Glauben, und Glaube ist Urteil, Überzeugung – also verstandesmäßige Tätigkeit. Jeder Glaube kommt letzten Endes aus dem Verstand, wenn auch aus unvollkommenem, irrendem Verstand. Der wahre Glaube ist kein Nagel, an den man sich in der Verzweiflung über die Schwäche des Verstandes halten kann ...
»... noch Opium zur Beschwichtigung der beunruhigten Seele.«
Ja. Der echte, richtige Glaube schläfert nicht ein, sondern erweckt und spornt an.
»Sie haben von Toleranz gesprochen; das Bedürfnis nach Toleranz bedeutet schon an sich, daß es niemals nur einen Hirten und einen Stall geben wird.«
Einen Hirten – vielleicht, einen Stall nicht so bald. Eben infolge der natürlichen Unterschiedlichkeit der Menschen; wieviele christliche Kirchen und Sekten gab und gibt es doch, wieviele Auslegungen der Schrift und der Lehre Jesu seit den ersten Anfängen des Christentums bis heute, und wieviele Gegensätze auch in den wissenschaftlichen Anschauungen! Ich habe meine Auslegung und meine Überzeugung; aber ich erkenne die Gleichberechtigung des Nächsten an, belästige deshalb nicht sein Gewissen und gewöhne mich daran, tolerant zu sein. Toleranz ist, wie ich wiederholen möchte, eine positive Tugend, eine neue, eben durch das echte Christentum verkündete Tugend. Durch die wahre Toleranz wird der universale Stall, der einigende Stall errichtet; der Katholizismus bemüht sich um ihn, heute strebt die Wissenschaft, der Internationalismus und der Pazifismus nach ihm. Es ist die Fortsetzung des Weges, den uns die Religion gewiesen hat.
Man sagt: »Die moderne Krise.« Es ist wahr, daß alle Kirchenreligionen ihren Einfluß verloren haben und verlieren. Die Wissenschaft gerät immer mehr in Widerspruch zur theologischen Lehre – das besagt aber nicht, daß in der Bibel und in den Theologien nicht genug richtiger Erkenntnisse gerade über Religion und Frömmigkeit enthalten wären. Doch wie kommt es dann, daß die Menschen trotz den Erschütterungen des Glaubens in den Kirchen bleiben? Ich sehe auch darin die Anerkennung des Wertes der Religion und des Bedürfnisses nach ihr.
Die Religion muß heute eine andere Funktion haben als früher. Ehemals war die große Masse der Menschen ungebildet, unwissend, Analphabeten; deshalb wurde sie zum Gehorsam angeleitet, geistig und politisch herrschte die Autorität. Die Kirche als geistige Aristokratie war das Vorbild der politischen Aristokratie. Sie war somit auch hierarchisch organisiert, der Aristokratismus ist eben die Anerkennung des Unterschiedes zwischen den Menschen. Heute verfügt fast jeder Mensch über eine gewisse Bildung; dadurch ist er auch autonomer. Die Religion muß einerseits mit der Entfaltung des wissenschaftlichen Denkens einen Ausgleich finden, andererseits mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse – und nicht in ihrer Lehre allein. Auch die christliche Liebe zum Nächsten hat eine große Aufgabe vor sich: die gerechten Ansprüche des Sozialismus.