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Die Republik

Der alte Baum

Eines überraschte mich, als ich aus dem Krieg zurückkehrte: wie sehr meine Bekannten, meine Altersgenossen gealtert waren. Während der Dauer des Krieges hatte ich alles andere vergessen, hatte mich mit ganzer Aufmerksamkeit in den Krieg versenkt, in alle seine Einzelheiten und Folgen, und als ich dann die Veränderung an den Menschen sah, stutzte ich bei dem Gedanken, offenbar auch selbst gealtert zu sein.

Ich kenne eine alte Eiche; sie soll neunhundert Jahre alt sein, aber weder ihre Größe noch ihr Alter hindern sie daran, neue Blätter zu treiben und zu blühen.

Der Mensch sollte auf ähnliche Weise alt werden. Jahrhunderte zu leben, das sollte keine Kunst sein. Mit den künstlichen, nicht-natürlichen Eingriffen erreicht man das selbstverständlich nicht. In gesunder Luft und in der Sonne wachsen, vernünftig essen und trinken, sittlich leben, mit Muskeln, Herz und Hirn arbeiten, Sorgen haben, ein Ziel haben – das ist das ganze Rezept der Makrobiotik. Und das lebendige Interesse nicht verlieren: denn das Interesse ist eben das Leben selbst, ohne Interesse und ohne Liebe gibt es kein Leben.

Wir messen das Leben viel zu einseitig, nach seiner Dauer und nach seiner Größe. Wir denken mehr daran, das Leben zu verlängern, als es wirklich auszufüllen. Viele Menschen fürchten den Tod, haben aber keine Bedenken, de facto nur halb zu leben, ohne Inhalt, ohne Liebe, ohne Freude. In der Erkenntnis der Wahrheit, in der sittlichen Ordnung, in der tätigen Liebe nehmen wir schon in diesem Leben an der Ewigkeit teil, verlängern wir unser Leben nicht um Tage oder Jahre, sondern um die Ewigkeit. Es ist gut, daß wir das Menschenleben zu verlängern trachten; aber darüber hinaus sollen wir es wertvoll gestalten.

Manchmal kehrt mir ein Traum wieder, ich weiß nicht, woher er kommt, vielleicht von einem Bilde: ein Schiff auf der See, und darüber neigt sich ein Engel mit einer Uhr; von Zeit zu Zeit sinkt aus der Uhr ein Tropfen ins Meer und der Engel spricht: Wieder ist eine Minute dahingegangen. Diesen Traum rufe ich mir immer als Warnung ins Bewußtsein: Arbeite, schaffe, solange deine Minuten fließen.

Viele Menschen altern nur aus Bequemlichkeit, weil sie nichts mehr tun wollen. Nicht altern, das heißt nicht nur sich erhalten, sondern immer weiter wachsen, immer empfangen. Jedes Jahr soll so sein, als stiege der Mensch um eine Sprosse höher auf der Leiter.

Ich gebe selbst acht, ob ich altere; ich kontrolliere meine geistigen Fähigkeiten, mein Gedächtnis, meine Kombinationsgabe und alles übrige. Wenn ich sähe, daß ich eine dieser Hauptfähigkeiten verlöre, würde ich den Jüngeren sofort den Platz räumen.

*

Ein Wort über die Pflege des Körpers: Wenn es nach mir ginge, würde ich trachten, ohne Ärzte auszukommen. Aber wenn einer nicht selbst für seine Gesundheit sorgen kann, müssen die Doktoren für ihn sorgen. Ein gebildeter Mensch soll sich beobachten, soll über seine Diät nachdenken; das ist kein Materialismus – Materialismus ist es, nicht daran zu denken und zu essen und zu trinken, was die Gurgel begehrt, ohne Maß und gegen die Vernunft.

Vor allem also Mäßigkeit: viel weniger essen und trinken, als in der Regel getrunken und gegessen wird. Ich esse dreimal täglich: zum Frühstück zuerst etwas Obst, ein Stückchen Butter und Marmelade auf Toast, mitunter ein Stückchen gebratenen Speck und etwa ein halbes Glas ungesüßten Tee. Früher aß ich manchmal auch ein weiches Ei, aber das soll nicht sehr gesund sein. Zu Mittag einige Löffel klare Suppe, ein Stückchen Fleisch, reichlich Gemüse, ein Stückchen Mehlspeise, Obst und schwarzen Kaffee. Das genügt. Auch meinen Gästen biete ich mittags nicht mehr, bis auf das Zugeständnis, daß sie ein sogenanntes Entree bekommen, gewöhnlich Fisch; ein solches Vorgericht regt angeblich den Appetit an – ich weiß nicht, wozu das gut ist; es genügt doch, den natürlichen Hunger zu stillen. Zwischen den drei Mahlzeiten nehme ich nichts zu mir, es sei denn einen Schluck reinen Tee um fünf Uhr, wenn Besuch da ist.

Der Magen muß sich ausruhen wie jeder arbeitende Muskel, und das kann er durch hungern. Die Mehrzahl der Menschen läßt ihren Magen bis zur Erschöpfung arbeiten; sich überessen ist so, als wollte man über seine Kräfte schwere Lasten tragen. Heute warnt auch schon die Medizin vor dem Dicksein. Die Dicken erreichen kein hohes Alter, weil sie ihren meisten Organen eine viel zu große Anstrengung auferlegen. Und außerdem ist das Dicksein kein schöner Anblick. Natürlich gehört es auch zum Humanitätsprogramm, daß die Menschen schön sind.

Was das Trinken betrifft, so habe ich von Kindheit an Wein getrunken, denn ich stamme aus einer Weingegend. Bier trinken lernte ich erst in der Stadt. Erst gegen mein fünfzigstes Lebensjahr erkannte ich, daß der Alkohol zu nichts Gutem taugt, eher zum Bösen, und hörte überhaupt auf zu trinken. Nach meiner letzten Krankheit nötigten mich die Ärzte, vor dem Essen ein Gläschen Wein zu trinken; es schmeckte mir nicht und schließlich stellte ich fest, daß es auch ohne Wein und eher besser geht. Als Präsident wollte ich auch meine Gäste zwingen, ohne Wein oder Bier zu essen, aber das ging nicht. Nun gut, denke ich mir, jeder möge tun, was ihm beliebt. Abstinenz ist nicht meine Religion, aber von Zeit zu Zeit versuche ich, meine Mitbürger darauf hinzuweisen, wie dumm eigentlich unmäßiges Trinken ist.

Meine sonstige Lebensführung ist einfach. Wenn ich früh aufstehe, bade ich in kaltem Wasser und turne dann. Dazu habe ich mein eigenes System. Täglich gehe oder reite ich ein bis zwei Stunden. Ich vertrage es noch jetzt, zwei bis drei Stunden im Sattel zu sitzen, bis vor einigen Jahren ritt ich sogar fünf Stunden.

Das Rauchen. Als Junge spielte ich den Mann. Im Jahre 1866 wollte ich den Preußen zeigen, daß ich ein Tscheche war, drehte mir Zigaretten aus weißrotblauem Papier und paffte sie vor ihnen. Später, an der Universität, rauchte ich eine Zeitlang Zigaretten, aber es vergnügte mich mehr, sie geschickt zu bereiten.

Rauchen, Trinken und Unmäßigkeit sind keine Bedürfnisse, sondern nur Gewohnheiten. Wollen wir gesunde Kinder erziehen, so genügt es nicht, sie zu belehren, man muß ihnen praktisch gesunde Gewohnheiten beibringen.

Ich habe irgendwo gelesen, der Tod sei ein Unfug. Ich will über den Tod nicht streiten, aber gewiß sind vorzeitiges Altern und viele Krankheiten nur Unfug. Ich glaube daran, daß die Menschen ihre Gesundheit und ihre Gewohnheiten immer mehr in die Gewalt bekommen werden wie die Naturkräfte und daß sie einst auf viele unserer Krankheiten mit demselben Grauen zurückblicken werden wie wir auf die mittelalterliche oder asiatische Pest. Die moderne Medizin hat recht, wenn sie aufhört, nur zu heilen und lieber vorbeugt und erzieht.

Das Amt des Präsidenten

Daß ich Präsident wurde ... vorbereitet war ich darauf nicht. Obgleich ich als Haupt unserer Auslandsregierung anerkannt, obgleich ich schon sicher war, daß wir aus dem Kriege frei hervorgehen und ich heimkehren würde – was ich, wieder daheim, tun würde, darüber nachzudenken hatte ich keine Zeit. Noch eine Zeitlang an der Universität dozieren? Daneben Abgeordneter und Journalist sein?

Als man mich im November 1918 zum Präsidenten gewählt hatte – gut. Zunächst konnte ich mir den Kopf darüber nicht zerbrechen, dazu gab es vor meiner Abreise von Amerika zu viele Sorgen. Erst auf dem Schiff hatte ich Muße, die neue Lage zu überdenken. Ich verglich die amerikanische und die schweizerische Republik miteinander; ich revidierte den Kataster unserer politisch und administrativ reifen Persönlichkeiten; ich stellte mir die Einzelheiten des notwendigen Staatsaufbaus vor, überlegte, wie unser Staat aussehen sollte und derlei Dinge mehr. Ich hatte mich schon längst mit der Analyse des Staates, seinen Formen und Funktionen befaßt; als Abgeordneter hatte ich die Zusammensetzung Österreich-Ungarns und alle seine politischen und kulturellen Kräfte bis ins Einzelne studiert. Im Augenblick entbehrte ich sehr die genaue Kenntnis der Entwicklung, die die Verhältnisse in der Heimat inzwischen genommen hatten. Zugleich mußte ich mich auf das vorbereiten, was in London, Paris und Italien geschehen würde. Ich war mir klar darüber, daß ich diese politischen Zentren und die Personen, die auf der Friedenskonferenz das neue Europa schaffen sollten, besuchen mußte – all das ging mir im Kopf herum. Ich mußte mich auch an die Formalitäten des Staatsoberhauptes gewöhnen.

Nachdem ich zurückgekehrt war, fühlte ich mich nicht sehr wohl. Ich glaubte, ich würde nicht mehr lange leben. Vielleicht lag das an den Anstrengungen und Aufregungen während des Krieges und an mehreren Grippeanfällen, die ich überstanden hatte. Für alle Fälle suchte ich, dafür zu sorgen, daß die Kontinuität gewahrt bliebe, daß nichts unsere im Ausland getrennt geleistete Arbeit unterbräche. Die Frucht der mehrjährigen Auslandsarbeit, all der Demarchen und Beziehungen sollte ja erst geerntet werden – dem galt meine erste Sorge.

Daheim mußte ich mich in die neuen Verhältnisse einleben. Die Regierung war schon gebildet, die revolutionäre Nationalversammlung war da, es gab schon manche neue Gesetze und Institutionen. Es war gut, daß ich fast alle Menschen unseres politischen Lebens längst kannte und wußte, was von jedem zu erwarten war. Und vieles, beinah täglich Neues, mußte ich lernen.

Es ist keine Kleinigkeit, der erste Präsident eines neuen Staates zu sein, der nicht seine Traditionen für Regierung und Repräsentation hat. Ich sah Fehler, die geschahen und die ich selbst beging. Etwa eine solche Geringfügigkeit: ich vergaß, daß ich Präsident war, und versprach meinen Kameraden, am Tage nach der Eidesleistung in das Kaffeehaus zu kommen, wo wir im Jahre 1914 unsere politischen Beratungen abzuhalten pflegten. Ich gehe von der Burg in die Stadt – ein Auflauf von Menschen! So lernte ich, Präsident sein, und lerne es noch heute. Immer entstehen neue Situationen, in denen ich mich entscheiden muß.

Ich mußte viel darüber nachdenken, was der Präsident eines demokratischen Staates ist und wie er zu sein hat. Als die Verfassung geschaffen wurde, stellten sich viele vor, daß die Funktion des Präsidenten der Republik mehr oder minder repräsentativ sein würde, de facto ohne Möglichkeit, unmittelbar in die politischen Ereignisse einzugreifen. Das wäre ein Analogon zur streng konstitutionellen Monarchie (England), aber bei uns war die erste Verfassung weder theoretisch noch praktisch genügend vorbereitet; man hatte den alten Staatsapparat übernommen – das war nicht richtig – und das Neue entstand unter dem Druck der von Grund aus veränderten Verhältnisse. Ich machte meinen Einfluß mit Hilfe Švehlas und anderer geltend. Ich setzte mich zum Beispiel dafür ein, daß der Präsident das verfassungsmäßige Recht hätte, nicht nur die Entwürfe der Regierung und des Parlaments zu billigen, sondern sich an den Regierungsberatungen zu beteiligen und nach Bedarf initiativ sogar im Parlament aufzutreten. Es ging mir auch darum, den fachmännischen Charakter der Verwaltung und Regierung zu sichern; darum haben wir bei uns eine kombinierte, parlamentarisch-fachmännische Regierung.

Ich glaube, daß unsere Verfassung gut ist. Es handelte sich aber und handelt sich stets weiter darum, den Buchstaben mit Leben zu erfüllen. Es gibt in unserer Verfassung, wie in jeder andern, gewisse Unklarheiten. Dieses und jenes könnte anders lauten. Wir haben zum Beispiel unverhältnismäßig viele Abgeordnete, nach dem Vorbild Englands genügten uns rund zweihundert. Es ist wahr, daß es heikel ist, die Verfassung zu ändern; dafür haben wir ja das Vorbild Amerikas: dort wurden seit Annahme der Verfassung 1787 in 140 Jahren nur 19 Verbesserungen durchgeführt, obgleich mehr als 2000 Entwürfe eingereicht worden sind. Und die Verbesserungen waren eigentlich Ergänzungen, zum Beispiel das Frauenwahlrecht. Der ursprüngliche Text bleibt in Gültigkeit.

Wie ich gesagt habe, handelt es sich nicht nur um den Wortlaut des Gesetzes, sondern darum, wie wir es verstehen und wie wir es durchführen. Alle Gesetze, auch die Verfassung, bleiben bei der fortwährenden Entwicklung der Verhältnisse so lange unverändert, bis sich endlich zeigt, wo und was neu zu kodifizieren ist. Das sogenannte Gewohnheitsrecht bestand nicht nur in den Anfängen der Kultur, es gilt heute noch, wenn auch in veränderten Formen.

Bei allem, was ich tat, mußte ich mir überlegen, was für einen Präzedenzfall ich damit schaffen würde; und das war häufig eine harte Nuß. Man mußte bewußt Tradition schaffen. Da ist zum Beispiel das unvermeidliche Zeremoniell: ich trachtete, daß sich auch darin der Demokratismus ausdrückt, wie es der Zeit und dem Charakter unseres Volkes entspricht. Ich wünschte, daß sich unsere Leute besser als bisher der Notwendigkeit von Symbolen bewußt würden. Nicht nur das religiöse, sondern auch das politische Leben äußert sich sinnlich und ideell in Symbolen.

Ich hatte bisher in privater Zurückgezogenheit gelebt, aber jetzt mußte ich mich mit den Wachen, mit den Paraden, den Empfängen und all der Repräsentation aussöhnen.

Ich möchte bemerken, daß wir uns in dieser Beziehung gut eingerichtet haben. Unser republikanisches Zeremoniell, unser Protokoll, ist in vieler Hinsicht vorbildlich geworden. Ich selbst lebe für mich so, wie ich wünschte, daß jeder Bürger leben könnte; meine einzige kostspielige Vorliebe sind Bücher; aber die werden der Öffentlichkeit dienen. Ein großes Opfer, ein empfindliches Opfer ist mir dadurch auferlegt, daß ich mich beständig unter offizieller Aufsicht und unter den Augen der Leute befinde.

Natürlich bereiteten mir die politischen und administrativen Tagesfragen viel Sorgen. Denken Sie nur an die Anfänge der Republik, den Zusammenbruch der Valuten rings um uns, an die Bürgerkämpfe und Putsche in fast allen Nachbarstaaten. Wir haben fast schon vergessen, was seinerzeit gefährlicher war, die wirtschaftliche Verelendung, die kommunistische Welle oder die verzweifelten Umsturzversuche der besiegten Schichten des alten Regimes. Und immer noch heißt es auf der Hut sein gegen alte und neue Fehler. Heute erscheint es uns fast als selbstverständlich, daß unser Staat das alles in verhältnismäßiger Ruhe überlebt und dabei seine Ordnung aufgebaut hat. Aber damals hieß es, den Verstand zusammennehmen und nicht den Kopf verlieren. Ich hatte wöchentlich, auch mehrmals wöchentlich Beratungen mit Švehla, Tusar, Rašín und anderen. Beneš pflegte im Ausland zu sein, das bedeutete eine ausführliche Korrespondenz. Was gab es da für Beratungen, gemeinsame Mittagessen, das heißt wieder Beratungen in anderer Form, Spaziergänge und Reden! Ich denke gern an diese Zeiten zurück. Ich wurde mir in concreto über den Wert der Persönlichkeit in der Politik und im Staate klar.

Ein gutes Programm ist eine gute Sache; aber außerdem muß ein ehrenhafter, tapferer und weiser Mensch da sein, der den Mut zur Verantwortung hat. Deshalb sehe ich mich immer mehr nach Menschen als nach Schlagworten um. Wir hören bei uns noch zu sehr auf Schlagworte – das ist, glaube ich, auch ein Erbe aus Österreich-Ungarn. Dort hatten nicht wir die Verwaltung und die Politik in Händen, sondern Wien hatte sie, und so gewöhnten wir uns mehr, als gesund ist, an Schlagworte. Ich weiß, daß man in der Politik ohne Schlagworte nicht auskommen kann. Aber da wir nun unsern Staat selbst in Händen haben, muß man die Schlagworte – oder, wenn Sie wollen, die Ideale – in bestimmten und durchdachten Forderungen, Ratschlägen und praktischen Programmen verkörpern. Unsrer Journalistik merkt man an, wie ungenau, negativ, polemisch, unkonstruktiv wir noch denken. Ich habe nichts gegen Kritik; mein Gott, fast während meines ganzen Lebens bin ich als Kritiker aufgetreten; aber ich ziehe eine konstruktive, beratende, nicht aufgeregte Kritik vor. Nicht einmal die Revolution darf nur negativ sein, sie muß positiv gerechtfertigt und vorbereitet sein – wie könnte sich dann die reformierende Kritik mit der Negation zufriedengeben?

Selbstverständlich halte ich noch heute Beratungen mit den führenden Politikern und Ministern ab, und zwar sehr häufig. Ich trachte, alles zu kontrollieren, wenn ich auch in den administrativen Gang der Geschäfte möglichst wenig eingreife. Es ist nötig, daß die Minister selbst lernen, wie auch ich lernen mußte. Oft, vielleicht täglich sage ich: Noch dreißig Jahre einer ruhigen, vernünftigen und arbeitsamen Entwicklung, dann ist unser Staat gesichert. Aber für diese dreißig Jahre kann ich die wirklich führenden, erprobten und starken Männer an den Fingern abzählen, die jüngeren kenne ich schon zu wenig. Ich sehe mich nicht nur nach Politikern, sondern nach Staatsmännern um. Deren haben wir – ich sage es gerade heraus – nicht so viele, daß wir uns ohne die Arbeit aller behelfen könnten. Darum Achtung, daß wir bewährte Arbeiter nicht unnötig verlieren oder aus bösem Willen verbrauchen!

Wir müssen noch vieles lernen: vor allem die Kunst, die Abgeordneten, Politiker, Journalisten und Beamten nach dem größeren Maßstab des Staatsmannes kritisch zu beurteilen. Staatsmann ist nicht, wer nicht wenigstens ein Stück Weges voraussieht und die Entwicklung der künftigen Jahre vorbereitet.

Nichts ist vielleicht für die Politik und für das Leben so wichtig wie Menschenkenntnis. Die richtigen und berufenen Menschen zu erkennen und die unrichtigen und unrechtmäßig sich an die Öffentlichkeit drängenden zu durchschauen! Jeder erfolgreiche Umsturz trägt viele Parvenüs, Schreihälse und falsche Propheten an die Oberfläche. Auch wir haben solche. Man erkennt sie an ihren Früchten, und am Ende werden sie von allen erkannt. Denn über alles hinweg, was uns in Lager und Parteien teilt, wollen wir wohl alle eine vernünftige und ehrliche Politik. Zwei mal zwei ist und bleibt auch in der Politik nur vier.

Ebenso wichtig wie die innere Politik war und ist mir immer die auswärtige, besonders in der Nachkriegszeit. Hier muß man doppelt scharf voraussehen und auf die künftigen Dinge vorbereitet sein, niemals und durch nichts sich überraschen lassen. Die Fragen, die in die Zukunft hinausreichen, sind niemals eng begrenzt; wir können nur dann Schätzungen nach vorwärts wagen, wenn wir im Rahmen des Möglichen den weitesten Zusammenhang und das Zusammenspiel aller Kräfte und Faktoren berücksichtigt haben. Man muß wissen, um voraussehen zu können, wie Comte sagt. Die Außenpolitik ist und soll eine Sache der großen und konsequenten Staats- und Weltkonzeption sein. Dabei stellt sich selten jemand vor, wieviel Kleinarbeit und unsichtbare Initiative die Außenpolitik erfordert. Für mich wenigstens ist sie eine unaufhörliche Arbeit. Ich habe mich während des Krieges davon überzeugt, welchen praktischen Wert in der Politik, namentlich in der internationalen, persönliche Beziehungen und ehrliche persönliche Informationen haben. Sympathie und Vertrauen sind ein besseres Argument als Schlaumeierei. Auf diesem Gebiet ist die Funktion des Präsidenten natürlich manchmal eine formell amtliche, aber unverhältnismäßig viel öfter eine private. Allerdings bin ich mir wohl bewußt, daß der Begriff des Privaten in diesem Falle durch die Gesetze nicht definiert ist. Und gerade bei uns ist es, weil unsere Leute früher wenig Verbindung zum Ausland hatten, noch immer nötig, informative und freundschaftliche Beziehungen zu unzähligen Menschen anzuknüpfen, die aus Interesse für unsern Staat und unsere Einrichtungen zu uns kommen. Nur die wenigsten wissen, wieviel Zeit ich dieser Arbeit gewidmet habe.

Viele Menschen besuchen mich nicht als Präsidenten, sondern als den Autor politischer und anderer Schriften, als den Urheber von Ideen, für die sie sich interessieren. So diene ich bei dieser Anknüpfung von Beziehungen auch als Schriftsteller, Schulmeister und Journalist. Ungern belehre und erkläre ich, lieber erfahre ich etwas; aber ob gern oder ungern, ich muß es abarbeiten. Gute, freundschaftliche Beziehungen zum Auslande ermöglichen geeignete wirtschaftliche Verbindungen.

Ein anderes Kapitel meiner Politik betrifft die Burg, d. h. ihre Wiederherstellung; aus ihr möchte ich ein Denkmal unserer Geschichte machen, ein Bild unseres alt-neuen Staates, ein Symbol nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft. In concreto: die monarchische Burg umwandeln in eine demokratische.

Viel Interesse widmete ich von Anfang an unserer Armee. Die Militärfragen habe ich schon als Abgeordneter in Österreich studiert, weit mehr noch während des Krieges, als ich mit seinem Ausgang rechnen mußte und unsere Armee in Rußland organisierte. Ich bin entschiedener Pazifist, liebe aber die Armee. Selbst wenn es keine Kriege mehr gäbe, wären zwei soldatische Grundtugenden jedem ganzen Mann unentbehrlich: Zucht und Tapferkeit.

Wenn ich den Frieden will, so bedeutet das nicht, daß ich einen Angriff ohne Abwehr hinnehmen würde. Im Gegenteil. Ich will den Frieden praktisch, nicht utopisch: das heißt, daß ich zur Erhaltung des Friedens alle Kräfte an Scharfsinn und Liebe für Nation und Menschheit anspanne, aber wenn es nötig ist, auch alle Kräfte der Verteidigung. Darum muß man furchtlos, mannhaft, so stark wie möglich sein. Es gibt und gab niemals den geringsten Widerspruch in meinem Streben, den Staat zu verteidigen.

Wir brauchen zum Ausbau des Staates und zu unser aller persönlichem Glück den Frieden; darum werden wir ausdauernd und wohlbedacht für den Frieden arbeiten. Des Friedens bedürfen alle anderen Nationen und Staaten ebenso wie wir. Das neue Europa ist wie ein auf dem großen Friedhof des Weltkriegs errichtetes Laboratorium: ein Laboratorium bedeutet und erfordert die Arbeit aller. Und die Demokratie – die moderne Demokratie – ist noch in den Anfängen. Es wäre ein Fehler, die Anhänger und Verteidiger des alten, aristokratisch-monarchistischen Regimes zu übersehen – auch bei der Arbeit!

Soldaten wird es, in irgendeiner Form, vielleicht immer, jedenfalls noch lange geben. Ich meine: Die Nation braucht die geschulte Bereitschaft junger, mutiger und abgehärteter Männer, die jederzeit bei großen Katastrophen zur Arbeit dirigiert werden können und zur Verteidigung bereit stehen.

Schwer lastete auf mir die Frage der Todesstrafe. Es kostete mich immer viele Nächte, wenn ich ein Todesurteil unterschreiben sollte, und die Tage, an denen ich es tat, habe ich in meinem Kalender mit einem schwarzen Kreuz verzeichnet. Ich beobachtete aufmerksam, ob die Todesstrafe einen Einfluß auf die Verbrechen ausübt. Ich studierte die Statistik der Verbrechen, namentlich der Mordtaten in der ganzen Zeit, sehe aber nicht, daß die Todesstrafe auf die verbrecherisch veranlagten Menschen abschreckend gewirkt hat. Der Verbrecher denkt im Augenblick des Mordes nicht an die Strafe, sondern an den Erfolg seiner Untat. Eine gewisse Wirkung wird nur auf die anderen Mitbürger, vor allem auf diejenigen, die nachdenken, ausgeübt.

Mein Argument für die Todesstrafe ist nicht, daß sie abschreckend wirkt, sondern daß sie eine sittliche Sühne enthält; einem Menschen das Leben nehmen, ist ein so fürchterliches Unrecht, daß es nur durch eine ebenso schwere Sühne ausgeglichen werden kann. Ich mache allerdings den notwendigen Unterschied zwischen Mord und Totschlag und erkenne Milderungsgründe bei jedem Verbrechen an, wie es die moderne Kriminalpsychologie erfordert. Aber in Ausnahmefällen kann ich nicht bestreiten, daß die Todesstrafe der metaphysischen Anerkennung des Wertes des Menschenlebens entspricht. Ich glaube daran und erwarte, daß mit der höheren Bildung und Sittlichkeit der Bevölkerung die Todesstrafe unter Zustimmung aller aufgehoben werden wird.

*

Soll ich sagen, worin mein Leben sich erfüllt hat, so ist es nicht, daß ich Präsident geworden bin und diese ebenso große Ehre wie schwere Pflicht tragen kann. Meine persönliche Genugtuung, wenn ich so sagen darf, liegt tiefer: daß ich auch als Staatsoberhaupt nichts Wesentliches von dem gestrichen habe, woran ich als armer Student, als Lehrer der Jugend, als unbequemer Kritiker und Reformpolitiker geglaubt und was ich geliebt habe; daß ich, zur Macht gelangt, kein anderes sittliches Gesetz, keine andere Beziehung zum Nächsten, zur Nation und zur Welt gefunden habe als die, von denen ich mich vorher habe lenken lassen. Ich darf sagen, daß sich mir alles das, woran ich geglaubt habe, bestätigt und erfüllt, so daß ich weder an meinem Glauben an Humanität und Demokratie, noch an meinem Wahrheitssuchen noch an dem höchsten sittlichen und religiösen Gebot der Menschenliebe etwas zu ändern brauchte. Ich sage aus einer Erfahrung, die ich in meiner Stellung immer wieder bestätigt finde, daß es für Staaten und Nationen und ihre Verwalter keine andere Moral, keine andere ethische Ordnung gibt als für den Einzelmenschen. Daraus spricht nicht die persönliche Befriedigung, daß ich während meines ganzen so seltsam und verwickelt verlaufenen Lebens ich selbst geblieben bin; wichtiger ist, daß die menschlichen und allgemeinen Ideale, zu denen ich mich bekannte, in so vielen Prüfungen unverändert geblieben sind und sich bewährt haben.

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Masaryk und John Galsworthy (1926)

Ich sage mir, daß ich in dem unaufhörlichen Ringen um eine bessere Zukunft der Nation und der Menschheit auf der guten Seite gestanden bin. Dieses Bewußtsein genügt, um ein Menschenleben schön und, wie man zu sagen pflegt, glücklich zu machen.


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