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»Und jetzt, bitte, einen kleinen Schritt von der Noetik zur Metaphysik. Entspricht unserer subjektiven Erfahrung, unserer Erkenntnis irgendeine objektive Wirklichkeit?«
Metaphysik! Ich liebe das Wort nicht, offenbar weil ich ein so unnachgiebiger Empiriker und Praktiker bin. In der Metaphysik suchen die Menschen Gott weiß was für tiefe und geheimnisvolle Kenntnisse, und indessen ist gerade die Metaphysik, wenigstens, wie sie bisher gepflegt wurde, ihrem Inhalt nach arm, sehr arm; es ist nur ein kleines Konkurrenzunternehmen, das sich die Philosophie gegen die Theologie errichtet hat.
Mit Recht sind Sie sofort mit der Tür ins Haus gefallen; wir halten immer wieder bei dem Problem: Subjekt – Objekt. Noetik und Metaphysik gehören zusammen; die Erkenntnis erfordert etwas, was erkannt wird; eines ist ohne das andere nicht möglich.
Ich kann nun, da wir die Noetik durchgenommen haben, sagen: Der Konkretismus ist objektivistisch. Ich bin gegen den Subjektivismus; der extreme Subjektivismus, der Solipsismus, der die Welt nur als unsere Vorstellung und als Ausgeburt unseres Bewußtseins ansieht, ist unsinnig. Denken Sie, wie die Welt aussehen würde, wenn sie unsere Vorstellung, wenn sie nach unserem Verstand und Willen geschaffen wäre!
Metaphysischer Dualismus? – Nein. In abstracto, aber nur in abstracto, ad usum des logischen Delphins können wir von Subjekt und Objekt sprechen; in Wirklichkeit bin ich nicht allein, bin ich ich, du, wir, gibt es unzählige Subjekte und unzählige Objekte. Auch ich bin Objekt – mir selbst und den anderen.
»Also ist Ihr Konkretismus seiner Art nach ein Pluralismus.«
Ja. Der Konkretismus ist pluralistisch. Er faßt die objektive Welt auf, das erkennende Subjekt mit eingeschlossen. Er faßt also die materielle und geistige Welt als objektive Wirklichkeit auf – und beiderlei Welt in der ganzen konkreten Vielheit aller Individualitäten. An der materiellen Welt zweifeln die Menschen tatsächlich nicht ...
»Ich sage mir soeben: Wenn drüben die Weiblein mit der Vorstellung eines Rechens den vorgeblichen Sand auf den Wegen rechen sollten, die nur in meiner Vorstellung sind – sie würden es wohl bleiben lassen.«
Ich weiß nicht, ob ein radikaler Subjektivist dieses Ihr Argument anerkennen würde. Aber wahr ist, daß selbst der eingefleischteste Subjektivist seinen Subjektivismus vergißt, sobald er sich zum Mittagessen niedersetzt. Wir nehmen die äußere, objektive Welt als die vernünftigste Hypothese an, durch die sich sowohl die Welt als auch das Subjekt selbst am leichtesten erklären läßt. Wir nehmen sie selbstverständlich kritisch an.
Es gibt einen Unterschied zwischen dem naiven Objektivismus – man nennt ihn auch Realismus – dem Realismus des gewöhnlichen, unphilosophischen Menschen, und dem kritischen Realismus. Der einfache Mensch ist felsenfest von der Existenz dessen überzeugt, was er sieht, hört und so weiter. Sobald er nachzudenken beginnt, erkennt er, daß die Welt nicht ganz so ist, wie er sie sich vorgestellt hat. Er sagt sich: Haben denn Plato und nach ihm alle bis Berkeley, Kant und nach Kant alle die philosophischen Subjektivisten nur geschwärmt? Ist nicht ein Stück Wahrheit in ihnen? Die objektivistische Felsenfestigkeit weicht der Kritik, und der Philosoph sagt sich dann, daß es außer den verschiedenen Hypothesen von mehr oder minder radikalem Subjektivismus auch eine Hypothese des kritischen Realismus gibt.
Ich sagte – Pluralismus. Der Pluralismus nimmt die materielle Welt an, wenn sie auch nicht ganz so ist, wie sie uns erscheint; er nimmt auch die geistige Welt, die innere Welt des persönlichen Bewußtseins Unzähliger an, die Welt der Seele, er nimmt Gott an. Ich bin kein Materialist, kein Monist, kein Pantheist noch ein Panentheist, kein Dualist. Ich bin Pluralist, das All ist mir ein harmonisches System. So schütte ich meine ganze Metaphysik auf einmal vor Ihnen aus.
»Also Theist; wie nehmen Sie den Theismus an? Durch Gefühl, Verstand, Glauben?«
Durch Verstand; welche Rolle dabei der Glaube spielt, das gehört schon zu den Problemen der Religion. Ich nehme den Theismus durch Erfahrung und Verstand an. Die Gründe und Beweise des Theismus liefert mir der Verstand.
»Welche Beweise?«
Vor allem den theologischen Beweis. Die Zweckmäßigkeit der Welt, des Lebens, des historischen Geschehens, unserer Erkenntnis und unseres sittlichen Strebens bringt mich zur Anerkennung des Schöpfers und Lenkers des Alls, eines persönlichen, geistigen und unendlich vollkommenen Wesens. Gott selbst ist Verstand, ist Nus, Logos. Das haben schon die Griechen begriffen, als sie sich vom mythischen Polytheismus und Fetischismus befreiten; der Verstand ist, sagte schon Anaxagoras, der Ordner des Kosmos, und deswegen preist ihn Aristoteles, er sei »wie ein Nüchterner unter Trunkene gekommen«.
»Und wodurch würden Sie die Zweckmäßigkeit beweisen?«
Durch Erfahrung und Verstand. Es ist richtig, daß die Mehrzahl der Menschen an die Zweckmäßigkeit nur halb und ziemlich unbewußt glaubt. Wie könnte der Mensch, der absolut und bis in alle Konsequenzen die Ordnung in der Welt und die Zweckmäßigkeit aller Dinge, auch des eigenen Lebens, bestreiten würde, solchen Gedanken leben? Selbst der Verstand stellt doch eine vernünftige Ordnung in allem fest, was er erkennt, und konstruiert sie sogar in gewissem Maße; der Verstand geht schon seiner Natur nach auf Ordnung und Zweckmäßigkeit aus, stellt selbst Zwecke auf; von Zufall und Ziellosigkeit der Welt zu sprechen, ist gegen den Verstand, der Verstand ist selbst ein Organ der Ordnung und Teleologie. Die zweckmäßige Weltordnung ist durch den Verstand gegeben, unsere Erkenntnis selbst teleologisch.
»Und wie erklären Sie sich, woher, warum und wozu all das Böse ist? Der Schmerz und das Unglück, die Kriege und die Katastrophen?«
Ich werde es nicht erklären. Ich kann es nicht erklären. Aber weder der Monismus noch der Pantheismus, weder der Dualismus noch der Materialismus noch eine andere Doktrin können es besser erklären; ich halte am Theismus fest, weil er von allen möglichen Hypothesen vom Wesen und Ursprung der Welt die einfachste ist. Sagen Sie mir, warum das Schlechte, Schmerzliche, Unsinnige, das uns das Leben bietet, mehr bedeuten soll als das Gesunde, Glückliche und Gute? Gutes gibt es in der Weltordnung mehr; aber der Mensch empfindet das Böse stärker. Ehrlich erklären, wozu die Unvollkommenheit und das Leiden dient, kann ich nicht; aber ich sehe, daß der Mensch und die Menschheit die Unvollkommenheiten bekämpfen können und sollen. Ohne Überwindung der Hindernisse, ohne dringende und mitunter selbst schmerzliche Gründe zum Handeln wäre das Leben kein volles Leben. Ich glaube, daß die Philosophie nicht den Pessimismus zu widerlegen und Gott zu rechtfertigen braucht. Gott braucht keinen Rechtsanwalt. Und den Pessimismus widerlegen? Krankheit, Elend, Verbrechen können nicht durch Worte widerlegt werden. Glauben Sie nicht, daß ich mir die Unstimmigkeiten und die physische und geistige Not nicht zugeben will. Unlängst hörte ich die Nachtigall singen, wundervoll. Man sagte mir, in diesem Jahr sängen die Nachtigallen weil es Mücken genug gibt, die sie fressen können. Mein Gehirn durchzuckte der Gedanke: Die Nachtigallen singen dem Herrn ihren Dank für die Mücken? Ist aber auch das Summen der Mücken ein Lobgesang dafür, daß sie von den Nachtigallen im Flug geschluckt werden? Die Teleologie ist eine harte Nuß; immerhin ist sie annehmbarer als die Theorie der Ziellosigkeit, des Zufalls und des Chaos.
Ein anderes Argument des Theismus ist der sogenannte kosmologische Beweis: ohne erste Ursache, ohne ersten Schöpfer und Beweger können wir Ursprung, Bewegung und Entwicklung des Alls nicht begreifen. Vom kausalen Gesichtspunkt aus müssen wir irgendeinen Anfang der Kette von Ursachen annehmen; ich glaube, es genügt uns nicht, in infinitum sekundäre Ursachen anzunehmen. Das positivistische Ignorabimus, die Lehre von der Unerkennbarkeit der ersten Ursachen, den Agnostizismus halte ich überhaupt nicht für eine Erklärung der Welt und des Lebens.
»Es ist schon psychologisch sonderbar, sich die Fragen nach den ersten Ursachen zu versagen. Das ist wie das Märchen von den neun Kemenaten. In alle Kemenaten darf man eintreten, nur in die zehnte nicht. Muß man da nicht denken, daß in den neun Kemenaten nichts los sei und nur der Eintritt in die zehnte sich lohne?«
So ungefähr; und auch die zehnte enthält nicht mehr als die anderen neun, vielleicht gar nichts. Hume und Comte haben gefehlt, als sie das Suchen nach den Ursachen a limine ablehnten. Comte hat es geradezu polizeilich verboten. Es ist dann mit ihm auch entsprechend ausgegangen. Er aß von dem verbotenen Brot das größte Stück und versank bis an die Ohren in den Mythos.
Ich glaube, daß die modernen Naturwissenschaften durch ihre Lehre von der Entropie die Forderung des Aristoteles nach der ersten Ursache bestätigen: endet die Welt – der mechanischen Wärmetheorie zufolge – mit dem gleichen Wärmegrad in allen ihren Teilen, also mit dem Wärmetod, so besteht die Welt nicht seit Ewigkeit, sondern hat in der Zeit begonnen und findet in der Zeit auch ihr Ende. Ich weiß, daß dieser Grund von manchen Physikern nicht angenommen wird.
»Beweisen Sie die Existenz Gottes nur durch diese zwei Argumente?«
Ja. Genauer gesagt, die Hypothese von der Existenz Gottes. Für die Wissenschaft ist der Theismus eine Hypothese, die nach den Forderungen der Logik einfacher und daher begründeter ist als andere Hypothesen, etwa der Materialismus und dergleichen. Ich gehe weiter: als Theist, als Pluralist nehme ich auch die Existenz der Seele und ihre Unsterblichkeit an, aber ich kann für sie keine verstandesmäßigen Beweise, die jeden zum Verstummen bringen würden, anführen. Es gibt doch Gelehrte, die den Materialismus, Pantheismus, Monismus und so weiter verteidigen – ich halte mich nicht für unfehlbar und alles besser wissend. Ich glaube, daß die Hypothese von der unsterblichen Seele nicht in Widerspruch steht zur Biologie und Psychologie, zur Wissenschaft. Einstmals, in der Jugend, hat es mich aufgeregt, keine absolut zwingenden Beweise erbringen zu können. Heute sage ich mir: müssen wir denn, können wir denn alles wissen und notariell schwarz auf weiß haben? Was wäre das für eine Welt, wenn sie ohne Geheimnis wäre! Während ich Lehrer war und Philosophie lehrte, kamen die Jungen zu mir und fragten dies und das; sie konnten es nicht begreifen, wenn ich ihnen sagte: Ich weiß nicht. Sie staunten, was das für ein Philosoph sei, der nicht auf alles antworten konnte.
»Aber wenn Sie die Unsterblichkeit der Seele auch nicht beweisen können, so müssen Sie doch wenigstens Beweggründe haben, warum Sie sie mit Sicherheit annehmen.«
Das wohl. Ich kann mir nicht vorstellen, daß etwas so Schönes und Zartes wie das Denken, das Erkennen, die Frömmigkeit, das sittliche Streben, die Empfänglichkeit für Schönheit, die ganze Kultur, daß dies verlorengehen könnte, daß dies nutzlos sein sollte. Die Physiker sagen, die Energie könne nicht verlorengehen; und was ist die Energie in uns? Die Seele bewegt den Stoff, der Verstand gibt dem Stoff die Form, bestimmt den Zweck und erkennt diese ganze Welt: kann denn der Stoff Dauer haben – und die Seele nicht? Das wäre merkwürdig.
»Und dann: das Leben selbst zeugt gegen den Tod. Es ist wahr, daß alles Lebende stirbt; aber alles Lebende hat den grenzenlosen Willen zu dauern, sich zu überdauern, die Identität dauernd zu bewahren. Die Pflanze lebt in ihrer Nachkommenschaft wieder auf, gibt alles weiter und büßt nichts von ihren Eigenschaften ein. Nur die Seele sollte sich nicht forterben, nur die Seele sollte keine Fortsetzung haben? Das wäre unnatürlich.«
Man könnte sagen, daß wir uns in unseren Taten überleben. Aber wie vielen Menschen glückt es, den Nächsten ein wirkliches Werk zu hinterlassen? Die einen sterben jung, den andern ist keine Möglichkeit gegeben, ihre Begabung zu gebrauchen. Ich kann mir nicht denken, daß das potentielle Werk in ihnen so einfach verlorengehen könnte. Es wäre ungerecht.
»Wir können die Unsterblichkeit der Seele nicht beweisen; aber andererseits können wir uns das Nichtsein und das Nichtleben tatsächlich nicht vorstellen. Wir können uns das Aufhören des Lebens nur negativ vorstellen: daß wir nicht sehen, nicht hören, nicht wissen. Unser Begriff vom Tode ist so leer wie der Begriff vom Nichtbaum oder Nichtgras. Vielleicht fürchten wir den Tod wegen dieser Leere wie ein schwarzes Loch.«
Es kommt darauf an: ich fürchte ihn nicht, viele Menschen fürchten ihn nicht. Die Primitiven kennen die Todesfurcht nicht, das Mittelalter fürchtete den Tod nicht – erst der moderne Mensch fürchtet ihn. Vor allem fürchtet er mehr als die Menschen früher den Schmerz ...
»... wie der sterbende Wolker Jiří Wolker, jung gestorbener tschechischer Dichter. (Anm. d. Übers.) schrieb: ›Ich fürchte nicht den Tod, der Tod ist nicht böse, er ist nur ein Stück schweren Lebens. Ich fürchte das Sterben.‹«
Mancher moderne Mensch fürchtet den Tod, weil er zu genußsüchtig ist. Das Leben ist ihm nicht ein großes Drama, er will nur essen und genießen, ist ungläubig, hat nicht Vertrauen und Ergebenheit genug. Die moderne Selbstmordsucht und die Todesangst hängen beide zusammen, wie Angst und Flucht zusammenhängen. Aber das wäre ein Problem für sich. Wenn ich an die Unsterblichkeit denke, so denke ich nicht so sehr an den Tod und was nach ihm sein wird, als vielmehr an das Leben und seinen Inhalt. Für mich entspringt die Unsterblichkeit aus dem Reichtum und dem Wert des Menschenlebens, der Menschenseele. Der Mensch ist sich selbst, der Mensch dem Menschen wertvoller als geistiges Wesen. Und die Unsterblichkeit der Seele entspringt auch aus der Anerkennung Gottes, aus dem Glauben an die Weltordnung und die Gerechtigkeit. Es gäbe keine Gerechtigkeit, es gäbe keine vollkommene Gleichheit ohne die Ewigkeit der Seele. Und schließlich – die Unsterblichkeit erleben wir schon jetzt, in diesem Leben. Wir haben keine Erfahrung vom Leben nach dem Tode, aber wir haben schon jetzt, können schon jetzt die Erfahrung haben, daß wir nur sub specie aeterni ein wahres und volles menschliches Leben leben. Diese Erfahrung hängt letzten Endes von uns ab, davon, wie wir leben, wovon wir erfüllt sind und was wir aus unserem Leben hier zu schaffen bestrebt sind. Nur als Seele unter ewigen Seelen leben wir das Leben voll und in Wahrheit. Die Existenz der Seele ist die wahre Grundlage der Demokratie: das Ewige kann dem Ewigen nicht gleichgültig sein, der Unsterbliche ist dem Unsterblichen gleich. Davon empfängt die Liebe zum Nächsten ihren besonderen – man pflegt zu sagen, metaphysischen – Sinn.
Es ist wahr, ich kann nicht sagen, was und wie die Seele ist. Die seelische Tätigkeit schreibe ich der Seele und teilweise auch dem Körper, dem Gehirn, den Sinnen zu; wie aber Seele und Körper aufeinander einwirken, das weiß ich nicht. Übrigens vermag es weder der Materialismus noch der psychophysische Parallelismus annehmbar zu erklären. Und wie das Leben nach dem Tode sein wird, wie es sein kann, weiß ich um so weniger. Daß wir nach dem Tode mit irgendeinem Urwesen verschmelzen sollten, wie der Monismus, Pantheismus, Panentheismus lehren, kann ich nicht glauben: ich will auch nach dem Tode ich sein, will nicht in einem metaphysischen Brei zerfließen. Ich bin ein metaphysischer Individualist, wenn Sie es irgendwie bezeichnen wollen. Vielleicht empfangen wir nach dem Tode eine vollkommenere, ja vollkommene Erkenntnis, auch die Erkenntnis Gottes. Vielleicht ist das Leben nach dem Tode ein asymptotisches Näherkommen an Gott; immer und immer näher, ohne Ende näher. Auch das wäre eine Fortsetzung des Lebens hier, weil Gott der Hauptgegenstand unseres Nachdenkens, unseres Erkennens und Strebens ist, Gott und die Seele. Eines hängt mit dem andern zusammen. Die Seele und Gott ist das Doppelproblem unseres Denkens und Wollens – ich möchte sagen, die wahre Lebensaufgabe.
»Sie sprechen wie der reinste Spiritualist; und doch haben Sie Ihr Leben lang andere, aktuelle, praktische, reale Aufgaben auf sich genommen. Nicht mit Unrecht hat man Sie einen Realisten genannt.«
Das versteht sich. Aber auch im Aktuellen und Stofflichen spielt sich ja das geistige und ewige Geschehen ab. Gerade heute habe ich in meinen Papieren das orientalische Sprichwort gefunden: »Der Mensch soll so handeln, als wäre ihm an allem gelegen. Aber in seinem Innern sitzt ein kleiner Buddha, dem an nichts gelegen ist.« An nichts – das ist orientalisch gesagt und empfunden; wir würden sagen: dem an allem Zeitlichen und Stofflichen nur insofern gelegen ist, als es Ewiges und Geistiges birgt. Der Glaube an die Geistigkeit, die Betonung der Geistigkeit bedeutet nicht, daß wir den Stoff und den Körper übersehen sollen und dürfen. Philosophisch genommen, wissen wir ja nicht, was der Stoff seinem Wesen nach ist. Er ist uns eben – so gegeben wie die Seele, ist uns nur mittelst der Seele, durch unsere Empfänglichkeit und unser Denken gegeben: welches Recht haben wir demnach, ihn zu unterschätzen? Alle Erkenntnis des Stoffes ist nur die Entfaltung unserer seelischen Tätigkeit; Seele und Stoff stehen nicht gegeneinander. Seele, Körper und Stoff, die ganze Wirklichkeit ist uns zur Erkenntnis und Pflege gegeben; die Seele und unsere stoffliche Umwelt sollen wir zu größerer Vollendung bringen. Die Vorstellung, der Stoff sei etwas Niedrigeres und Unreineres als der Geist, ist verfehlt. Darin fehlt Plato und nach ihm die Theologen und Philosophen, die sich mit Verachtung vom Stoff, von der Natur und Welt abwenden.
»Und doch nennen Sie sich Platoniker.«
Ja. Aber das bedeutet nicht, daß ich sämtliche Anschauungen Platos übernehme. Ich bin Platoniker insofern, als ich im Kosmos Ideen suche, in dem, was vergeht, das, was Bestand hat und ewig ist. Ich kann mich nicht nur für die Bewegung interessieren, sondern auch für das, was sich bewegt, was sich wandelt. In der natürlichen Entwicklung suche ich Zweck und Ordnung, im historischen Geschehen den Sinn; ich stelle mir die Frage, wozu das alles geschehen ist und worauf es abzielt. Gegenüber dem Darwinismus, dem einseitigen Evolutionismus und Historismus betone ich die statische Seite: das, was dauert und in alle Zeiten fortbesteht. Ich erkenne nicht nur Heraklits »Panta rhei«, nicht nur die ständige Veränderung an, sondern auch das Wesen der sich verändernden Dinge; nicht nur die Dynamik und in ihr die Statik, sondern auch die Architektur alles Seins. Darum suche ich auch im Menschen das, was dauert: seine unsterbliche Seele.
»Zweck und Sinn des Geschehens und der Geschichte suchen, heißt fast an die Vorsehung glauben.«
Freilich. Ich muß an die Vorsehung glauben, die die Entwicklung der Welt und der Menschheit und jedes Einzelnen von uns lenkt. Sobald ich Gott den Schöpfer und Lenker anerkenne, muß ich in allem, was ist, eine Ordnung, einen Plan und eine vernünftige Bestimmung erblicken.
»Das heißt: Determinismus.«
Ja, selbstverständlich. Determinismus bedeutet eine feste Ordnung in der Natur, im Menschen und in der Gesellschaft und ihrer Entwicklung: überall eine genaue Gesetzlichkeit. Wir finden sie im Stoff, entdecken die schöne Ordnung der Atome; je weiter desto mehr werden wir diese Gesetzlichkeit auch im Menschenleben, in der Geschichte der Staaten, der Nationen und der Menschheit verfolgen können. Ja, wir werden mit ihr bewußt zusammen arbeiten können! Je mehr wir erkennen werden, desto klarer werden uns Plan und Zweck aller Dinge enthüllt sein; das Erkennen selbst ist Feststellung von Gesetzen und Einfügung der Tatsachen in eine gesetzliche Ordnung; wir sind darin noch am Anfang.
»Wenn Sie Determinismus sagen, so stellen Sie ein altes Problem auf: was ist es mit der Freiheit des Willens? Ist unser Tun von der Vorsehung oder der natürlichen Kausalität gelenkt, so ist unser angeblicher Wille und unsere moralische Freiheit nur Illusion?«
Nein. Wir können wählen – das verbürgt uns doch die Erfahrung selbst. Nur in der ursächlichen Welt können wir voraussehen, überlegt handeln, die Zukunft vorbereiten, also tatsächlich wollen. Der Determinismus schließt die Freiheit nicht aus, wohl aber die Willkür, die Laune und die Unbeständigkeit. Er führt zu Ausdauer und Konsequenz. Ohne Determinismus, ohne genaue Verkettung der Ursachen und Folgen gäbe es keine Verantwortung. Es gäbe lauter Zufälligkeit; wir wären für unsere Handlungen nicht verantwortlich. Die Triebfedern unseres Tuns wirkten in uns grundlos und aufs Geratewohl.
»Ich glaube, daß die Freiheit des Willens keine Aufhebung der Ursächlichkeit ist. Sie ist nur eine Möglichkeit, in das kausale Geschehen neue Ursachen hineinzulegen.«
Ich möchte das so sagen: Die Freiheit und die Vorbestimmung des Menschen ist durch sein Verhältnis zum Allmächtigen und Allwissenden Gott gegeben, der die Vergangenheit und die Zukunft kennt und diese Zukunft bestimmt. Der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen, Gott konnte den Menschen nicht anders denn als sein Ebenbild und sich selbst ähnlich schaffen; daraus entspringt für den Menschen der bewußte Synergismus, die Zusammenarbeit mit dem Willen Gottes. In der Erkenntnis der Natur und des Menschen, im Eindringen in die natürlichen, seelischen und geschichtlichen Gesetze, in der Empfängnis und Erfüllung dieser Gesetze sind wir an Gottes Schaffen und Lenken der Welt beteiligt. Gott läßt uns an seinem Werke arbeiten, will von uns die Arbeit, also die Zusammenarbeit. Jedes Zusammenwirken, auch unter den Menschen, umfaßt Freiheit und Unterordnung, Initiative und Gebundenheit. Die Synergie mit dem Willen Gottes gibt dem Menschen das Maß seiner Freiheit und seiner Determination; je stärker und bewußter er ist, desto mehr hat er von beidem.
Die Menschen glauben zwar, daß der Determinismus von Verantwortlichkeit befreit. Aber Gott schreibt mir nicht vor, jetzt den rechten oder den linken Arm zu heben: minima non curat praetor. Wir sind neben Gott und unter Gott autonome Wesen; wir haben das Recht der Initiative und tragen auch die Last der Verantwortlichkeit. Daher die Pflicht zum Aktivismus und Streben, zur Entschlossenheit und Tapferkeit. Die Freiheit ist ebenso schwer wie die Verpflichtung. Wir fühlen, daß der Wille weh tut. Wollen ist Arbeit; Entscheiden ermüdet, es ist das Schaffen von etwas Neuem. Ich habe während des Krieges die Soldaten beneidet, die Befehle bekommen; sie brauchen nur zu gehorchen und nicht zu entscheiden. Ich mußte entscheiden, ja auch immer befehlen, nicht nur denken, sondern auch stark wollen – ich weiß, was das ist.
Der Determinismus bedeutet nicht Unfreiheit, im Gegenteil. Der unreife Mensch, der die Weltordnung und ihre Grandiosität nicht begreift, der in seiner anfänglichen Schwäche und Urteilslosigkeit in der Welt und seinem eigenen Leben ein Kaleidoskop einzelner unzusammenhängender Erscheinungen sieht, sieht überall die unvernünftige Willkür von Geistern, Göttern, Zufall und blindem Fatum.
»Das sieht man auch heute: abergläubisch pflegen zumeist Leute zu sein, die auf den Zufall angewiesen sind: Spieler, Jäger, Theatermenschen usw.«
Natürlich, wer an den Zufall glaubt, glaubt auch an Götzen und Wunder. Der Aberglaube ist undeterministisch. Der Primitive ist ein metaphysischer Nichtdeterminist; er unterliegt blind Impulsen, folgt seiner Laune, ist ein metaphysischer Anarchist.
»Das möchte ich nicht sagen. Gerade bei den Wilden, bei Naturvölkern ist das Leben des Einzelnen am meisten durch Traditionen, rituelle Vorschriften und soziale Bräuche gebunden.«
Also sehen Sie, der Nichtdeterminist ist Sklave: er ist durch Bräuche und Aberglauben gebunden, unterliegt seinen Trieben, hat keinen freien Willen. Derlei Primitive haben Sie auch unter uns. Der Mensch hat nur soviel vernünftige Freiheit, als er an Determinismus in sich und in der Weltordnung begreifen kann.
Der Streit um Determinismus und Nichtdeterminismus ist eine sonderbare Geschichte, so alt wie das philosophische Denken. Schon bei den Griechen fällt das Wort: theos anaithios, der Gott ohne Schuld. Das Mittelalter zerbrach sich den Kopf über die Vorbestimmung: wenn Gott alles weiß und bestimmt, voraus weiß und vorbestimmt, wer wird gut, wer schlecht sein, wer erlöst und wer verdammt? Paulus, Augustin, Thomas von Aquino, Luther, Zwingli und Calvin hatten seltsame Ansichten über die Vorbestimmung; teils trachteten sie die Härte der Vorbestimmung durch die Lehre von der Gnade Gottes zu mildern. Auch die heutigen Theologen erfinden häufig nur Worte und nicht Begriffe, wie sie die Freiheit des menschlichen Willens mit Gottes Allmacht versöhnen sollen – ich glaube, daß das nirgends hinführt. Ich wundere mich nicht, daß ein Papst den Streit über die Freiheit des Willens und die Vorbestimmung einfach verboten hat. Für mich ergibt sich der Determinismus folgerichtig aus dem Theismus, aus der Anerkennung der teleologischen Weltordnung. Auch wir erfüllen die allweltliche Gesetzlichkeit und handeln ursächlich.
»Auch in unseren Fehlern?«
Allerdings. Aber wir haben die Möglichkeit, zwischen der Vielheit der Ursachen zu wählen, haben die Möglichkeit, zu werten. Alle Erziehung und Umerziehung, sittliche Verantwortlichkeit und Strafe beruht auf Determinismus. Wir hoffen, durch Erziehung in die Kinder Triebfedern guten Handelns zu legen. Und wozu wäre die Strafe, wenn sie nicht abschrecken würde, wenn sie nicht Ursache und Beweggrund zur Besserung wäre?
»Und die Todesstrafe?«
Das ist ein besonderes Kapitel. Das Recht, mit dem Tode zu strafen, ist ein furchtbares Recht, und nach seiner Geschichte und Entwicklung zu schließen, wird es in Zukunft aufgehoben werden. Fragen Sie nicht, wie mir zu Mute war, als ich Vorschläge auf Vollzug der Todesstrafe unterschrieben habe. Die Todesstrafe ist mir vor allem weder Vergeltung noch Abschreckung; sie ist kein Schutz gegen gefährliche Verbrecher. Wenn sie Sinn und Berechtigung hat, so nur als Sühne. Nichts wiegt etwas so Entsetzliches, wie es ein roher und eigennütziger Menschenmord ist, auf als der Tod; ein Mörder macht sich an der ganzen Menschheit schuldig. Aber auch das gilt nur für den heutigen Kulturzustand. Die künftigen Zeiten werden mehr Möglichkeiten der Vorbeugung, Wiedergutmachung und Neuerziehung und auch eine klarere Erkenntnis der kriminellen Verantwortlichkeit haben. In diesen und anderen Fragen wird man empirisch vorgehen müssen: zu konstatieren trachten, wie der Mensch unter gegebenen Umständen handelt; bis zu welchem Grade er sich und sein Tun kontrollieren und sich selbst erziehen kann; wie weit er frei und für sein Handeln verantwortlich ist. Ich gestehe, daß mir eine gewissenhafte Statistik – meinetwegen der Unfälle – lieber ist als einige Kapitel der Theodicee von Leibniz; aus der Statistik erfahre ich, was die Unfälle herbeizuführen pflegt und wie ihnen demnach zu begegnen ist. Wenn ein Chauffeur nicht trinkt, passiert ihm nicht so leicht ein Unfall, wie wenn er trinkt. Also kommt es darauf an, nicht zu trinken, und nicht, den Herrgott beschuldigen und rechtfertigen zu wollen. Um zu lernen, wie man die Krankheiten bekämpft, dazu sind die Doktoren und die Wissenschaft da.
Um das Elend zu beseitigen, dazu sind wir alle da. Und so weiter.
Das also ist der Determinismus: die Ursachen des Bösen erkennen, um gegen sie die Ursachen der Besserung aufzubringen. Nicht Fatalist sein noch Sklave, weder Sklave seiner selbst noch der Umgebung. Wo immer unser Standort ist, nicht blind handeln und arbeiten, sondern bewußt und frei, voraussehend, planvoll wie ein Arbeiter und Mitarbeiter Gottes. Dadurch unterscheide ich mich auch vom Stoizismus. Der Stoizismus macht aus Schwäche eine Tugend, ist sozusagen ein metaphysisches Achselzucken, enthält ein Stück titanischer Heuchelei. Die theistische Resignation ist hoffnungsvolle Bescheidenheit.