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Fragen Sie mich nach meiner Philosophie, meiner Noetik und Metaphysik, so habe ich sie allerdings literarisch nicht zu einem System verarbeitet, sondern nur gelegentlich dies und jenes aufgeschrieben. Selbstverständlich habe ich sie mir pro foro interno formuliert. Jeder Mensch hat seine Philosophie, wenn Sie wollen, seine Metaphysik. Ich will Ihnen im voraus sagen: niemals habe ich mich als Philosophen, geschweige denn als Metaphysiker ausgegeben ...
»Und das sagt ein Professor der Philosophie!«
Mit Recht. Ich habe Geschichtsphilosophie gelehrt, Philosophie der Geschichte und Soziologie. Häufig wird Psychologie, Ethik, Rechtsphilosophie, Philosophie der Geschichte, Soziologie und wer weiß was sonst zur Philosophie gerechnet. Das ist aber eine unrichtige Klassifikation der Wissenschaften. Das sind lauter selbständige Fachwissenschaften oder Teile davon; allerdings hat jedes Fachwissen seine philosophische Grundlage, seine nahe Beziehung zur Philosophie. Wahre philosophische Wissenschaften gibt es aber nur zwei: die Logik zusammen mit der Noetik – und die Metaphysik. Unter dem Wort Philosophie versteht man einerseits eine bestimmte Weisheit, eine tiefere Erkenntnis und ein Wissen und andererseits die gesamte Welt- und Lebensanschauung. Für mich ist die Philosophie – ich meine die wissenschaftliche Philosophie – der Versuch einer gesamten Welt-, implicite Geistesanschauung. Sie sollte die Summe alles Wissens, die Synthese aller Wissenschaften sein. Vermag aber heute jemand alle Wissenschaften zu umfassen, deren Fachwissen sich derartig ausgedehnt hat? Man vermag es eben nicht, und wäre man noch so gelehrt. Das ist das ernste Problem: Was ist, was kann die Philosophie oder die Metaphysik neben dem Fachwissen sein?
»Oder das Problem ist, ob Philosophie und Metaphysik Wissenschaft sein können.«
Das nicht. Die Philosophie, also auch die Metaphysik, kann nicht anders als wissenschaftlich sein, darf nie und in keiner Beziehung in Gegensatz zur wissenschaftlichen Erkenntnis geraten. Wenn ich von einem Problem spreche, so meine ich damit die Aufgabe. Die Aufgabe ist klar, aber ihre Lösung ist schwer; niemals wird sie das letzte Wort bringen, so wie in der menschlichen Erkenntnis niemals das letzte Wort gesagt werden wird.
Um Ihnen aber zu antworten: meine Philosophie, meine Noetik und Metaphysik sind in meinen literarischen Arbeiten enthalten; sie sind auch in dem, was und wie ich es getan habe ...
»... oder sie sind in ihrer praktischen Anwendung enthalten. Darin sind Sie vielleicht ein wenig Pragmatiker, Herr Präsident.«
Pragmatiker? Das nicht. Aber es gibt auch mehrere Arten von Pragmatismus; soweit es sich um Pierce oder William James handelt, so gehen diese beiden von Kant aus und sind mir schon dadurch fremd. Ich habe auch niemals solchen Nachdruck auf den Utilitarismus gelegt, und in religiöser Hinsicht stehe ich gar anderswo. James schreibt, daß der Pragmatismus nur ein neuer Name für alte Denkmethoden sei. Ich liebe neue Namen für alte Dinge nicht.
»Gewiß, es gibt mehrere Arten von Pragmatismus; ich möchte sagen, daß es auch einen tschechischen Pragmatismus gibt. Zum Beispiel die typischen tschechischen Denker: Komenský, Palacký, Havlíček. Ich weiß, man soll sie nicht alle in einen Sack werfen; aber es springt in die Augen, wie diese drei ihr Denken stets den praktischen Dingen des Lebens, den Lebensfragen der Nation zugewendet haben. Alle drei sind Politiker. Die typische tschechische Philosophie ist eigentlich politisch – vielleicht weil eine kleine Nation sich nicht den Luxus erlauben kann, um des Denkens willen zu denken. Das also möchte ich den tschechischen Pragmatismus oder die praktische Tradition der tschechischen Philosophie nennen; und in diese Tradition fallen für mich auch Sie.«
Das ist wahr, auf die drei können Sie verweisen: sie haben gelehrt, aber auch praktisch geführt. Ihre Politik war das Streben, das Volk durch Bildung und Humanität zu erneuern, die Nation politisch und geistig zu befreien. Es ist bezeichnend, daß alle drei eine Weltauffassung hatten.
Komenský, ein typischer Tscheche und ein schon recht neuzeitlicher Geist, war ein religiöser Mensch und lebte seine Religion auch als Erzieher und Politiker. Apostel der Humanität, Verkünder der Harmonie in allem und überall, arbeitete er für seine Nation durch die Arbeit für die ganze Welt, und hat diese ganze Welt durchmessen. Er ist der anerkannte Lehrmeister der Nationen – der wahre und erste bewußte Paneuropäer.
Palacký versenkte sich in die Geschichte unseres Volkes und gab uns die fundierte Philosophie unserer Geschichte. Aus ihr schöpfte er die Grundsätze unserer Politik und nahm an dieser Politik tätigen Anteil. An Palacký bewährt sich das alte Wort: Historia vitae magistra.
Und Havlíček war ein moderner, energischer Geist, stets aber vorsichtig, kritisch, seiner nationalen Verantwortlichkeit bewußt. Kurzum, das Vorbild des demokratischen Journalisten. Er folgte Palacký, war eine Zeitlang auch Abgeordneter und gab auf diese Weise ein lebendiges Beispiel dafür, wie eng Journalistik und Politik zusammenhängen. Sie haben recht, daß er auch Philosoph war, Philosophen sind ja nicht nur die Professoren, jeder denkende Mensch hat irgendeine, hat seine Philosophie, seine Metaphysik, versucht den Sinn des Lebens und der Welt zu erfassen. Und bei Havlíček ist jedes Wort, jeder Zeitungsartikel die Äußerung einer geschlossenen Weltanschauung.
Sie sprechen von unserer philosophischen Tradition. Ich glaube, sie wird nicht genug anerkannt; aber ich kann sagen, daß ich in den dreien mein eigenes und unser nationales Programm gefunden habe. Immer haben sie mich in meinen Anschauungen bekräftigt. Wenn Sie die praktische Art meiner Philosophie betonen, gut, ich habe stets gern gearbeitet und getrachtet, praktisch zu sein. Ich wandte mich zur Praxis und in die Praxis. Es gibt aber keine Praxis ohne Theorie. Die Theorie braucht nicht an sich formuliert zu sein, es genügt, wenn sie der Praxis zugrunde liegt und sie leitet.
»Also die Theorie für die Praxis.«
Ja, aber auch die Praxis für die Theorie. Die Theorie hat Wert, auch wenn sie nicht sofort der Praxis dienen kann. Erkennen ist ebenso wichtig wie Handeln. Durch Handeln erkennen wir ebenso, wie wir durch Erkennen das richtige Handeln vorbereiten. Ergibt sich mitunter ein Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, so liegt irgendwo ein Fehler vor: entweder ist die Theorie oder die Praxis schlecht, oft beide. Bei aller praktischen Art bin ich immer für die Theorie, für theoretisches, wissenschaftliches und philosophisches Erkennen. Ich bin gegen eitles Spekulieren, gegen Spiele mit Worten, bin gegen schlechte Praxis und überflüssige Arbeit – so wie die Theorie blütenlos sein kann, so kann die Praxis unfruchtbar sein. Arbeit und Nutzen sind nicht der Sinn des Lebens. Der Teufel ist sehr arbeitsam, er ist Tag und Nacht geschäftig und doch dumm. Wenigstens unser tschechischer und slavischer Teufel. Ich bin für Sachlichkeit, für das Erkennen der konkreten Dinge. Nicht Pragmatismus, sondern Konkretismus wäre meine Losung.
»Damit wären wir wieder fast dort, wo wir waren. An Stelle des Dualismus Theorie und Praxis setzen Sie den Dualismus der abstrakten und der konkreten Erkenntnis.«
Nein, der Gegensatz zwischen abstrakter und konkreter Erkenntnis ist nur logisch. Das Erkennen der Dinge, der Einzelheiten, das konkrete Erkennen, beruht auf abstraktem Erkennen. Zum Beispiel: die abstrakte Psychologie handelt von der Seele und dem Bewußtsein, von Vorstellungen, Urteilen, Gefühlen, Willen, Phantasie, Gedächtnis. Ja, aber alle diese Kategorien bestehen doch nicht an sich, sie sind nur abstrahiert; im lebendigen Menschen sind all diese Elemente und Tätigkeiten in eins verbunden. Jeder Mensch ist eine ganze Welt, ein Mikrokosmos, und es gibt nicht zwei gleiche Menschen. Was sind da für verschiedene Temperamente, Charaktere und Begabungen, was für Unterschiede des Geschlechts, des Alters, des Berufs, der Nation und der Rasse! Man hat auch schon eine konkrete Psychologie, zum Beispiel eine Psychologie der Kindheit, der Genialität, der Kunst und der Religion, eine Psychologie der Persönlichkeit usw. Aber vorher hat es ein abstraktes Erkennen geben müssen, damit man die konkrete Wirklichkeit der psychischen Einzelheiten gliedern und methodisch verarbeiten konnte. Entwicklungsmäßig und logisch betrachtet, geht die abstrakte Erkenntnis der konkreten voraus.
»Wenigstens soweit es sich um die wissenschaftliche Erkenntnis handelt.«
Ja, aber jedes wirkliche, systematische Erkennen ist wissenschaftlich oder zielt wenigstens auf Wissenschaftlichkeit hin. Es gibt keinen Gegensatz zwischen abstrakter und konkreter Erkenntnis, das Verhältnis ist rein logisch und methodisch: beide Arten der Wissenschaft sind durch das Studium derselben Gegenstände festgelegt, nämlich der konkreten Dinge.
Nehmen Sie dieses Beispiel: In der Natur besteht nicht das Leben, sondern lebende Individualitäten; es bestehen Menschen, Tiere, Pflanzen. Diesen Gattungen gemäß gibt es die Anthropologie, die Zoologie und Botanik; aber neben diesen Wissenschaften, und logischerweise vor ihnen, ist die Biologie entstanden, die abstrakte Wissenschaft vom Leben. Sind Sie nicht ein wenig Gärtner und wissen daher, was Ihnen alles an Schönheit und Verständnis der Natur entgehen würde, wenn Sie nicht mindestens etwas von der abstrakten Soziologie der Pflanzen kennen, wenn Sie nichts von ihrer Architektur, Vermehrung, Zusammensetzung, Chemie und dergleichen wissen würden? Wenn wir nicht den Weg der abstrakten Erkenntnis gingen, so stünden wir als Halbblinde vor der Welt der konkreten Einzelheiten.
Den eigentlichen Gegenstand der Erkenntnis bildet die Welt der Einzelheiten, der Individuen, der lebenden und nichtlebenden Individualitäten; aber zu dieser Erkenntnis gelangen wir auf dem Umweg der abstrakten Wissenschaften. Erkennen heißt tunlichst genau, tunlichst vollständig die konkrete Wirklichkeit erkennen; eben dazu muß man zunächst die konstituierenden Elemente und allgemeinen Gesetze der Dinge und verschiedenen Vorgänge abstrahieren, theoretisch konstruieren und in ein System des Wissens bringen – aber nicht vergessen, daß der wahre Gegenstand und das Ziel der Erkenntnis die Welt der singulären Wesen und Dinge ist, die uns allein gegeben wurde.
»Die uns – wozu gegeben wurde? Zu unserer Erkenntnis oder zu unserem Tun?«
Zu beidem, zum Tun und Erkennen. Man kann nicht handeln ohne Erkennen. Auch Erkennen ist Aktivität, Denken und Erkennen ist Tätigkeit, oft unendlich energische oder, wie wir sagen, schöpferische Tätigkeit. Man spricht vom technischen Zeitalter, man sagt, der heutige Menschentypus sei Techniker und nicht Denker. Aber wo wäre die Technik ohne die vorangegangene ungeheure theoretische Arbeit?
Der Erkenntnis nachgehen ist ein äußerst tätiges Leben. Wenn Sie Wissenschaft sagen, so sagen Sie damit auch Streben, Geduld, Ausdauer, Opfermut, Ehrlichkeit – lauter Forderungen des tätigen und des moralischen Lebens.
»Ordnen Sie dadurch die Wissenschaft der Ethik unter?«
Ich möchte sagen, nicht die Wissenschaft, sondern den Gelehrten. Der Ethik ist jeder und der ganze Mensch untergeordnet, alles, was er erlebt und tut, also auch das Erkennen. Die Erkenntnis ist eine moralische Pflicht ebenso wie die Liebe und der Dienst am Nächsten, wie jedes der moralischen Gebote. An den Gelehrten und Philosophen verehren wir nicht ihre Begabung, sondern ihr großes Streben nach Wahrheit – das ist eine sittliche Tat. Deswegen empfinden wir auch den Mißbrauch der Wissenschaft als Sünde, es ist die Sünde wider den heiligen Geist. Die Sittlichkeit und die Nützlichkeit der Wissenschaft bestehen darin, daß es einzig und allein, rein und streng um Erkenntnis geht, um Wahrheit; aber jede Wahrheit ist oder wird einmal gut sein für das Leben.
»Ja, aber vielleicht kommt es darauf an, wie man mit der Wahrheit umgeht.«
Sie wollen damit sagen, daß Wissenschaft und Erkenntnis mitunter mißbraucht oder unrichtig gebraucht werden. Jawohl. Dennoch möchte ich sagen: Die Wahrheit vor allem, immer und überall die Wahrheit! Die Wahrheit steht niemals in Widerspruch zur Sittlichkeit; keine Lüge oder Unwahrheit ist auf die Dauer gut, auch nicht die fraus pia. Unser Leben, unsere Anschauungen und Überzeugungen, unsere gesellschaftlichen Beziehungen sind mit einer Menge von Lügen belastet und dazu noch unnötigen Lügen. Die Lüge ist unmännlich; sie ist eine Waffe des Schwächlings, ziemlich oft des Gewalttätigen, nicht des starken Menschen. Die Wahrheit, die redliche Wahrheit, die wirkliche Erkenntnis kann niemals Schaden stiften.
»Und was ist mit der Wissenschaft, die dem Krieg dient?«
Der Krieg wird nicht von der Wissenschaft gemacht, sondern von Menschen, von der menschlichen Unvollkommenheit, von Menschen, die die Wissenschaft noch nicht genügend anerkennen; wenn die Welt sich mehr nach Erkenntnis und Wahrheit richten würde, so gäbe es weniger Kriege, ja es brauchte überhaupt keine zu geben. Zur Verteidigung wird die Wissenschaft mit Recht verwendet; aber die Wissenschaft zu pflegen, um sie zur Gewalt, zu agressiver Kriegführung zu gebrauchen, ist ein Verbrechen. Wir müssen endlich Recht und Gewalt, Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden, müssen die Wahrheit auch in jenen Fällen suchen, in denen früher zu den Waffen gegriffen wurde. Ich glaube, daß der letzte große Krieg hinlänglich die Überflüssigkeit, Schädlichkeit und Sinnlosigkeit des Kriegführens erwiesen hat.
Unsere Erkenntnis der Welt und der Menschen ist allerdings bisher sehr unvollkommen, aber eben deswegen trachte man nur ehrlich und ausdauernd nach Erkenntnis, nach Wahrheit! Und die Wahrheit wird siegen.
»Mir scheint aber, daß wir von der Noetik in die Ethik geraten sind.«
Nicht ganz, wir sind auf dem Wege dahin. Sie haben mit dem Pragmatismus angefangen, und der Pragmatismus stellt seine Theorie der Erkenntnis auf die Bedürfnisse des tätigen Lebens. So sind wir zum Verhältnis zwischen Theorie und Praxis gelangt. Ich erkenne diesen Dualismus nicht an: der Mensch ist für mich nicht in eine erkennende und eine handelnde Hälfte geteilt. Er erkennt im Handeln, das Erkennen allein ist dann Tätigkeit und Handeln – und was für eine mächtige Tätigkeit! Die Noetik fragt, was das sei, die Erkenntnis, die Wahrheit. Die Ethik muß sich fragen, ob wir der Wahrheit so redlich und gänzlich dienen, wie wir sollen.
»Nun gut: was ist das, die Wahrheit?«
Aha, die Frage des Pilatus! Ich bitte Sie, was ist das, diese Vögel dort im Park?«
»Krähen, Herr Präsident.«
Sie haben bessere Augen als ich. Sind es nicht Tauben?
»Nein, Krähen.«
Wissen Sie das sicher?
»Ja. Ich sehe ihnen schon eine Weile aufmerksam zu. Tauben fliegen anders.«
So sehen Sie, Sie nennen selbst die Kennzeichen der Wahrheit: daß Sie es sicher wissen, weil Sie aufmerksam hingesehen haben, und ich habe mir meine Erkenntnis durch Sie bestätigen lassen. Wenn Sie um jeden Preis eine Definition der Wahrheit haben wollen, so möchte ich sagen: Wahrheit ist das, was wir sicher und kritisch wissen, was bewußte Wirklichkeit ist. Darauf kommt es an: das, was wir wissen, bestimmt und mit Sicherheit zu wissen, wenigstens mit der zur Zeit erreichbaren völligen Sicherheit. Wie Aristoteles gesagt hat: Der Mensch trachtet von Natur aus nach Erkenntnis – ja, aber er trachtet eben nach bestimmter und sicherer Erkenntnis. Das Bedürfnis der Sicherheit, das Bedürfnis der Überzeugung und Wahrheit, ist die Grundlage und der Sinn der ganzen Noetik, sonst nichts.
Sie haben gesagt, daß Sie in meinen Schriften keine ausgebaute Kritik und Erkenntnistheorie, keine reine Noetik gefunden haben. Ich könnte sagen: Sie sind in ihnen enthalten; aber damit Sie sie nicht zu suchen brauchen, will ich sie Ihnen andeuten, allerdings nur schlagwortmäßig. Ich glaube, daß ich nicht mehr dazu kommen werde, die Problematik und Systematik der Noetik wieder ex cathedra zu lehren. Bedenken Sie, daß ich von Plato ausgegangen bin, mich durch die Skepsis Humes, den Subjektivismus Kants durchgearbeitet, bei Comte, Mill, Brentano und so vielen anderen gelernt habe – wie viele noetische Fragen gibt es da, mit denen ich mich habe auseinandersetzen müssen!
Also ganz kurz gesagt: Zu jeder einzelnen Erkenntnis, zum Erkennen überhaupt, zur Wahrheit gelangen wir durch Denken. Der Mensch ist ein Wesen, das denkt, abgesehen davon, daß er will und fühlt.
Denken ist die Aufnahme und Vorstellung von materiellen und nichtmateriellen Dingen durch die Sinne oder durch Gedächtnis und Phantasie, und weiter ist es Urteilen über die vorgestellten Dinge. Sie sehen etwas Weißes und Schwarzes, das sich bewegt; daß es Krähen sind, ist schon Ihr Urteil. Die Wahrheit liegt im Urteil, nicht im Vorstellen. Wir beurteilen die vorgestellten Dinge, haben von ihnen unsere Meinung, unsere Überzeugung. Das ist das Plus, durch das aus bloßer Vorstellung die Erkenntnis wird.
»Also ist Erkenntnis: Urteil verbunden mit Überzeugung.«
Oder so: Erkenntnis ist bewußt gewordenes Urteil, ein Urteil, das bewußt nach Wahrheit strebt, nach Sicherheit und Bestimmtheit. Durch das Urteil sagen wir aus, daß wir etwas glauben und was wir glauben, daß wir von etwas überzeugt sind. Überzeugung ist begründeter Glaube; wir sagen, daß wir dessen und dessen sicher sind, absolut sicher, daß wir davon eine bestimmte Kenntnis haben. Mit einem Wort: Sicherheit.
Nach Sicherheit streben bedeutet dasjenige gut beobachten, was man beurteilt, aufmerksam sein, kritisch sein. Erkenntnis ist kritisches Bewußtsein. Denken, Erkennen, Wissen bedeutet, sich dessen gut bewußt werden, was man weiß und was man nicht weiß, was man erkannt hat, was man nicht kennt, was man nicht kennen kann. Kritisch sein bedeutet nicht Zaudern, Unentschiedenheit, Zweifelsucht oder Skepsis. Kritischsein ist Untersuchung der Erkenntnisse, Überprüfung, Kontrolle, Beglaubigung. Da haben wir wenigstens ein Kriterium der Wahrheit: Wahrheit als ein Urteil, das im Prüfungsfeuer der Kritik standgehalten hat.
Und nicht allein unserer Kritik. Jede wissenschaftliche Erkenntnis ist fortwährend der Kontrolle und Kritik unzähliger Menschen unterworfen, kann untersucht, korrigiert oder bestätigt werden, und wird es stets. Nicht nur die Erkenntnisse nehmen zu, sondern auch die kritischen Methoden; bedenken Sie nur, was es heute schon an Experimenten und Messungen gibt! Die Kritik der anderen und die fortwährende Kritik, die große Zusammenarbeit im Suchen der Wahrheit ist auch eine der Bürgschaften unserer Erkenntnis. Wir können uns nicht denken, schon Erkenntnis genug und lauter Wahrheit gewonnen zu haben; wir können aber sicher sein – und auch das ist eine noetische Sicherheit – daß wir uns mit dem Fortschreiten der Zeiten der Wahrheit immer mehr nähern werden.
Ich sage nochmals: Kritizismus ist nicht Skepsis. Zweifeln ist nicht Beginn des Denkens, wie man mitunter meint.
»Schon darum nicht, weil die Skepsis der Entwicklung nach später ist.«
Nun ja. Von Natur aus ist der Mensch vertrauensvoll, ich möchte sagen, gläubig. Er glaubt seinen Sinnen, der Phantasie und dem Gedächtnis, glaubt dem Verstand, den Gefühlen, dem Drang und dem Willen, glaubt nicht nur sich, sondern auch anderen; er glaubt blind, kindlich naiv. Sie wissen, wie unkritisch die Menschen auch heute fähig sind zu glauben; wie war es erst der primitive Mensch! Der Primitive unterscheidet nicht zwischen Wirklichkeit und den Früchten der Phantasie, Träumen, Visionen, Fiktionen, Vermutungen, Analogien; er handelt impulsiv, und impulsiv, zügellos denkt er auch. Wie er sich Welt und Leben auslegt, ist ein Gemisch von Erfahrungen und Erkenntnissen, unkritischen Phantasien und übernommenen Traditionen. Es ist, möchte ich sagen, ein seelischer Zustand von Absolutismus; der primitive Mensch unterliegt politisch blindlings dem Führer, geistig den Priestern. Diesen noetischen Zustand nenne ich mythisch – er zeigt sich uns ganz offenkundig in den Mythologien der Primitiven.
Die Methode des Mythizismus ist die Analogie. Der primitive Mensch erklärt sich die ganze Welt nach sich selbst, nach seinem Bewußtsein und den Funktionen seines Körpers, nach seiner nächsten Umgebung, seinem Stand, seiner Erfahrung. Der mythisch gestimmte Mensch ist ein naiver Egozentrist und Egoist. Er ist sich selbst kein Rätsel und die Welt ist ihm keines.
»Ein Egoist, der eigentlich sich selbst nicht beobachtet.«
Ja. Der Primitive ist völlig versenkt in seine Umgebung, er ist ein absoluter Objektivist; in sich selbst hinein blickt der Mensch aufmerksamer erst in einem viel späteren Zustand. Der Mann auf dem Lande ist auch heute noch objektivistischer als der Stadtmensch, der Arbeiter als der Intellektuelle; das Kind versenkt sich in die Dinge so sehr, daß es seiner selbst nicht bewußt wird. Erst in fortgeschrittenerem Alter blickt der Mensch sozusagen in sich hinein, nicht nur um sich. Daß er anfangs sein Ich in seine Umgebung projiziert, das geschieht spontan, ohne Kritik, absichtslos, völlig naiv. Im Treiben um sich und in der Bewegung der Dinge sucht der primitive Mensch Kräfte, die denen ähnlich sind, die ihn bewegen; nach der Analogie seines Ichs sieht er in den sich wandelnden Dingen lebendige und tätige Wesen, Geister, Götzen und Götter oder er verlegt sie hinter und über die Dinge als ihre Beweger und Herren. Die mythischen Vorstellungen in mythologische Systeme einzuordnen, ist schon eine weitere Entwicklung des Denkens; beachten Sie, daß dazu der Primitive Tausende von Jahren Zeit hatte, daß das eine längere Entwicklung ist als die der Wissenschaft – man wundere sich nicht, daß auch in unseren Begriffen und Vorstellungen noch soviel Mythologie erhalten ist. Die Griechen und Römer besaßen, wenn ich mich richtig erinnere, mehr als dreißigtausend verschiedenartiger übermenschlicher, transzendenter Götter und Halbgötter. Auch den Primitiven interessiert die ganze Welt; es drängt ihn, zu fragen, woher die Welt stamme und was mit ihr geschehen werde, er denkt über sich und sein Geschick nach, woher er komme, wie er geboren sei, wie das Leben sich erhalte, was der Tod bedeutet; er muß irgendeine Anschauung von der Gesellschaft haben, in und mit der er lebt – kurzum, der Mensch hat seit Urzeiten eine Welt- und Lebensanschauung, hat eine Philosophie. Eine primitive, mythische ...
»... und so alte wie Werkzeug aus Feuerstein.«
Aber sie ist, mein Lieber, nicht verlorengegangen, sie ist in uns vergraben wie die Messer, Pfeile und Beile aus Feuerstein in der Erde. Wenn wir den gegenwärtigen Menschen besser kennen werden, werden wir in ihm noch mancherlei Überreste seiner primitiven Mythik finden. Wir haben des naiven Egozentrismus, des Glaubens an Götzen und Gespenster noch genug in uns; wenn Sie Beweise dafür haben wollen, so finden Sie sie leicht – etwa in der Politik.
Also weiter: Zugleich mit der mythischen Stimmung und gegen sie entwickelt sich im Menschen das Erkennen. Wir können schon sagen: kritisches, wissenschaftliches Erkennen. Das Dasein des primitiven Menschen war hart, wie man heute weiß, war kein Paradies, nicht das goldene Zeitalter Saturns; der Mensch mußte sich gewöhnen, zu beobachten, aufzupassen, abzuwägen, kurzum, zu denken, mußte Werkzeug schaffen und vervollkommnen, um sein und der Seinigen Leben zu verteidigen. Auch das einfachste Werkzeug ist schon ein Stück Mechanik und Physik, die Jagd, der Hirtenberuf und der Ackerbau sind der Beginn der Zoologie, Botanik, Astronomie und wer weiß noch wessen. Seit Uranfang mußte der Mensch um das Leben kämpfen – und arbeiten; das bedeutet lernen, experimentieren, erfinden und über sich selbst und seine Umgebung hervorragen. Bei den alltäglichsten, praktischsten Dingen begann das genaue Denken; erst später wird der Mythos von den entfernteren, nichtalltäglichen und begrifflichen Dingen überwunden. Man kann sagen, daß der Konflikt zwischen kritischem Denken und naiver Gläubigkeit, Wissen und Glauben, Wissenschaft und Mythos so alt ist wie der Mensch, wie die Menschheit.
»Vielleicht hat schon in Urzeiten der Konflikt zwischen Fortschritt und Konservativismus bestanden.«
Gewiß bestand er. Als Lebens- und Weltanschauung, als Versuch, Welt und Leben auszulegen, ist der Mythos der Entwicklung nach – im einzelnen und in der Gesellschaft – früher, älter, ursprünglicher als Kritik und Wissenschaft. Die Gläubigkeit ist in den Menschen fester verwurzelt als das kritische Denken. Darum erscheint der Mythos in der historischen Verschärfung des Konflikts positiv, die kritische Wissenschaft negativ, weil sie diese und jene primitive, mythische Anschauung berichtigt und de facto bestreitet und zerstört. Ziemlich gutes Verständnis für den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Mythos findet man schon bei Vico, der drei Entwicklungsstadien unterscheidet: das dichterische, das heroische, das menschliche. Diese drei Stadien haben Turgot und Saint-Simon übernommen. Nach ihnen liest man bei Comte, daß die menschliche Kultur überhaupt drei Stadien durchläuft: das theologische – mit den Entwicklungsstufen des Fetischismus, Polytheismus und Monotheismus – das metaphysische, das an Stelle der Götter abstrakte Begriffe setzt – und schließlich das positive, wissenschaftliche, das, anstatt die ersten Ursachen zu suchen, die Tatsachen und ihre Ordnung und Gesetze feststellt.
Ad vocem Comte: Er begann mit der Kritik des Mythos und kam dazu, selbst eine ganze positivistische Mythologie zusammenzuphantasieren. An ihm sieht man, wie stark der Mythos im Menschen verwurzelt ist.
»Als Literat möchte ich sagen: Gott sei Dank. Wir Literaten kommen nämlich ohne Mythik nicht aus.«
Auch wir Philosophen nicht. Der Dichter unterscheidet sich aber vom Gelehrten und Philosophen, obgleich man die Philosophie treffend einen begrifflichen Roman genannt hat. Der Dichter und Künstler denkt in Bildern, der Gelehrte und Philosoph in Begriffen. Aber auch der Gelehrte kommt ohne Phantasie nicht aus oder, um Goethes Terminologie zu gebrauchen: ohne exakte Phantasie. Die geistige Entwicklung des einzelnen und der Gesellschaft besteht eben darin, daß sie den leichtgläubigen Mythos allmählich aufgeben und die kritische Erkenntnis annehmen. Die Mythik weicht der Wissenschaft, aber diese bewahrt Überreste des Mythos und schafft auch neue Mythen –, was wollen Sie, der Mensch ist ein Mythophile! Mythik und Wissenschaftlichkeit sind in ihm nicht schroff getrennt, sie durchsetzen einander. Die Philosophie ist mythischer als die Wissenschaft, weil diese sich auf ihr Fach beschränkt, während die Philosophie alle Fächer, das ganze Leben und die Welt umfaßt. Der primitive Mensch übernimmt sich in seiner Theorie, in der Auslegung von Welt und Leben; der wissenschaftliche, kritische Mensch wird bescheidener, denn er weiß, wie wenig er weiß. Und im allgemeinen Leben herrscht dieselbe Vermengung. Wenn man die zeitgenössische Gesellschaft beobachtet, so findet man in ihr eng nebeneinander die verschiedensten Stufen und Arten von Mythik und Wissenschaftlichkeit, findet man völligen Primitivismus ...
»Wie jemand – ich weiß nicht mehr, wer – gesagt hat: Unter uns lebt sowohl der Urmensch als auch das Mittelalter ...«
Ja, und auch das Altertum, leben Sokrates, Plato, Aristoteles und nicht nur sie: im heutigen Menschen lebt nicht nur das Vergangene, sondern auch das Zukünftige. Die Entwicklung – in der Natur und im Menschen – ist nicht nur lauter Veränderung, sondern auch Erhaltung des Alten und Entstehung des Neuen, Zukünftigen.
Vergessen Sie nicht: der Mythos entstand in Tausenden und Abertausenden von Jahren – darum ist er kollektiv, traditionell und empfing leicht die allgemeine Zustimmung. Dagegen ist der Kritizismus, die Wissenschaftlichkeit, als etwas Neues individuell, wird aus persönlicher Begabung und aus persönlicher Erfahrung geboren – darum empfängt die Bildung auf höherer Stufe die allgemeine Zustimmung viel schwerer. Die Wissenschaft ist nicht kollektiv, sondern kooperativ. Und das wissen Sie, Kooperation ist immer, im Denken wie in der Praxis, schwerer als die spontane, massenhafte Zustimmung. Der Konflikt zwischen kritischem Wissen und mythischem Glauben äußert sich in der ganzen Geschichte als ein Konflikt zwischen Einzelnen und Minderheiten einerseits und der Mehrheit andererseits.
Betrachten Sie nur die Geschichte der Philosophie, mit den Griechen beginnend: wie bald nach Homer und Hesiod, nach den Schöpfern und Sängern des Mythos, entsteht die Philosophie, die die Welt nicht mehr mit Hilfe von Göttern und Götzen auslegt, sondern aus einem empirisch gegebenen Prinzip zu erklären trachtet, aus Wasser, Luft, einem Urstoff – da sind Thales, Anaximenes, Anaximander – und aus der Zahl – die Pythagoräer. Wieder neue Mythen. Übrigens sehen Sie schon in diesen Anfängen die Abstraktheit, von der wir gesprochen haben. Später nimmt man für die Auslegung der Welt eine Vielheit von Prinzipien an: Empedokles, Anaxagoras und Demokrit setzen das All aus Elementen, aus Atomen zusammen, und zur Geltung kommt auch der ordnende Verstand, Nus, bei Anaxagoras. Das ist der Beginn der philosophischen Lehre und der Zweckmäßigkeit der Weltordnung, der Beginn des Theismus und Monotheismus. Wichtig ist, daß sich die ersten Philosophen und alle anderen nach ihnen, ob ausdrücklich oder nur zwischen den Zeilen, gegen die Mythologie, gegen die mehr oder weniger erstarrte Theologie der Volksreligion stellten. Daher der Widerstand der Priester, die zumeist die offiziellen Mythologen waren, gegen Philosophie und Wissenschaft. In Anaxagoras, in Sokrates haben wir die ersten Opfer dieses Konfliktes zwischen Wissen und blindem Glauben. Und es ist begreiflich, daß sich in der sogenannten Sophistik schon der Skeptizismus, der Individualismus und in gewissem Maße auch der Subjektivismus ankündigt. Vorerst hatten sich die Philosophen mit der äußeren Welt befaßt, erst später mit der inneren; Sokrates versetzte, wie man gesagt hat, die Philosophie vom Himmel herab auf die Erde. Der Mensch war ursprünglich ein radikaler Objektivist, erst später lenkt er die Aufmerksamkeit auch auf das Subjekt hin, auf sein eigenes Innere.
Zugleich mit der Philosophie entwickeln sich die Spezialwissenschaften, die Medizin, vor allem die Mathematik. Es ist kein Zufall, daß von den Griechen nur ein einziges Lehrbuch auf die spätere Zeit gekommen ist, die Arithmetik und Geometrie von Euklid. Daran sieht man wieder die Priorität der abstrakten Erkenntnis. Und die Spezialwissenschaften widersprachen dem Mythos noch mehr als die Philosophie.
»Mag sein, aber was Sie sagen, ist eher eine Geschichte der Erkenntnis als eine Theorie der Erkenntnis.«
Ich glaube nicht. Die Geschichte der Erkenntnis verfolgen, heißt auch die Wege der Erkenntnis verstehen. Ja, das ist die Geschichte der Erkenntnis, eine ewige Geschichte, die immer weiter fortdauert. Der Konflikt zwischen Glaube und Kritik, Mythos und Wissen ergibt sich aus unserer menschlichen Natur. Die Überwindung der Mythik kennzeichnet und definiert selbst die Erkenntnis! Das ist ein ebenso abstraktes Wort wie Natur oder Leben. Das, was wir heute Erkenntnis, Wissenschaft nennen, sind unzählige Erkenntnisse von einzelnen Menschen – und vielleicht die meisten von solchen, deren Namen nicht einmal übriggeblieben sind. Unser Wissen, unsere Kultur beruht auf der Summe von unzähligen persönlichen Leistungen und Entdeckungen unbekannter Geister, unbekannter Genien; wir setzen nur ihr Werk fort. Oft gedenke ich der unbekannten Denker der Urzeit und aller Zeiten. Was mußte alles erdacht und erschaffen werden, damit zum Beispiel wir beide jetzt so bequem philosophieren können!
Die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis läuft bisher und immer weiter in dem Gegensatz zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und Mythik. Die Wissenschaft ist das Übereinkommen, der Konsensus der denkenden, der genau und kritisch denkenden Menschen. Jede Erkenntnis pilgert von Kopf zu Kopf, von Mensch zu Mensch, von Zeitalter zu Zeitalter, um überprüft, verbessert und vermehrt zu werden. Sie ist nichts Fertiges, sondern ein lebendiges, unvollendetes Werk, ein immerwährendes Erkennen. Wir wissen mehr und Genaueres als vor einem Jahrhundert, einem Jahrtausend. Wer kann sagen, was die Menschen nach Hunderten, Tausenden, Hunderttausenden von Jahren erkennen und begreifen werden? Man darf nicht vergessen, daß die Entwicklung der Genauigkeit sich erst in den Anfängen befindet. Die Gelehrten und Philosophen zählen oft Probleme auf, die der menschliche Verstand niemals lösen wird, die jenseits der Grenze und außerhalb der Reichweite unserer Erkenntnis liegen sollen. Aber – wo ist, wo wird die endliche Grenze der Erkenntnis sein? Daß es eine geben wird, ist gewiß; aber ebenso gewiß ist, daß der Mensch, so lange er denkt, sie weiter und weiter hinausschieben wird. Die Entwicklung des Denkens und der gedanklichen Reife gibt uns selbst eine noetische Gewähr: das Vertrauen in die vollkommenere Erkenntnis der künftigen Zeiten.
»Richtig, aber kein Vertrauen in die künftige bessere Erkenntnis entbindet uns von dem Bedürfnis, auch für die Gegenwart eine gewisse noetische Gewähr zu haben.«
Selbstverständlich. Wir wollen, wir müssen wissen, welche Erkenntnis gültig, richtig und sicher ist. Praktisch haben wir zweierlei Gewähr, richtig zu erkennen. Zunächst, möchte ich sagen, die ethische Gewähr: die Richtigkeit unseres Erkennens ist in beträchtlichem Maße durch unsere Wahrhaftigkeit, unsern Ernst, unsere intellektuelle Ehrlichkeit verbürgt; wir wollen nur Wahrheit, streben stets nach Wahrheit und sind immer bereit, unsere Irrtümer zu erkennen, unsere Erkenntnisse zu verbessern oder bessere anzunehmen. Die zweite Gewähr ist verstandesmäßig: das ist der Kritizismus, von dem wir schon gesprochen haben; wir werden nur das als wahr ansehen, was einer Prüfung durch sachliche und genaue Kritik, einer, wie wir sagen, objektiven Kritik standhält. Aber ich weiß, daß diese praktischen Garantien nicht genügen, um die noetischen Skrupel zu beseitigen.
Wenn man das Ende eines Gegenstandes in Wasser taucht, so sieht es aus, als wäre er gebrochen; das ist eine Gesichtstäuschung, die wir nachträglich durch eine andere Erfahrung korrigieren. Wir wissen, daß die Erfahrung mitunter irrt, die Sinne und der Verstand irren; darum verfällt der denkende, kritische Mensch in eine besondere Unruhe, denn er weiß, daß er irren kann. Er fragt und muß sich fragen, ob die Dinge wirklich so sind, wie wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen und erleben, wie wir sie uns vorstellen und sie beurteilen. Er fragt, was sie sind, wie diese Dinge wirklich beschaffen sind und was und wie unsere Erkenntnis von ihnen ist. Ist unsere Erkenntnis objektiv, d. h. entspricht sie mehr oder weniger den Dingen, wie sie wirklich sind? Oder ist sie subjektiv, d. h. mehr oder weniger durch unsere Sinne, unsere Erfahrung und unsere Verstandesfähigkeiten bedingt? Was ist in unsern Vorstellungen, Urteilen und Erkenntnissen objektiv, was subjektiv? Das sind Fragen, aus denen die ganze Noetik entsteht – und schließlich auch die metaphysische Spekulation.
Im naiven noetischen Zustand stellt der Mensch sich vor, daß er die Dinge durch seine Sinne so aufnimmt, wie sie wirklich sind, daß die Dinge sich mittels der Sinne in uns einfach spiegeln. Durch bessere Beobachtung findet der Mensch später, daß unsere Sinne manchmal irren, unsere Erfahrung und Vernunft die Dinge nicht ganz getreu darstellen; und durch weitere bessere Beobachtung unser selbst werden wir uns bewußt, daß das erkennende Subjekt nicht nur passiv, nicht nur rezeptiv ist, sondern tätig die Vorstellungen verarbeitet, die es von außen empfängt. Zum Beispiel: außerhalb unser selbst, »außen«, gibt es keine allgemeinen Begriffe, sondern nur einzelne konkrete Dinge; und doch können wir ohne allgemeine Begriffe nicht denken und erkennen. Das hat in der Entwicklung der Philosophie zu der Anschauung geführt, das Ich, der Geist, das Bewußtsein, das Subjekt sei nicht ein Spiegel, sondern etwas Tätiges, etwas, was mehr oder weniger aus sich heraus unsere Erkenntnisse bildet. Unser Erkennen ist wenigstens teilweise subjektiv, eine Leistung unseres Geistes. Oder im Jargon von uns Philosophen gesagt: Zum alten und ursprünglichen Objektivismus kam der noetische Subjektivismus hinzu. Daher stammen die Widersprüche in den noetischen Theorien; entweder sind diese mehr oder weniger objektivistisch, realistisch: unsere Erkenntnis ist bedingt und hervorgerufen durch die Dinge außerhalb unser selbst, durch die Objekte, die objektive Wirklichkeit –, oder sie sind subjektivitisch, wie man auch sagt, idealistisch: alles Erkennen ist die Leistung unseres Geistes.
Sie wissen, daß die entschiedene Wendung zu diesem Subjektivismus und Idealismus Kant und die Philosophen nach Kant hervorgerufen haben. Was Kopernikus in der Astronomie, hat Kant in der Noetik bewirkt: die Erkenntnis richtet sich nicht nach den Objekten, sondern die Objekte richten sich nach unserer Erkenntnis: das, was wir als Außenwelt ansehen, als Wirklichkeit, ist die Schöpfung unserer Subjektivität. Vom Subjektivismus zum Solipsismus ist nur ein Schritt: ich selbst, solus ipse, ich allein, bin der Schöpfer der Welt, die Welt ist meine Vorstellung. Kant und die deutschen Idealisten übertrafen den Übermenschen und schufen den Überschöpfer. Seltsam, wie Menschengeist so eingebildet sein kann. Der extreme Subjektivismus ist, möchte ich sagen, ein Verrat der Philosophen, ein Verrat der Gebildeten überhaupt.
»Daraus sehe ich, daß Sie sich zum noetischen Realismus, zum Objektivismus bekennen.«
Ja. Wie denn anders? Der Mensch, der handeln will, praktisch und verantwortlich handeln, kann nicht Subjektivist sein. Ich erkenne die objektive Welt an. Die Dinge außer uns, die Dinge, die wir zu erkennen trachten, sind annähernd so, wie sie unserer Erfahrung erscheinen.
»Das ist allerdings eine metaphysische Behauptung.«
Selbstverständlich, aber jede andere Behauptung ist auch metaphysisch. Ich sage »annähernd« – wir nähern uns den Dingen durch unser Erkennen; wir kennen sie näher und genauer als vor einem Jahrtausend und werden uns ihnen immer mehr nähern.
Das andere, was den Gegenstand der noetischen Forschung bildet, ist das erkennende Subjekt. Was ist eigentlich dieses Subjekt, wodurch erkennt es? Gewiß durch die Sinne und die Erfahrung. Aber auch durch Vergleich und Gedächtnis, auch durch Verstand. In Wirklichkeit erkennt der ganze Mensch, nicht nur seine einzelnen Fähigkeiten. Und weiter – welche dieser Fähigkeiten bietet das zuverlässigste und am wenigsten täuschende Erkennen? Diesem Gesichtspunkt entsprechend gibt es verschiedene philosophische Schulen und Gegensätze. Man betrachtet als sicher und zuverlässig nur das, was wir durch die Sinne kontrollieren können – Sensualismus. Oder durch begründete Erfahrungen überhaupt – Empirismus. Andere weisen auf die Unzuverlässigkeit der Sinne und suchen die Sicherheit nur im Verstand – Rationalismus. Wieder andere nehmen sowohl Erfahrung als auch Verstand an – Intellektualismus. Und noch andere: ihnen genügt der Verstand nicht, sondern die sichersten Quellen der Erkenntnis liegen für sie jenseits des menschlichen Verstandes – Irrationalismus. Die neue Psychologie zeigt, wie sich in allem seelischen Geschehen sowohl Gefühl als auch Wille geltend machen; auch in unserer Erkenntnis sind wir von beiden geleitet, man spricht von Gefühlserkenntnis – Emotionalismus, und von Willenserkenntnis – Voluntarismus.
»Und Ihr Standpunkt?«
Mein Standpunkt – vor allem nicht vergessen, daß, wie ich gesagt habe, im Erkennen der ganze Mensch enthalten ist. Jede radikale noetische Theorie, die nur eine Seite auf Kosten der andern anerkennt, ist verfehlt. Wir müssen vom Erkennen ausgehen, wie es sich wirklich vollzieht, und daran denken, daß alle unsere Erkenntnis durch die geistige Arbeit unzähliger Generationen vorbereitet worden ist. Wir sind alle an dieser Arbeit beteiligt, denn schon von der Mutter übernehmen wir das Wort, die Sprache; mit dem Wort empfangen wir die Begriffe, die verdichteten Erfahrungen von Millionen von Geistern.
»Also: Psychologie und psychologische Erkenntnisgenetik statt Noetik?«
Das nicht. Die Psychologie der Erkenntnis kann uns sagen, wie wir erkennen, ob aber die Erkenntnis die richtige, sichere Wahrheit ist, das kann sie nicht sagen. Eine noch so gute Analyse und Beschreibung des Erkenntnisprozesses sagt uns nicht, welche Erkenntnis richtig ist. Noetik ist nicht Psychologie, sondern ein Teil der Logik, die danach fragt, was wir sicher und zuverlässig erkennen.
Also: als Grundlage nehme ich das ganze Erkennen, den ganzen Menschen an. Ich erkenne den Verstand und die Sinne an, die Gefühle und den Willen, überhaupt die ganze Erfahrung; der vernünftige Mensch findet auch durch Gefühl, Sympathie, Neigung ein Körnchen Wahrheit, mitunter mehr als ein Körnchen. Aber den Dualismus von Verstand und Sinnen verneine ich. Verstand und Erfahrung ergänzen sich. Es ist richtig, daß die Sinneserfahrung unzuverlässig ist, aber sie wird vom Verstand kontrolliert und mitgeformt. Das Vernünfteln kann irregehen, aber es wird wieder durch die Erfahrung kontrolliert.
»Demnach doch nur Rationalismus.«
Auch Rationalismus, in beiderlei Sinn: nichts gegen den Verstand, nichts über den Verstand. Für sicher und wahr halte ich jene Erkenntnisse, die mit der Erfahrung und dem Verstand übereinstimmen. Aber diese beiden, Erfahrung und Verstand, sind nichts Fertiges; wir haben davon noch nicht soviel, um ihre Grenzen messen zu können. Unser Wissen befindet sich erst in den Anfängen ...
»... und darum kann auch unsere Erkenntnistheorie nicht für die Ewigkeit gelten.«
Betrachten Sie die Entwicklung des Erkennens: jede Stufe hat ihre eigene Noetik; unsere Erkenntnistheorie kann nur dem Entwicklungsstadium entsprechen, in dem sich unsere Erkenntnis der Welt befindet. Daß dieses Stadium nicht endgültig ist, das wissen wir bestimmt. Aber den Glauben an die Möglichkeit und den Wert des Erkennens, den unbeirrbaren und tätigen Glauben, hatten die starken Geister aller Zeiten.
Die noetische Entwicklung der Menschheit! Die älteste Theorie ist, daß die zuverlässigste und für das Leben wichtigste Erkenntnis – letzten Endes alle Erkenntnis überhaupt – dem Menschen durch Offenbarung zuteil wurde; die Sicherheit und Unwiderleglichkeit der Erkenntnis wird durch die höchste Autorität, die Gottheit selbst, verbürgt.
»Danach hat also auch der Negerzauberer seine Noetik, wenn er behauptet, aus seinem Munde rede ein Geist.«
Viel von Noetik mag er nicht haben, aber sein Erkenntnissystem hat er: er ist ein typischer Irrationalist. Die Offenbarung pflegt nur ein auserwählter Einzelner zu empfangen – Priester, Propheten –, und die anderen Menschen empfangen sie von ihnen passiv, blind, gehorsam. Der Glaube an übernatürliche Offenbarung ist bis heute lebendig und bleibt es weiter. Es wäre merkwürdig, wenn Gott sich dem Menschen nur in den biblischen Zeiten geoffenbart hätte. Auch heute finden sich Menschen, die sich als Organ der höchsten und übernatürlichen Offenbarung ansehen. Außerdem hält man manche besonderen Seelenzustände für Quasi-Offenbarung; überdurchschnittlich begabte Führerpersönlichkeiten pflegt man noch heute so aufzufassen, als wären sie Werkzeuge oder Dolmetscher einer höheren Intelligenz – nicht nur in der Religion, sondern auch in der Kunst, in der Politik und anderswo. Hierher können Sie auch den Glauben an die Inspiration zählen; hierher gehört die Mystik, die angebliche unmittelbare Verbindung mit der Gottheit; hierher gehört auch der moderne Okkultismus, der Glaube an Ahnungen und andere geheimnisvolle Erkenntnisse. Letzten Endes finden Sie den Glauben an die Offenbarung in gewissen Abwandlungen auch bei hervorragenden modernen Philosophen; was anderes sind James' außerordentliche Erfahrungen, was Bergsons Intuition, was der in unseren Tagen verkündete Irrationalismus? Und was ist der modernste Nationalismus, der »das gesunde Gefühl, den Instinkt« des Volkes als höchstes Gesetz verkündet?
Das ist es: wo den Menschen Verstand und Urteilskraft nicht genügen, müssen sie sich irgendeine Autorität suchen, die noetisch oft recht zweifelhaft ist; sie wollen, was immer es koste, Glauben und Sicherheit haben. Daher der blinde Glaube, der Aberglaube, der Kirchenglaube; daher – in der Politik – der mythische und mystische Glaube an kollektive Schlagworte. Die Masse, die Zeit will das und das, befiehlt das und das, basta. Bequem ist auch die Theorie der Diktatoren und Demagogen. Selbstverständlich muß man da zweierlei unterscheiden. Kollektive Begriffe wie Nation, Staat, Kirche, Klasse, Zeitgeist sind den meisten Menschen zu kompliziert oder besser unvorstellbar; man muß sie auf irgendwelche einfache Formeln bringen, die dann für den gültigen Ausdruck dieses Kollektivs gehalten werden. Man anthropomorphisiert im Grunde so primitiv, wie die Vorfahren den Himmel, die Natur anthropomorphisiert haben. Und die kollektive Mystik ist oft nichts anderes als maskierter Egoismus – etwa der Egoismus einer Gruppe, einer Partei, einer Klasse. Menschen, die im Namen einer Nation oder einer Zeit reden, schreiben sich selbst das einzig richtige Gefühl und Verständnis für die Nation, das Vaterland, die Zeit zu; die anderen, vor allem die kritischeren, haben, ihnen zufolge, dieses wahre Gefühl und Verständnis nicht, sind Reaktionäre, Verräter und dergleichen. Diese Art von Noetik in der Politik blüht bis heute, wie Sie wissen, und nicht nur bei uns.
Es wäre ungerecht, nicht daran zu erinnern, daß dem politischen Primitivismus in gewissem Sinne jene Philosophen und Psychologen die Waffen liefern, die das Gefühl und den Willen – auch die Triebe – gegen den Verstand und über ihn stellen, die Emotionalisten und Voluntaristen. Und doch können die Abc-Schützen in jeder Schulpsychologie nachlesen, daß es Gefühle und Willen ohne Vorstellungen und Urteile nicht gibt, daß demnach Gefühle und Wille an sich nicht bestehen und daß Gefühle je nach der Qualität verschieden sind. Auch der Verbrecher hat Gefühle, er ist von Gefühlen und vom Willen geleitet und getrieben. Gefühl und Wille sind kein Argument, wenn der Verstand fehlt. Wie und wodurch entscheiden wir, welches der widerstreitenden Gefühle, welche der sich widersprechenden Willensregungen richtiger und besser ist? Wieder kommt es auf Verstand und Kritik an.
Und nicht nur aus Gefühl und Willen pflegt man die überrationelle Autorität zu schaffen, sondern auch aus den Trieben; legt man ihnen ein Epitheton ornans bei: gesund, natürlich, unwiderstehlich, so ist die mächtigste Noetik und Ethik am Ende. Beachten Sie, was für Dummheiten manche Schriftsteller mit dem Geschlechtstrieb anstellen, manche Demagogen mit dem nationalen Instinkt, mit dem elementaren Abscheu vor irgend etwas. Eine sonderbare Psychologie und noch sonderbarere Noetik!
Richtig ist, daß der Mensch nicht nur ein Verstandeswesen, nicht nur mit Verstand begabt ist. Wie Pascal sagt, das Herz hat seine Gründe, raisons, die der Verstand nicht erkennt.
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich auf den Verstand auf keinem Gebiet verzichte; aber der Verstand ist nicht das ganze Seelenleben – außer ihm und mit ihm haben wir die Gefühle und den Willen. Die Gefühle, das Wollen, die Triebe drängen sich, wie man zu sagen pflegt, durch ihr elementares Wesen und ihre Unmittelbarkeit auf, während der Verstand nüchtern, indifferent und dergleichen zu sein scheint. Der Verstand ist kühl, die Gefühle sind warm, heiß, glühend, wie man bildlich sagt, und geben dem Leben seine Farbigkeit, verleihen Freude und Glück, allerdings auch Trauer und Unglück, Seligkeit, aber auch Unseligkeit.
Die Gefühle ragen mehr hervor als die Verstandestätigkeit, sind lebhafter und dringender. Darum sagt man: Ich habe gefühlsmäßig erkannt, ich habe das und das gefühlt. Psychologisch verhält es sich anders: mit dem Erkennen war das Gefühl verbunden – das Gefühl der Befriedigung, der Ablehnung, der Verwunderung oder ein anderes – und das ist im Bewußtsein und im Gedächtnis stärker haften geblieben als der verstandesmäßige Vorgang. Die sogenannte Gefühlserkenntnis pflegt einfach eine Verstandeserkenntnis zu sein, die aber von einem starken Gefühl begleitet ist. Es ist ja eine empfangende und verstandesmäßige Tätigkeit, die den Gefühlen, dem Willen und so weiter den vorstellbaren Inhalt gibt. Der Mensch will etwas, zielt mit dem Gefühl auf etwas hin. Das Etwas ist nicht durch das Gefühl oder das Wollen geschaffen, es ist durch Beobachtung, Vorstellung, Erfahrung, Verstand gegeben; das Etwas kann richtig oder unrichtig sein, möglich oder unmöglich – das zu entscheiden, ist Sache des Verstandes und nur des Verstandes.
Was aber die Offenbarung betrifft, so verbinden uns das reine Herz und der gerade Geist mit der Wirklichkeit. Die übernatürliche Offenbarung erkenne ich nicht an.
Die noetische Mystik mit Rationalismus verbunden, und zwar mit radikalem Rationalismus, hat Plato und nach ihm andere. Nach Plato erkennen nicht die Sinne, nur der Verstand erkennt; nicht Erfahrung, sondern allgemeine Begriffe sind wahres Erkennen. Aber, fragt Plato, woher kommen die allgemeinen Begriffe in uns sinnliche Geschöpfe? Plato war ein schwacher Psychologe und hat daher nur die Antwort: Die abstrakten Begriffe, das abstrakte Erkennen ist nur ein Erinnern, eine Anamnese an Ideen, die die Seele in ihrem vorkörperlichen Leben im Reich der ewigen Ideen, d. i. in der metaphysischen Wirklichkeit geschaut hat. Die materiellen konkreten Dinge erinnern uns nur an die ewigen Ideen, die unsere Seele geschaut hat, bevor wir als Menschen geboren wurden. An Plato läßt sich gut feststellen, wovon wir schon gesprochen haben: zunächst die Priorität des abstrakten Denkens, ferner die Anfänge des Kritizismus – er stutzt vor der Unzuverlässigkeit der Sinne –, dann der Mystizismus – er anthropomorphisiert die Begriffe zu einem höheren Wesen, zu Ideen –, schließlich auch die Wendung zum Subjekt – er fragt, woher in uns die Begriffe kommen. Plato ist wahrhaftig der Vater der Philosophie; darum hat er die Philosophen so stark beeinflußt und beeinflußt sie noch. Nach ihm faßte der Neuplatoniker Plotin die Ideen zusammen und verkörperte sie im ewigen Nus, dem Weltverstand, dessen »Emanation« unser Geist sei; unser Geist sei erleuchtet vom Nus und erfüllt von Erkenntnis. Der heilige Augustin übernahm Plotin, aber unter Nus verstand er Gott; die Ideen Platos werden zu Gedanken Gottes, unsere Erkenntnis ist Erleuchtung durch Gott. Es ist eine interessante Verbindung von Rationalismus und noetischer Offenbarung.
Aristoteles, der Schüler Platos, war wissenschaftlich kritischer und bemühte sich auch um eine stärker empirisch gerichtete Psychologie. Er versetzte die Ideen Platos aus dem übermateriellen Bereich der Ideen auf die Erde und in konkrete Dinge; die Ideen sind das Wesen oder der Kern der Dinge. Die Erkenntnis strömt für ihn aus der Empirie, aus der Erfassung des Tatsächlichen, aber der durch die Sinne angeregte Verstand forscht nach dem Wesen der Einzelheiten. Man sieht, wie Aristoteles' und Platos Mythos miteinander ringen; ihre halbmythische Philosophie und Noetik wurde von der mittelalterlichen Kirche übernommen; Thomas von Aquino ist Aristoteles-Schüler, Augustin Platoniker.
Die neue Philosophie – Descartes, Herbert of Cherbury, Leibniz und andere – fand die Grundlage, die unsere Erkenntnis verbürgt, in den angeborenen Ideen. Unsere grundlegenden Erkenntnisse von Gott, Sittlichkeit und Ähnlichem stammen nicht aus unserer Sinneserfahrung noch aus Verstandestätigkeit, sondern sind uns angeboren, und das verleiht ihnen eine höhere und unzweifelhafte Gültigkeit. Allein, warum sollten angeborene Ideen diese absolute Gültigkeit haben, woher haben sie sie empfangen? Und wodurch, nach welchem Kriterium unterscheiden wir sie von nichtangeborenen? Locke hat gefunden, daß es solche angeborenen Ideen nicht gibt. Letzten Endes: was sind angeborene Ideen anderes als Ideen, die von Gott in uns hineingelegt sind? Das ist nur eine abgeschwächte Theorie der Offenbarung; der Rationalismus rettet sich in Überverstand, in Suprarationalismus.
Nach Descartes, Locke, Leibniz, nach dem Skeptiker Hume kommt der Rationalist Kant mit der Lehre von den apriorischen Erkenntnissen, die nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft stammen. Sie wissen, wie Kant ein ganzes System solcher Erkenntnisse der reinen Vernunft konstruiert hat: apriorische Erkenntnisformen – Zeit und Raum, die Kategorien oder die allgemeinsten Begriffe wie den Begriff der Quantität und der Kausalität, dann apriorische Ideen – Seele, Welt, Gott und für die Ethik den kategorischen Imperativ. Die apriorische Erkenntnis stelle man danach fest, daß sie notwendig und allgemein sei, während die Erfahrung, der Sinn und das gemeine, »diskursive«, nicht »intuitive« Denken nur zufällige und vereinzelte Erkenntnisse geben. Die apriorischen Begriffe seien nicht angeboren, sondern »Leistungen« des reinen Denkens; sie stammen nicht aus unserer Organisation, es seien Erkenntnisse, von der reinen Vernunft erzeugt, ohne von der Erfahrung befruchtet zu sein, also gleichsam aus der unbefleckten Empfängnis der bloßen, ausschließlichen, reinen Vernunft hervorgegangen – wieder Offenbarung, nur blinde.
Kants Apriorismus kann ich nicht annehmen. Allein schon, daß Kant Verstand von Vernunft unterscheidet und die Vernunft höher stellt als den Verstand! Dazu hat ihn die deutsche Sprache verführt. Andere, die nur einen Verstand haben, würden zu solchem noetischen Dualismus nicht gelangen.
Der große Mangel Kants ist, daß er ein sicheres Kriterium der apriorischen Erkenntnisse nicht gegeben hat; sie sollen notwendig und allgemein sein; das ist ein sehr unzuverlässiges und unsicheres Kriterium, denn auch aus der Erfahrung schöpfen wir viel allgemeine Urteile, und die Notwendigkeit ist ebenso unzuverlässig. Wenn ich grundlegende arithmetische und geometrische Erkenntnisse habe, so ersehe ich die Richtigkeit und Notwendigkeit eines jeden mathematischen Satzes aus den Begriffen selbst; daher war die Mathematik von Pythagoras und Plato bis Kant und nach ihm das Muster sicherer Erkenntnis und der Maßstab der Zuverlässigkeit anderer Wissenschaften. Auch Kant hielt sich an das mathematische Beispiel und – eigentlich – Vorurteil; nach diesem Muster wollte er durch seinen Apriorismus außer der Mathematik auch die Naturwissenschaften und die Metaphysik sichern. Das ist ein Fehler. Es ist ja klar, daß mathematische Erkenntnisse ganz verschieden sind von naturwissenschaftlichen und metaphysischen. Die Sicherheit der Naturwissenschaften ist anders, mehr auf Erfahrung gestützt als die mathematische Sicherheit.
Aber Kants Noetik hat noch einen anderen verhängnisvollen Mangel. Sie unterscheidet zwischen dem Ding an sich und der »Erscheinungswelt«. Woher dieser Unterschied? Er kann höchstens den Sinn haben, daß der Mensch den wahren Kern, das wahre und innere Wesen der Dinge nicht erkennt, daß er die Dinge nur teilweise und annähernd erkennt. Das hat einen Sinn und wird seit Beginn eines genaueren Denkens anerkannt. Aber Kant macht aus dem Gegensatz zwischen dem, was uns erscheint, und dem, was wirklich ist, einen schroffen Dualismus: die Kategorien und apriorischen Erkenntnisse überhaupt, namentlich die Kategorie der Kausalität, gelten ihm nur für die Erscheinungen, nicht für die Dinge an sich. Woher weiß Kant also, daß es irgendwelche Dinge an sich gibt, wenn das Kausalgesetz für sie nicht gilt, sondern nur für die Erscheinungen? Das Ding an sich kann doch auf das Subjekt nicht einwirken, wenn das Kausalitätsgesetz nur für die Erscheinungen gilt.
Es gäbe noch andere Einwände genug gegen Kants Apriorismus; darunter auch den, daß von Kant als apriorisch ausgegebene Erkenntnisse sich ganz gut durch die Erfahrung erklären lassen, zum Beispiel die Anschauungsformen von Raum und Zeit, ebenso die Kategorien und Ideen wie die Idee Gottes und so weiter.
Kant ist der typische Repräsentant einer Übergangszeit, des Übergangs von der mythologischen Offenbarung zum kritischen, wissenschaftlichen Empirismus. Er saß auf zwei Sesseln, dem theologischen und dem philosophischen, und gerade durch diese Halbheit erlangte er seinen Einfluß. Dem extremen und unsinnlichen Subjektivismus – Solipsismus – entging er durch seinen metaphysischen Trick des Dings an sich. Die Nachfolger Kants und die deutsche Philosophie überhaupt verfiel dem extremen Subjektivismus. Fichte überwand die »Halbheit« Kants durch den »absoluten Idealismus«, das ist Solipsismus, Schelling kehrte direkt und ausdrücklich zum Mythos zurück, Schopenhauer schuf aus der Welt ein Werk unseres Willens und unserer Vorstellung. Dem »absoluten« Idealismus stellte Hegel seinen »objektiven« Idealismus entgegen – wieder ein anderes Spiel mit Worten; das absolute Subjekt wird in »objektiven Geist« umgetauft – der Teufel in Beelzebub.
Der ganze Apriorismus Kants ist Phantasie, Mythos; der Dualismus zwischen reiner und unreiner Vernunft ist der alte Dualismus zwischen dem Verstand und den Sinnen, der auf einer unrichtigen psychologischen Analyse des Erkenntnisprozesses beruht. Dieser Gegensatz zwischen dem Verstand und den Sinnen zieht sich von den Griechen über das Mittelalter bis in die neueste Zeit. Es gibt den Verstand, und es gibt die Sinne, aber sie sind kein Gegensatz. Warum sollte die reine Vernunft bessere und sicherere Erkenntnisse liefern als der unreine Verstand, der mit den Sinnen verbunden ist und unsere Erfahrung verarbeitet.
Allen Theorien von den nichtempirischen, überempirischen und daher angeblich sicheren Erkenntnissen stellte Hume seine Skepsis entgegen; durch sie wies er das menschliche Denken radikal in die Schranken der unsicheren Erfahrung. Es ist eine gesunde Skepsis, aber doch nur Skepsis; und darin liegt das Verdienst Kants, daß er der Skepsis den Kritizismus entgegenstellte. Nicht Skepsis, sondern Kritik; nicht zweifeln, sondern genau, geduldig, kritisch feststellen!
Hume konzentrierte seine Skepsis auf das Problem der Ursächlichkeit; der Begriff der Ursächlichkeit ist für ihn empirisch. Überhaupt entstammen alle unsere Erkenntnisse – die mathematischen ausgenommen – der Erfahrung; sie sind daher ungenau und unverbürgt; die metaphysischen und theologischen Anschauungen von Gott und Ähnlichem sind leer, weil sie die Erfahrung überschreiten. Der Kausalitätsbegriff ist nicht verstandesmäßig, sondern nur eine festgesetzte Gewohnheit; der Mensch sieht am Morgen die Sonne aufgehen, gewöhnt sich daran und erwartet daher ihren Aufgang auch am andern Tag. Hume behauptet, daß der Begriff von Ursache und Wirkung verstandesmäßig nicht begründet sei, daß er seinen Ursprung nur in der Vorstellungsassoziation habe, also in der Gewohnheit, daß nach A B komme. So ist für Hume die ganze Naturwissenschaft auf dem blinden Begriff der Ursächlichkeit gegründet und nicht logisch gerechtfertigt, beruht nur auf der Gewohnheit, auf dem psychologischen, nicht logischen Verbinden von Ursache und Wirkungen. Sichere Erkenntnis biete einzig die Mathematik.
Der Skepsis Humes, die alles Erkennen mit Ausnahme des mathematischen als unsicher ablehnt, die nicht nur die Metaphysik – von Theologie gar nicht zu reden – sondern auch das empirische, naturwissenschaftliche Erkennen verwarf, dieser Skepsis stellte Kant sein System der apriorischen Erkenntnisse entgegen. Durch den Apriorismus trachtete er die Sicherheit des naturwissenschaftlichen, aber auch des metaphysischen, religiösen und ethischen Erkennens zu beglaubigen. Er folgte Hume in der Anschauung, daß das empirische Erkennen unzuverlässig sei; so kam er darauf, daß die Grundlagen des Erkennens, die grundlegenden Erkenntnisse überempirisch, apriorisch seien, daß Ursächlichkeit, Zeit, Raum und was sonst noch apriorisch sei – um durch die apriorischen Erkenntnisse das empirische Erkennen zu stützen! Ein vergebliches Beginnen! Der Apriorismus ist verfehlt, ist eine Phantasie, die sich an ihrem Urheber gerächt hat. Kant sagt selbst, daß er »das Wissen zerstören mußte, um dem Glauben Platz zu schaffen.« In ähnlicher Weise gelangte Comte, indem er den Positivismus Humes weiter ausführte, am Ende – zum Fetischismus. Das pflegt das Schicksal der Skepsis zu sein; daß sie zuletzt sich selbst zu entrinnen versucht durch einen Sprung in Phantastische.
»Die Skepsis ist in der Theorie möglich. Ist aber konsequente Skepsis in der Praxis möglich?«
Schwerlich, soweit wir nicht nur Zuschauer und Beobachter des Lebens sind. Der Skeptiker handelt in der Praxis einfach ebenso wie ein Nichtskeptiker. Es gibt kein skeptisches Handeln, sondern nur ein skeptisches Denken. Und was die noetische Skepsis betrifft, so ist die Tatsache, daß unsere naturwissenschaftlichen und philosophischen Kenntnisse nur mehr oder minder wahrscheinlich sind, kein Grund zur Skepsis. Selbstverständlich ist die Empirie, die sinnliche Erfahrung ungenau und unverläßlich; sie ist aber durch den Verstand, sogar durch den exakten mathematischen Verstand kontrolliert und mitgeformt, wie man in der modernen Naturwissenschaft sieht, die immer mehr zur angewandten Mathematik wird.
Wichtig ist, daß Hume bei seiner Skepsis die sittliche Verbindlichkeit anerkannte, weil ihre Grundlage, Sympathie und Humanität, durch sich selbst sanktioniert wird; den Nächsten lieben und ihm deshalb nach Möglichkeit helfen, das bedarf keines Richtigkeitsbeweises. Das ist richtig und um so wichtiger, als die Lehre von einem Skeptiker stammt. Mein erster akademischer Vortrag in Prag behandelte Humes Skepsis; ich habe gleich damals mein antiskeptisches Programm dargelegt. Aber für meine Person kann ich sagen: mir war Hume besonders wichtig, denn er korrigierte den Platoniker in mir; dasselbe möchte ich vom Materialismus des Marx sagen.
»Dadurch kennzeichnen Sie schon Ihre eigene Anschauung.«
Ja. Der Konkretismus ist, mit einem Wort, gegen die Skepsis gerichtet; er erkennt nicht nur den Verstand, sondern auch die Sinne, die Gefühle und den Willen an, überhaupt die ganze Erfahrung unseres Bewußtseins; indem er an der Erfahrung festhält, lehnt er die nichtempirischen, antiempirischen, überempirischen Theorien ab.
»Also in gewissem Maße: James' radikaler Empirismus.«
Aber ohne seine Ausnahmeerfahrungen. Wissenschaftliches Denken behilft sich ohne sie, es sei denn, daß es sie kritisch prüft. Der Konkretismus ist vor allem kritisch; die Erfahrung kontrolliert den Verstand.
Der Konkretismus stellt Sinne und Verstand, stellt Verstand und die übrige seelische Tätigkeit nicht gegeneinander, sondern nimmt den Menschen in seiner Ganzheit; er erkennt das Wesen und den Wert aller seelischen Begabung und Tätigkeit an, und trachtet die Regeln für ein volles und harmonisches Leben zu finden.
Der Konkretismus erkennt die Natur, die Gesellschaft und in der ganzen Welt Individualitäten an und trachtet sie zu erkennen; er ist sich wohl bewußt, daß er zum Erkennen der Einzelheiten durch abstrakte Erkenntnisse gelangt.
Für die wissenschaftliche Auslegung verfügt der Konkretismus über eine Hauptregel: die Dinge erfassen und sie aus sich selbst erklären, nicht aber durch die analogisierende Methode des Mythos. Den Mythos ersetzt er nach Möglichkeit durch kritisches, wissenschaftliches Erkennen. Er strebt nach Klarheit und Genauigkeit, er weiß, was er weiß und was er nicht weiß.
Neben mathematischen Erkenntnissen erkennt er auch naturwissenschaftliche, psychologische, geschichtliche und überhaupt alle wissenschaftlichen Erkenntnisse an. Die Wissenschaften sind die Erfahrung und der Verstand vieler Einzelner und aller Zeiten. Ich beglaubige meine Erfahrungen und meine Verstandesarbeit durch den Verstand und die Erfahrungen anderer – die anderen Menschen haben auch Verstand und Erfahrung. Immer sich bewußt sein, was wir wissen und was wir nicht wissen! Kritik muß auch Selbstkritik sein. Will man dem eigenen Erkennen die Sicherheit verbürgen, so gibt es nur einen einzigen Weg: wissenschaftliche Ehrlichkeit, Geduld, Klarheit; und dann seine Erkenntnisse zur Kritik und Vervollkommnung den weiteren Generationen übergeben. In all dem findet der Konkretismus eine genügende Gewähr des Erkennens.
Klares Denken tut weh, der Verlust des Mythos schmerzt; oft ist es schmerzlich, neue Dinge zu erkennen. Es gibt auch eine noetische Xenophobie; ich leite das Wort nicht nur von Xenos, der Fremde, sondern von to Xenon, das Fremde und Unbekannte ab; auch im Denken ist der Mensch ein Gewohnheitswesen. Die wahre Weisheit, das wahre Erkennen ist ewig neu: »Herrlich wie am ersten Tag«, möchte ich mit Goethe sagen. – Sind Sie zufrieden?
»Ja. Ich setze voraus, daß Ihr noetischer Konkretismus seine Ergänzung in Ihrer ›konkreten Logik‹ hat.«
Richtig. Die Noetik untersucht das Wesen und die Regeln des Erkennens, die konkrete Logik, das Erkennen in concreto, die Wissenschaft, das System der Wissenschaften. Ich arbeite jetzt an der zweiten Ausgabe meiner »Konkreten Logik«. Wie haben sich seit der ersten Ausgabe – in den fünfzig Jahren – alle Wissenschaften maßlos ausgedehnt und spezialisiert! Ich muß mich in ihnen neu orientieren, das gibt viel Arbeit und dankbare Arbeit, nur müßte man mehr Muße haben!
»Noch eine Frage. Sie nennen Ihre Philosophie Konkretismus, aber man hat Sie einen Positivisten oder Realisten genannt.«
Positivist – nein. Aber Realist – wohl, in der Philosophie und in der Politik. Man hat mir einst sogar Mystizismus vorgeworfen, als ich unseren Liberalen darlegte, daß die Religion nichts Abgetanes sei. Ich konnte und kann die Religion nicht einfach aus unserer Kultur streichen, besonders nicht aus unserer nationalen Kultur. Ich glaube, daß mein Konkretismus national genug ist, aber ich sehe ein volles geistiges Leben und Trachten nicht nur im Verstand, sondern auch im Gefühl und im Willen. Es handelt sich darum, das ganze, volle geistige Leben des Menschen und der Nation zu harmonisieren. Unser Volk hat stark im Religiösen gelebt. Bedenken Sie: der heilige Wenzel, Hus, Chelčický, Komenský! Aber ebenso stark hat es nach Bildung gestrebt, Komenský zeigte uns den Weg, wie wir die Übereinstimmung alles geistigen Lebens suchen und finden sollen, wie wir, mit ihm gesprochen, die »Tiefe der Sicherheit« finden. Um diese Übereinstimmung auf dem Gebiete des Erkennens bemüht sich auch der Konkretismus. Das ist alles.