Hermann Eris Busse
Bauernadel
Hermann Eris Busse

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Der Sohn Markus

Die Zeit verlief. Der Winter deckte die Straßen und Pfade zu. Der Sturm baute Mauern und stach steile Wächten ab von den Schneemassen. Die Brunnen starrten vom Eise. Die Fenster waren wochenlang mit silbernen, wunderlichen Blütenschleiern überzogen, in die der Atem eines warmen Menschenmundes blaue Löcher hauchte, um einen Blick in die Welt zu öffnen. Die Welt schlief vor dem Hause. Nichts, das zeigte, ob sie überhaupt noch lebte, ob es noch braune Erde gab und schnelle Bäche und andere Menschen denn die im Uhrenmichelshofe. Man sah die eingeschneiten Nachbarshöfe nicht, auch bellte kein Hund zum Zeichen, daß es etwas Warmlebendiges auch außerhalb des Hofes gab.

In dieser Zeit kam Markus zur Welt, der zweite Erbe des Bauernpaares Stoffel und Agathe. 106

Von den Wehen plötzlich überrascht, mußte Agathe, gerade vom abendlichen Spinnen hinweg, in die Kammer eilen, und ohne andere Hilfe als die linkische und beinahe kopflose Nähe des Mannes warf sie den Knaben in die Welt, kaum daß die Magd und die Hüterbuben draußen den Schlitten hervorgerissen und angeschirrt hatten, um die Wehmutter zu holen, die nicht weit weg an der Straße gen Buchenbronn wohnte.

Als sie dann da war und alles in Ordnung brachte, das Gesinde zur Ruh gegangen war und es plötzlich so still im Hause schien, überkam den Stoffel ein heiliges Glücksgefühl. Er legte die großen, schmalen Finger ineinander und betete ein Vaterunser. Nun hatte er wieder einen Sohn. Wie gedieh ihm alles! Aus geheimsten Wünschen ward offene Erfüllung. Man wußte genau, wessen Hand so gütig überm Menschenschicksal waltete, und doch wartete man auf etwas wie auf ein Wunder, nein, wie auf eine große, klare Sicherheit. Ist das nun der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der solches vollbringt, oder ist er ganz anders? Stoffel dachte, er ist ganz anders, er ist groß, allmächtig und streng, wie es in der Schrift heißt, aber er ist nicht so weit von einem weg, daß man ihm Wünsche und Beichten sagen muß, wie es in der Christenlehre angeraten wird.

In diese Stille geriet Stoffel, da das Erlebnis der Geburt des Sohnes tief in ihm strömte wie ein Meer, das man nur im Traume sah in seiner unendlichen Weite, Stoffel geriet in die tiefe, leidenschaftliche Besinnung seiner früheren Jahre. Und fast immer hatte diese Besinnung um Gott geglüht und in vielfältigen Fragen geraunt. Und Gott war die Welt. Nie stand der Zweifel gierig da und stritt seine Allmacht und Stärke und seine gar nicht auszudenkende Fülle weg. Nur so lebte und webte er nicht, wie man es ihn glauben machen wollte. Darüber stritt Stoffel mit sich in der ungestörten Hirtenzeit, so oft ihn diese Rätsel bewegten. Er suchte sich ein anderes, sein Bild von Gott zu machen, der nicht der Katechismus, selbst nicht der Bibelgott war; aber das gelang ihm nicht. Er sagte nur, ganz ohne zu wissen, wie sie war, und doch erfüllt von deren unheimlichen Größe: Gott ist die Welt, ganz sicher. In einer Schrift las er, mühsam begreifend erst, dann aber wie im Rausch über das neue Wissen, oft und oft; er erfuhr, daß die 107 Welt nicht, wie er bisher gemeint, Erde und Himmel und Meer zusammen sei, so wie es die Erdkugel des Herrn Lehrers im Schulzimmer drunten im kleinen zeigte, sondern Welt, das heißt der Reigen aller Himmelskörper, der sichtbaren und unsichtbaren. Der Himmel selber und aller Himmel Himmel überhaupt gehöre dazu und alle Winde, alle Wolken, der Atem aus dem Kindermund, Schmetterlingsflügel und Lerchensang, das Saugen der Wurzeln im Boden, das Tanzen der Stäubchen in der Sonne, Regenbogen und Nacht, das Geborenwerden und das Sterben, der stille Gedanke und das Lächeln, Leid und Demut, Feuer und Licht, das alles sei Welt.

Nun wuchs sein Gottesbegriff in die höchste Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit empor, aber das verwirrte ihn nicht. Man kann sich also kein Bild von ihm machen, dachte Stoffel, niemals kann man das, man kann auch seinen Namen nicht mehr nennen; denn Er hat keinen, Er heißt nicht. Stoffel konnte, weil er ein schlichter Bauernsproß war – freilich ein Schwarzwälder, dessen gläubiger Tiefsinn und Suchgeist bis zur Leidenschaft gesteigert, seit vielen Geschlechtern schon im Volke steckt –, er konnte nicht fertig denken wie ein gelehrter Weltweiser: Er heißt nicht – Er ist, sondern hielt an bei»Er heißt nicht« und fühlte zuinnerst: Er ist.

Damals warf er die große Glaskugel, die er gerade mit der Hand umschließen konnte, an einen Felsblock, daß sie zerfuhr in tausend Splitter. Denn sie, in deren Inneres auf geheimnisvolle Weise zarte gelbe, rote und blaue Fäden geschlossen waren, die seltsam gewunden darinnen lebten, man glaubte, wenn man lange hinsah, sie bewegten sich, diese Glaskugel war ihm bisher so etwas wie die Welt gewesen, ein Ding, das er sich selber ins ganz Unermeßliche vergrößert dachte; und das klare, geheimnisvoll durchwebte Glas konnte die Klarheit Gottes darstellen. So erfand er mit dieser billigen, in der Glasfabrik zu Äule geblasenen Kugel das seltsamste Spiel, das vielleicht je von einem Knaben erdacht wurde. Doch sonderbar, nachdem die Kugel tot und die Leidenschaft des Gottsuchens durch die große Einbeziehung des Alls in das kindliche Weltbild an der Grenze ihres Vermögens angelangt war, kam Stoffel in die Zeit, da seine Stimme tief klang und die körperliche Entwicklungsglut nicht mehr den Geist zu aufgeregten Gedanken und 108 Erlebnissen trieb. Da schliefen die Gottesspiele ein. Sie wachten seither nicht mehr ganz auf. Er wurde ein Mann, er wurde Soldat, er wurde Knecht und wurde Bauer. Manchmal meinte er, der Atem stehe ihm plötzlich still, wenn ein tiefer Gedanke ihn anflog, und da spürte er Ihn, Den man nicht nennen kann.

Jetzt, wo er allein dasaß, neben der Kammer der Kindbetterin, in der nicht einmal geflüstert wurde, denn Agathe schlief, jetzt dachte er an die kurze Spanne Zeit vorhin. Waren es Minuten, waren es Stunden? Er faßte das nicht. Da stockte ihm der Atem, da schwebte Er ihn an und um und um, und dann schrie der Knabe.

Nun hockte Stoffel hier, einsam, eigentlich aufs tiefste allein; denn wußte Agathe, was er dachte, und ahnte er, wie sie fühlte, als sie solch ein Kind in die Welt warf aus der Finsternis und wehen Wunde ihres Leibes? Alle sind allein, sie sind umhüllt von einem eigenen Wesen, das keiner weiß. Das Kind in seiner Wiege, das Weib in seinem Bett und er, Stoffel Götz.

Eine Stubenfliege, die sich den Winter über wach hielt, sumste um das Öllämpchen und taumelte mit halb versengten Gliedern auf Stoffels Hand. Er ließ sie sich erholen an der Wärme und Feuchtigkeit seiner Haut, als ob er Freude hätte an dem Lebewesen, das außer ihm noch munter war im Hause. Die Wachtel und der Kuckuck an der Uhr sprangen abwechselnd aus ihren Türchen, und jeder Vogel erhob sechsmal seine Stimme: »Also zwölf Uhr«, sagte Stoffel, zog die Schuhe ab und ging auf den Strümpfen in die Kammer.

Agathe lag wach.

»Wie soll er heißen, Stoffel?« fragte sie.

Stoffel wußte es nicht. Er tappte in die Stube zurück, den Kalender zu holen. Er las die Namen herunter.

»Martin klang einmal wie eine Faust voll Gotteserde«, sagte Stoffel, »es soll eine ähnliche Kraft auch im neuen Namen ruhen.«

Und er stieß auf Markus.

»Markus?«

»So soll er heißen«, bestimmte Stoffel, »Markus Götz, es klingt stolz und reich« 109

»O du Hochmutspinsel!« lachte Agathe leise, »was du an alles für Gedanken hängst!«

Stoffel jedoch gab keine Antwort mehr. Er war, kaum daß er das Kissen an der Schläfe spürte, mitten aus dem Gespräch in den Schlaf geholt worden.

Das kleine Kind ningerte ein wenig, ganz, ganz leise, fast klang es wie die erste Singprobe eines Frühlingsvogels. Und lächelnd, froh, die schwere Stunde überstanden zu haben, schlief auch Agathe wieder ein.

*

Frühling, Sommer und Herbst gingen darüber hin. Das Kerlchen gedieh, alles gedieh dem Michelshofbauern. Markus stand bereits auf den prallen Beinen und radebrechte die ersten Worte. Hund und Katze spielten mit ihm und der Hüterbub Fritz, das Dächsle, wenn er ein Weilchen Freizeit hatte. Agathe gewöhnte sich daran, dem Dächsle das Kind zu überlassen, sobald sie es nicht betreuen konnte; denn kein Mädchen verstand besser mit dem lebhaften Buben umzugehen als der Lauble Fritz. In keiner Schule hatte er gutgetan, hatte den Einsegnungsunterricht geschwänzt und vergaß jetzt, in die Christenlehre zu gehen. Er führte die schlimmen Schulbubenstreiche an, stenzte Obst aus dem Pfarrgarten, stahl den Hennen die Eier noch warm vom Pürzel weg und sog sie aus, er hob die Stellfallen auf, daß stille, fremde Mühlen plötzlich zu klappern begannen oder daß die mahlenden streikten, kurzum, das Dächsle war ein kleiner Gauner, dem immer etwas Ungehöriges zu schaffen machte. Aber bei dem Kinde zeigte er sich sanft und geduldig, er wußte, ehe es die Bäuerin bemerkte, daß der Markus ein Backenzähnchen bekam, kannte die Schoppenzeiten, ließ sich zerren und schurigeln. Oft mußten Bauer und Bäuerin hinstehen und sich wundern, wie der sechzehnjährige, gestauchte, vierschrötige Bursche mit Katze, Hund und Kind seine Sonntage hinbrachte, während andere seines Alters, auch der Hüterknecht Peter, irgendwo beisammensaßen in einer Wirtschaft in Buchenbronn und sich von den Mägden erzählten.

*

Im Winter kam der Maler Lukas Kirner aus Augsburg heim und begann Agathe und Stoffel zu malen. Kirner 110 stammte aus dem Städtchen Furtwangen, das ungefähr anderthalb Wegstunden hinterm Siehdichfür lag und eine rege Heimindustrie besaß. Die Uhrenmacherei, insbesondere die Schildmalerei, wie auch das Strohflechten, waren sehr im Schwunge. Hier wohnte die Kirnerfamilie, nach dem Beruf des Vaters und Großvaters »Schuhpeters« genannt, in erträglichen Verhältnissen. Der Großvater war sogar Lehrer gewesen und trug durch sein kluges und charaktervolles Auftreten viel zur Hochachtbarkeit der Kirnersippe bei.

Der Vater der beiden berühmten Maler Lukas und Johann Baptist besaß Schuhmacherei und Kramladen im eigenen Hause, in dem außer seiner sehr klugen und heiteren Frau Genoveva, geborenen Dilger, zahlreiche Kinder herumsprangen. Von sieben Kindern, vier Knaben und drei Mädchen, starben zwei noch sehr klein, nämlich zwei Mädchen, das eine an der Pest. Lukas und der viel jüngere Johann Baptist gediehen gut und hatten vom zarten Kindesalter an eine große Leidenschaft: das Malen.

Vielleicht war das Muttererbe daran am meisten beteiligt; denn das »Vefili« stammte aus der ersten Uhrenmacher- und Glockengießerfamilie des Schwarzwaldes; etwas vom hellen, schöpferischen Geist dieser Berufe pulste wohl in ihrem Blute und in dem ihrer Söhne.

Der Schuhpeter wollte tüchtige Handwerker aus den Buben machen, doch sie entschlüpften seinen strengen Plänen, vom Lächeln ihrer verstehenden Frau Mutter gesegnet, und wurden das, wozu es sie trieb. Zunächst der Lukas; die dreijährige Lehre beim Uhrenschildmaler wurde recht und schlecht durchgehauen, dann aber die Bildniskunst mit Leidenschaft und Fleiß auf den Schild erhoben. Er konnte viel, der stille, besinnliche Lukas, nur nicht glücklich leben. Er kam nach Augsburg, heiratete dort ein bayerisches Mädchen, bekam zwei Kinder, aber keinen Segen ins Haus. Die lebhafte, wohl auch lebenshungrige Frau litt neben dem stillen Schwarzwälder. Der mußte in ihrer Heimat leben und verzehrte sich doch vor Sehnsucht nach seinen Bergen. So erschien er oft in der Gegend, und man schätzte sich glücklich, von ihm gemalt zu werden. Zahllose Bildnisse hingen in den guten Bauern- und Bürgerhäusern, ganze Sippen wurden von ihm gemalt. Viele haben heute vergessen, von 111 wem ihre Ahnenbilder sind, diese ernsten, vor dunklem Grunde gemalten Gesichter von Männern und Frauen, schier adlig in den feinen Zügen; denn das Schwarzwälder Antlitz aus altem Geschlecht ist so eigenartig schön wie das des Adels, nur scharf gezeichnet von der harten Arbeit, die keinem echten Bauern erspart bleibt, und gezeichnet von der Bergeinsamkeit, die die Seelen beherrscht.

*

Als Lukas Kirner diesmal aus dem Bayerischen heimkehrte, saß schon ein schleichendes Leiden in ihm. Er schien noch stiller, noch milder und noch schwermütiger geworden als vorher. Er wohnte bei seiner schönen und seelenvollen Schwester Karoline, die an Gregor Duffner, den Müller, verheiratet war. Sie trug auch ihr heimliches Kreuz. Gregor, der studiert hatte und einst ein flotter Kerl gewesen war, sattelte um ihretwillen, die er unsäglich liebte, um und blieb auf dem väterlichen Erbe in der Heimat ein Bauer und Müller. Beides wohl mit verborgenem Widerwillen und mit offenem Ungeschick. Er gab leicht einem angeborenen Leichtsinn nach und schaffte dem geliebten Weib Kummer und Leid. Er starb früh und ließ sie mit sieben Kindern in mühevollem Leben zurück.

Karoline, die Lukas auf seinem bekanntesten und wohl auch schönsten Bilde so anmutig dargestellt hat, als Mädchen, das sich das Haar macht, diese Schwester liebte ihre Brüder über alles. Der Lukas kam krank an Leib und Seele zu ihr, und sie betreute ihn bis zum Tode. Der Johann Baptist kam ein Jahrzehnt später auch und bettete sein langes Siechtum in ihre lindernde Wärme.

Diese freundlichen, in guten Stunden übermütig heiteren und geistvollen Männer, deren Geschick im Innersten nahezu verhängnisvoll verlief, waren Künstler im wahren Sinne des Wortes. Wenn auch Lukas nicht so zur Bedeutung erhoben wurde wie Johann Baptist, so heißt das nicht, daß er der minder Begabte von beiden war; doch fehlte ihm die großzügige und weitumfassendere Ausbildung des jungen Bruders, dem er die Wege zum Studium hatte ebnen können. Er selber mußte die Bresche schlagen für des Bruders Weg, das verbrauchte viel Kraft. Man denke, ein einfacher Handwerker und Bauernbub aus weltverlorener Gegend, wo sich die Füchse und 112 Hasen Gutnacht sagen, drängt sich aus den Überlieferungen und strengen Anschauungen der Familie, der Ortsgemeinschaft heraus in den brotlosen Beruf der unbegreiflichen Kunst, wandert, zäh sein Ziel verfolgend, in die Welt. Gänzlich unerfahren kommt er in völlig andere Verhältnisse und hält durch. Das ist echt schwarzwälderisch.

Johann Baptist hat immer gesagt: »Wenn dem Lukas einer so geholfen hätte, wie dieser mir, dem ›Baptistle‹, so wäre er bestimmt der größere Maler geworden.«

Selten sind wohl Geschwister aus bäuerlichen Familien einander so innig und hilfreich begegnet und selbst durch Opfer ihrer Liebe nicht überdrüssig, nicht einmal ungeduldig geworden wie eben diese Kirners. Die Bauern sind sonst wie die Vögel aus einem Nest. Sie lockern ihre Gemeinschaft bis aufs äußerste, aber Art läßt nicht von Art. Die Schwalben finden sich zum Sammeln und zum Wanderflug ein, die Schar aus diesem Dorf und die Schar aus jenem Dorf, wenn ihr Tag gekommen ist. So finden sich die einzelnen Glieder der Sippen treu und sicher zusammen zur Taufe und Beerdigung, zur Einsegnung und zur Hochzeit. Aber von zutraulicher Wärme ist selten die Rede. Und leibliche wie seelische Hilfe gewähren sie einander ungern, sie hängen zäh am Besitz und geben vom Eigenen nicht fröhlich her. Das ist wohl kaum der landläufige Ausdruck eines geizigen Wesens. Die Waldbauern haben ihre Scholle nicht leicht errungen. Viel Schweiß, viel Zeit und viel Geduld erforderte die kleinste Rodung, und was sie so hart erschaffen, lieben sie auch in einer leidenschaftlichen und eigenwilligen Herbheit.

Die Kirners, nahe am Herzen der Eltern aufgewachsen in einer Nähe, die wohl nur bei städtischen Familien möglich ist, wo der Wirkungskreis der väterlichen und mütterlichen Augen nicht über Wälder und Hügel zu gehen braucht, hatten eine wenn auch strenge, so doch auf ihre Ausbildung sehr achtsame Erziehung genossen. Das sprach mit für ihren schönen Zusammenhalt. Wenn der Lukas, der, so schlicht er sich kleidete, doch wie ein Herr aussah, in eine Bauernstube trat, so hellten sich die Gesichter auf, und ein guter Geist kam mit ihm herein.

Da nun Lukas Kirner zum erstenmal bei den Bauersleuten Agathe und Stoffel weilte, um ihnen die Art und die Umstände, 113 wie er sie malen sollte, zu beraten, fühlte er sich von ihnen seltsam gefesselt. Er glaubte, nie ein so schönes und doch auch so merkwürdiges Paar gemalt zu haben und konnte es kaum erwarten, bis er an die Arbeit kam. Stoffel mußte erst noch den Drusch beenden, das Sommersaatgut verlesen und Mehl mahlen, und Agathe wollte ihren Hanf erst brechen und hecheln. Dann, wenn der Bauer ruhig überm Kalender sinnen und die Bäuerin am Spinnrad sitzen konnte, war es nach ihrer Ansicht die rechte Zeit, in aller Ruhe die Bildnisse zu machen. So geduldete sich Lukas. Schließlich kam der Stoffel eines Morgens vor die Beckenmühle zu Furtwangen gefahren, zweispännig sogar, und holte den Meister auf den Michelshof.

Agathe und Stoffel wollten ähnlich gemalt sein wie Salomon Kuß und seine Kreszenz. Lukas lächelte und sagte: »Ja, ja, der Moser hat was gekonnt. Ich freilich mach' es anders, eben auf meine Art. Es ist nicht ein Mensch wie der andere, Leut. Er hat gut, ich glaube es wenigstens, das Äußere darstellen können, die Tracht, das Gesicht, die Wohlhabenheit. Das ist wohl schön, aber nicht die Hauptsache. Das Inwendige muß gezeigt werden, die ganz bestimmten Züge um Augen, Mund und Nase, vor allem der Ausdruck der Stirne und der Lippen. Ich weiß nicht, ob Ihr, Christoffel Götz, wißt, wie ich's meine.«

Stoffel nickte still und sagte: »Ich weiß es.« Daraus hörte Lukas Kirner: »Mir ist's recht.«

Agathe wurde rot und blaß in rascher Folge, senkte die Lider und meinte: »Alsdann ist es gefährlich mit Ihnen, Herr Kirner, Sie verstehen Gedanken zu lesen?«

»Wird Euch bange, Frau Agathe?«

»Ha nein, zu verstecken hab' ich nichts!« lachte sie und zog am Wiegenband, den kleinen Markus zu erfreuen.

Kirner fand bei sich, sie sei nicht leicht zu fassen, ihr flächiges Gesicht wechsle den Ausdruck zu oft, während das Antlitz Stoffels klare, eindeutige Züge trage, wie aus Holz geschnitten, groß, scharf, ernst. Nur an Mund- und Augenwinkeln sprach etwas Rätselvolles mit, aber das kannte Kirner. Ähnliche Runen lagen auch in seinem Gesicht. Sie bezeichneten den Grübler und Träumer. Trotz aller Härte des Hiebes der Wangen und der Schläfen verrieten diese fast unmerklichen Linien am sichersten das Inwendige des Mannes. 114

So kam es, daß Stoffels Bildnis sich rasch entwickelte, aber aus dem der Agathe nichts Rechtes werden wollte. Kirner bekam eine unsichere Hand, wenn er an diesem malte, und unverläßliche Augen. Nachts ging ihm das unerschlossene Antlitz der Frau nach und machte die Träume unruhig. Das Vertrauen auf sein Können wurde erschüttert, dessen Selbstverständlichkeit wurde fraglich. Er machte Studie um Studie, belächelte zuweilen sein ängstliches Wesen: »Was liegt denn an einem Bauerngesicht, daß man so lange sich damit abplagt! Es soll vor allem äußerlich ähnlich sein, mehr wird nicht verlangt.« Doch brannte seine Künstlerleidenschaft in heller Glut. Das Bildnis mußte einfach gelingen. Sein morscher Körper unterwarf sich. Fast schien es, als verjünge er sich und gesunde durch die Erregungen. Die Atemnot blieb aus, die beängstigende Enge der Brust und die Furcht vor dem Tode.

Die Bäuerin saß am Spinnrad, während er malte, das Surren erfüllte die Stube mit beruhigender Musik. Seitdem Stoffel nicht mehr dem Maler zur Hand sein mußte, spengelte er an den Ackergeräten herum, stand im Schopf am Schnidstuhl (Schnitzbank) und bastelte neue Joche für die Zugtiere. Saß er, weil es ihn draußen zu sehr fror, in der Stube, so bemalte er Uhrenschilder, wofür ihm Kirner neue Anregungen und Vorlagen gegeben. Überhaupt wurden die beiden gute Freunde, sie sagten einander du und gerieten oft in langausgedehnte Religionsgespräche.

Agathe beobachtete sie, wenn sie am Tisch beisammen saßen, von ihrem Ofensitz aus und fand, der Kirner, obgleich viel älter als der Stoffel, sähe bedeutend jünger aus als dieser. Aber das kam daher, daß Kirner gewandte Gebärden machte beim Sprechen, schön und lebhaft die Worte setzte und die weißen Hände dazu bewegte. Indessen saß der junge Bauer da wie ein Klotz, die Hände schwer auf der Tischplatte gefaltet oder in den Hosensäcken verborgen, das Gesicht unbewegt fast, wenn er langsam sprach, die Augen nicht auf den Zuhörenden, sondern steif in eine Ferne gerichtet, in die das, was er vorbrachte, auf schier unleserliche Weise geschrieben schien. Und doch hatte alles Hand und Fuß, was durch Stoffels langsame und gründliche Gedanken gegangen war. Es entsprang einer starken und sicheren Klarheit. Deshalb zog es Kirner an, dem oft die 115 fiebrige Inbrunst seines Wesens den unbestechlichen Blick auf die Dinge verschleierte, und der dann im Leben viele Fehler machte. Auch den der Heirat.

Kirners Neugier, seinem Wesen nicht fremd, kreiste immer wieder um die Gemeinschaft des Bauernpaares; aber sie fand nicht viel Nahrung. Das Verhältnis schien klar und ohne Kühle, jedoch auch ohne Glut. Sie stritten nie, schäkerten aber auch nicht. Wenn sie zufällig nebeneinander standen, Stoffel und Agathe, so drehte es Kirner fast das Herz herum, weil das Paar herrlich aussah, stolz mit schönen Gesichtern und einer Haltung wie aus Holz gemeißelt und sich innerlich doch fremd gegenüber stand. Dazu der Gegensatz der Blondheit Stoffels und der dunklen Bräune Agathens, der hellen, überhellen Augen des Bauern und der tiefdunklen der Bäuerin.

Wie er sich auch Mühe gab und auf Wege dazu sann, Kirner drang nicht in der Bäuerin Wesen ein. Das war ihm noch nie geschehen, daß er so ausgesperrt vor einem Gesicht stand, das alles andeutete und doch nichts verriet: um den üppigen, aber fein gezeichneten Mund die heimliche Unruhe, die sich in den Augenwinkeln wiederholte, dagegen die flächige Ruhe der vollen Wangen und der hohen, glatten Stirne, in der die Brauen schwere, dunkle, schwach gehobene Bogen bildeten, die über der Nasenwurzel fast zusammentrafen. Das Seltsamste, geradezu belustigend Seltsame, war die Nase in diesem großzügigen Antlitz. Es war ein keckes, kleines Ding, schmalrückig und in ungebogener Linie sprang sie von der Stirne vor und trug große, ein wenig dickwandige Flügel. Sie nahm dem Gesicht die allzu starke Strenge, setzte überhaupt die Betonung froher, lachlustiger Sinnlichkeit hinein.

Wenn Agathe lachte, trat dies natürlich besonders hervor. Kirner ließ sich von anderen, die Agathe früher gekannt hatten, erzählen, sie sei ein lustiges, ja sogar wildes Mädchen gewesen, das gewiß etwas Letzes angestellt hätte, wenn der Bruderbauer sie nicht frühzeitig unter die Haube gesteckt hätte. Der Tobias Faller sei dann wahrscheinlich nicht ganz der rechte Mann für sie gewesen, weil er zu still, zu fromm und zu schwächlich geraten war.

So merkwürdig überzwerch und kalt sei sie erst seit dem Brande. 116 Kirners Schwester Karoline meinte, der Tod eines ersten Kindes sei auch schwer zu verwinden, und heimlich trage die Michelsbäuerin eben auch ihr Kreuz wie fast alle Frauen. Der Stoffel sei halt ein Besonderer, dem man ganz seltsame Sachen andichte, er wisse um die schwarze Zauberkunst und habe eine unheimliche Gewalt im Blick. Im Michelshof wehe eben ein eigener Geist.

Am Weihnachtstage hellte sich plötzlich das Gesicht Agathens auf in wunderbarer Wärme und blieb den ganzen Tag so, daß Kirner dableiben und in das schon fast fertige Bild eine neue Lebendigkeit malen mußte. Am Morgen machte sich nämlich ganz unvermittelt der kleine Markus vom Schoße der Mutter weg, an den er sich hingeklammert, während sie auf der Ofenbank saß, und lief mit sicheren Schrittchen an den Christbaum hinüber, an dem Kirner zum Spaße ein Lichtlein angezündet hatte.

Das Bürschlein selber machte hernach, da es sich plötzlich von Mutters Schoß so eigenmächtig entfernt, ein paar sonderbare Augen, so zwischen Weinen, Sichwundern und Lachen, worüber die zwei Erwachsenen, die atemlos zugeschaut hatten, auch erst feuchte Augen und dann Lust zum Lachen bekamen.

Agathe ging hin und nahm den prallen Buben auf, der den ersten Schritt ins Leben getan, küßte ihn leidenschaftlich ab und setzte ihn wieder nieder. Der krähte in den höchsten Tönen, stellte sich auf die Beinchen, holla, so sicher ging es doch nicht, plotzte hin und hatte ein Jubeln und Schreien vor Freude. Tief ergriffen und an seine ersten Ehejahre mit den kleinen Kindern denkend, wandte sich Kirner ab und schaute in den Schnee, kehrte sich wieder um in die Stube und sah das helle Glück in Agathens Gesicht, mußte zu ihr hin, ihre Hand nehmen, die bäuerlich rauhe, aus der Form geschaffte Frauenhand und mußte sie küssen.

Agathe zog wohl die Hand rasch zurück und rieb den Rücken am Rock ab, aber sie war nicht verlegen und sagte auch kein Wort.

Kirner trat zurück, faßte sich und sagte: »Ich könnte jetzt noch einmal an das Bild gehen.«

Agathe nickte. »Warum nicht, ich habe Zeit. Der Bauer 117 kommt noch lange nicht aus der Kirche. Und das Sauerkraut kocht samt dem Speck von selber gar.«

So geschah es, daß das Bildnis der Bäuerin in die kalte Herrlichkeit der glitzrig gestickten Tracht und dem gleißend dunklen Scheitelhaar über dem stillen, unfeierlichen Gesicht eine linde, wie daraufgehauchte Wärme bekam, die es anmutig und vornehm machte. Und das wurde nun trotz der langen Unfruchtbarkeit des schöpferischen Traumes eines seiner besten Bilder, zumindest das eigenartigste, darob der Schwester Karoline, die einmal mit dem Lukas in den Michelshof fuhr, die hellen Tränen in die Augen schossen.

Aber Karoline merkte auch im Feingefühl der Frau, die viel seelisches Leid trägt, daß es dem Lukas tief gegangen war, der Michelshofbäuerin Bildnis so zu vollenden. Ihn, den Siechen, fiel noch einmal die Liebe an, die wehmütige Neigung zu einer Unerreichbaren. Doch er zeigte dies nicht. Als die Bilder im Rahmen standen und neben dem Salomon und der Kreszentia hingen, wie die leiblichen Kinder neben dem Elternpaar, zumal der Stoffel viel Ähnlichkeit mit dem Oheim und auch die Agathe die Dunkelheit von Haar und Augen mit der Base ihrer Mutter gemeinsam hatte, als es nun für Lukas Kirner nichts mehr zu tun gab im Michelshof, vermied er, dorthin zu gehen. Auch wurde ihm der Weg über die Fuchsfalle und den Siehdichfür zu beschwerlich. Kaum dreimal war er in den nächsten zwei Jahren im Michelshof angekehrt, um Agathe, die alle seine Träume ausfüllte, zu sehen. Dann starb er nach schwerem Leiden, tief betrauert von seinen Geschwistern, von Karoline und Johann Baptist vorab, und alle Waldbauern ringsum sagten ihm nur Gutes nach.

 


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