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Ib!
Halle erwachte und fuhr in die Höhe. Er starrte in die graue Dämmerung, die durch die Fensterläden sickerte.
Wie lebhaft hatte er geträumt! Ib hatte dort an dem runden Tisch gestanden, die Hand aus dem Rücken des Lehnstuhles, und vor sich hingeblickt, ernst, betrübt. Gesagt hatte er nichts, war dann auf die Fenster zugegangen und verschwunden. Sein Rücken war gebückt gewesen, als ob er zu schwer gearbeitet habe, auch hinkte er mehr als sonst.
Gestern abend, als Halle zu Bett gegangen war, hatte er lange wach gelegen und gedacht, ob er wohl Ibs Geburtstagsbrief morgen bekommen würde. Er selbst hatte rechtzeitig geschrieben, denn der Postgang war unzuverlässig in diesen unruhigen Zeiten. Vielleicht hatte Ib seinen Brief schon gestern bekommen, hatte wach gelegen und an ihn gedacht, und deshalb waren sie sich im Traum begegnet.
Phantasterei!
Halle schüttelte die Gedanken von sich, sprang auf und öffnete die Fensterläden. Gleich darauf kam Louis mit seinem Frühstück, der Post und den Zeitungen.
Während Halle vor dem offenstehenden Fenster frühstückte, dachte er an Adele; auch sie hatte diese Aussicht über Garten und Fluß geliebt. Fünf Jahre waren vergangen, seit sie zum letzten Male seinen Geburtstag zusammen gefeiert hatten. Würde Frau Cadet sich der runden Zahl erinnern?
Halle atmete tief auf, schob die Erinnerungen von sich und entfaltete die Morgenzeitung.
Dieser ewige Tongking-Krieg –
Der Leitartikel war »Das Geld und die Blutpumpe« überschrieben; es wurde darin festgestellt, was Tongking dem Lande an Geld und Mannschaft gekostet hatte; Halle mußte zugeben, daß die Zahlen unheimlich waren.
Und wie in Tongking, stand da weiter, so auch in Indien.
Halle ließ die Zeitung sinken und starrte in den Nebel.
War es zu verwundern, daß die Arbeiter nicht mehr mitmachen wollten? Ihre Jugend, ihr Blut ging ja dabei drauf –
In allen Häfen wurde desertiert, nicht vereinzelt, sondern ganze Besatzungen, wie kürzlich in Algier, wo die Mannschaft eines Nachts auf geraubten Kamelen in die Wüste geflüchtet war. In der Deputiertenkammer verlangte die Partei Amnestie, es wurde eine große Nummer daraus gemacht. –
Was aber stand da?
»Englische Arbeiterdeputation bei den französischen Kollegen« Halle las es mit steigendem Interesse – »Vorschläge zu einer gemeinsamen Aktion – Wir kämpfen für die Sache der Menschlichkeit, in dem Krieg gegen den Krieg gibt es für uns keine nationalen Grenzen. Ihr verlangt Amnestie für die Deserteure, das genügt nicht. Wir wollen ihren Namen zu einem Ehrennamen machen. Wir bitten euch, französische Brüder, an ein und demselben Tage, soweit die englische und französische Militärmacht reicht, die Waffen niederzulegen und euch zu weigern, Mordarbeit zu verrichten. Schließt euch an uns an, und im selben Augenblick wird der Krieg beendet sein. Tongking für die Tongkinesen, Indien für die Inder, Asien für die Asiaten, Europa für die Europäer – und Friede für die Arbeiter – das soll im heiligen Namen der Brüderschaft unser Feldzug sein.«
Wenn das durchgeht, dachte Halle und ballte unwillkürlich die Hände, ohne Beschlagnahme und Landesverweisung, dann ist die ganze Frage der Amnestie bedeutungslos, dann ist das Spiel endgültig verloren.
Auf der dritten Seite fand er ein Bild von sich selbst und seinem neuen Treibhaus: »Eine epochemachende Landgewinnung für das biologische Studium,« stand darüber.
Halle sah nach, wie der Artikel gezeichnet war: Pierre Flamand, stand da. Es war der junge Gelehrte, der ihm behilflich gewesen war, das lebendige Material zu verschaffen, jetzt bewarb er sich um den Posten als Leiter.
Ein alter Lieblingsgedanke von ihm war es; er lag so weit zurück, wie jene Tage, da er seiner Studien wegen im Jardin des Plantes und dessen Treibhäusern täglich verkehrte: Er wollte in all der unfruchtbaren Üppigkeit der Häuser einen Puls wecken. Pflanzen, die unter Glas und Eisen gefangen waren, sollten soweit wie möglich die Lebensbedingungen ihrer Heimat genießen. Vögel sollten in ihren Kronen nisten, hier wie dort, sollten sich von ihnen nähren und sie befruchten, in dem ewigen Kreislauf, zu dem der Keim erschaffen wurde. Schmetterlinge und Insekten sollten auf ihnen schmarotzen, aus ihrem Kelch trinken, ihre Rinde benagen, Eier in ihre Blätter legen, sich verpflanzen, geboren werden und sterben – hier wie dort. – Ein alter Lieblingsgedanke – und jetzt endlich verwirklicht:
Da waren kleine grüne Papageien, da waren Webervögel, da waren Fruchttauben, alles, was er in der Eile an Fliegendem und Kriechendem beschaffen und was sich frei, ohne Gefahr für Menschen, bewegen konnte.
Als Halle in sein Arbeitszimmer kam, stand eine mächtige Blumendekoration auf der Erde. Meterhohe Gladiolus, prachtvoll in Rot abgestimmt, und leuchtende weiße Iris.
Auf der Karte stand in Didiers zierlicher Handschrift:
»Vom Triumvirat.« Und darunter die eigenhändigen Unterschriften von Didier, Lejeune, Goguenard.
Halle fragte den Diener, ob er etwas von seinem Geburtstag verraten habe. Louis aber sagte gekränkt, daß nie etwas »von dem Privatleben der Villa« über seine Lippen käme. Vielleicht habe der Chauffeur, Henry, etwas gesagt, er führe ja täglich zur Stadt. Oder Berton. Übrigens stehe es ja in der Zeitung, ob der Herr es nicht gelesen habe –?
Woher wußten sie, daß Gladiolus seine Lieblingsblume war? Das mochte Zufall sein. Gladiolus, der kleine Keim, den er seinerzeit nach der richtigen Seite gedreht hatte – –
Halle stand einen Augenblick in Gedanken versunken. Dann trat er an den Schreibtisch, um die Post durchzusehen.
Sieh, sieh, – auch ein Gruß von ihm:
»Die besten Glückwünsche zum Festtage und herzlichen Dank für die verflossenen Jahre von Minna und Ihrem ehrerbietig ergebenen
Peter Smarth.«
Halle hatte ihn seit dem Tage, als er hier in diesem Zimmer mit ihm abrechnete, nicht wiedergesehen.
Smarth hatte Didier nie vertragen können.
Die Verwandtschaft mit dem Chef war ihm zu Kopf gestiegen. Er wollte der Erste sein, und Minna wurde beauftragt, durch Kindheitserinnerungen und verwandtschaftliche Gefühle auf Halle einzuwirken.
Als Adele Halle verließ, hatte er in Zorn und Trotz eine Beziehung mit La blonde angeknüpft. Einen Monat hatte es gedauert, dann hatte Halle genug gehabt. Die Schauspielerin war wütend. Sie warf ihre Netze nach dem neuen Lagerchef aus, und Smarth war eine leichte Beute.
La blonde erzog ihn zum Pariser, wie sie es nannte. Sein Gehalt aber reichte nicht aus. Wieder und wieder bekam er Gehaltserhöhung, wofür er Minna zu danken hatte. Er wußte von Halles Kinderverliebtheit, sie hatte es ihm einst anvertraut. Er sah, wie die alte Vertraulichkeit zwischen Vetter und Kusine zurückkehrte; sie bewunderte Halle, fand alles, was er tat, groß und schön. Und als Adele ihn verließ, tat er ihr in seiner Einsamkeit leid. Smarth beobachtete es und zog daraus seinen Nutzen.
Als die Firma zu einer Aktiengesellschaft gemacht und das Triumvirat ernannt wurde, fühlte Smarth sich schmählich übergangen. Halle legte ein Pflaster auf die Wunde, indem er sein Gehalt abermals erhöhte, Minna hatte darum gebeten, aber es half nichts.
Da konnte Didier durch einen Zufall feststellen, daß Smarth und La blonde – es war ihre Idee gewesen – ein kleines Privatgeschäft eingerichtet hatten, auf Kosten der Firma, bei der Smarth Lagerchef war. Didier verlangte, daß beide verabschiedet werden sollten.
Halle tat es, bot Smarth aber Minnas wegen an, ihm ein selbständiges Geschäft einzurichten, wenn er sich verpflichten wollte, nicht mit Parfüm zu handeln. Darauf ging Smarth ein und gründete eine Agentur für Drogen.
Das letzte, was Halle von ihm gehört hatte, war, daß er narkotische Drogen zu seiner Spezialität gemacht hatte und daß das Geschäft glänzend gehe. La blonde, die nicht mehr der Liebling des Pariser Publikums war, bereiste die Provinz in ihrer doppelten Eigenschaft als Schauspielerin und heimliche Agentin für Smarth, wie sie es seinerzeit für Legrand & Co. gewesen war.
Smarth hatte begriffen, daß Halle keinen Verkehr mehr mit ihm wünschte. Minna aber hielt die Verbindung noch aufrecht und besuchte ihn hin und wieder.
Halle las das Telegramm noch einmal. Minna hatte sich wahrscheinlich des Tages erinnert, und Smarth hatte die Gelegenheit ergriffen, um von neuem eine Verbindung mit ihm anzuknüpfen.
Er kennt mich noch nicht, dachte Halle und lächelte verächtlich. – –
Halle schloß die Gartentür und ging auf die Terrasse hinaus. Er blickte zu dem Stall hinüber, wo der Trainer im Begriff war, die Fesseln der neuen Vollblutstute zu prüfen, die gestern aus England gekommen war.
Er ließ seinen Blick über die hochstämmigen Rosen, die weichen Rasenplätze, die beschnittenen Hecken schweifen.
Was nützt mir das alles, dachte er, ich bin ja ganz allein.
Er ging zum Fluß hinunter. Als er halbwegs war, merkte er schon den Geruch.
Den üblen, süßlichen Desmergeruch aus der Menagerie.
Dieser Geruch war sein Kummer. Wenn der Wind in die Richtung des Gartens stand, konnte man ihn im Garten, ganz bis zur Terrasse hinauf, spüren.
Er hatte die Menagerie auf der Insel bauen lassen, weil die Sache geheim bleiben sollte und keine Zeit zu verlieren war. An den Geruch aber hatte er nicht gedacht.
Man hatte versucht, dem Geruch durch alle möglichen Ventile abzuhelfen. Was aber konnte es nützen, wenn der Wind ihn herübertrieb? Außerdem mußten die Fenster im Dach hin und wieder geöffnet werden, sonst konnten Berton und seine Helfer es drinnen nicht aushalten.
Das Haus mußte fort. Er wollte diesen Gestank nicht in seiner Nähe dulden. Die Schwierigkeit war nur, daß die Nachbarn sich überall, wo er das Haus baute, beschweren würden. Wäre hier nicht der Fluß und das große Sportsgelände auf dem anderen Ufer gewesen, so hätte er sicher keine Erlaubnis bekommen, es auf der Insel zu bauen.
Eines Tages war Halle mit dem Triumvirat drinnen gewesen, um ihnen zu zeigen, wie es zuging, wenn Berton den Stoff zapfte. Didier wurde übel von dem Geruch, er hatte hinausgehen müssen. Eine große Katze lief drinnen frei herum, sie war Bertons Lieblingstier und kam angesprungen, sobald er sich zeigte. Er nannte sie La blonde; denn sie war so einschmeichelnd, und das war der Eindruck, den er von der Schauspielerin bekommen hatte, abgesehen von dem starken Duft, den sie ausströmte. La blonde war an Halles Beinen vorbeigestrichen, und seine Hosen mußten kassiert werden.
Wieder ein Luftzug – Halle meinte, so schlimm sein es noch nie gewesen. Er erinnerte sich, wie er mit dem Tibetaner über den toten Hirsch gebeugt stand und wie er einen Tropfen Moschus an seinen Finger bekommen hatte!
Was es auch kosten mag, dachte er gereizt, und wenn ich einen ganzen Wald allein für dieses Haus kaufen soll, ich will diesen Geruch loswerden.
Berton stand vor der Tür der Menagerie. Als er Halle gewahr wurde, stellte er Eimer und Besen aus der Hand, grüßte und machte Miene, auf ihn zuzukommen.
Er war noch nicht über die Brücke gelangt, als Halle ihm zurief, daß er drüben bleiben solle. Der Geruch klebte allzusehr an seinem Arbeitszeug, Halle pflegte ihn den ganzen Tag in der Nase zu behalten, wenn er auch nur einen Augenblick mit Berton gesprochen hatte.
»Was wollen Sie?«
Er wollte sich erlauben, Monsieur Glück zu wünschen.
»Danke!« –
Halle wandte sich und kehrte zur Terrasse zurück. – Da blieb er stehen und blickte ins Weite –
Eigentlich waren wohl vierzig Jahre eine passende Grenze, wenn man das Ziel erreicht hat, das man sich gesetzt. Die Erfüllung aber gebiert neuen Drang –
Und was dann –?
Er dachte an Ib, den er so lebendig in seinem Traum gesehen hatte –
Sein Gelübde – er lächelte vor sich hin –, das Beispiel des Guten –?
Ach, lieber Ib, was soll ich denn tun, alles verkaufen und zu dir ziehen? Was sollte ich dort?
Das Gute – was ist das Gute?
Er blickte sich um, ließ sein Auge über sein Reich schweifen: Alles, was er von hier aus sehen konnte, gehörte ihm. Alles war erstklassig:
Ein Musterstall, ein Mustertreibhaus, ein Mustergarten!
Das Treibhaus, »die Landgewinnung«, war einzig in seiner Art. Sogar die Menagerie fand ihresgleichen nicht in Europa, trotz dem Geruch.
War nicht alles, was erstklassig, neu und einzigartig war, ein Beispiel fürs Gute?
War das nicht die einzig richtige Auffassung, wenn es sich um Dinge in der Welt der Wirklichkeit handelte?
Hilfsbereitschaft – Wohltätigkeit? Waren das nicht zweifelhafte Güter! Denn wie viele Menschen vertragen es, daß man ihnen Gutes tut, wie viele verdienen es?
Wer etwas taugt, legt keinen Wert darauf, er ist zu stolz, und wer nichts taugt, verdient Güte nicht, mißbraucht sie nur. Ein Vorwand zu Trägheit – eine Prämie für Schwäche. Mögen die, die nicht stehen können, untergehen – das ist die gesunde Lehre des Lebens.
Was hatte er nicht alles aus seinen Verhandlungen mit den Arbeitern gelernt? War man human, wie es hieß, dann wurde man mißbraucht, wurde von der Konkurrenz überholt. Nein, hart und gerecht, das war das einzige, vor dem die Arbeiter Respekt haben.
Ach, Ib, die schönen, guten Knabenträume, die wir zusammen träumten, werden nicht vom Leben honoriert.
Halle warf noch einen Blick auf sein Reich. Dann kehrte er zu seinem Arbeitstisch zurück.
Er schrieb auf seinen Block: »Die Menagerie wird verlegt.« Es war ein Geschenk, das er sich selbst zu seinem vierzigsten Geburtstag bewilligte.
Sein Blick fiel auf einen Brief vom Roten Kreuz.
Er war vom Vorstand. Eine Bitte, daß Legrand & Co. im Namen der Barmherzigkeit alle Lazarette, wo der Krieg flammte, und die neuen fliegenden Hospitäler, die man der bedrohlichen Lage wegen in der ganzen Welt zum sofortigen Ausrücken bereithielt, mit Arzneimitteln und Drogen zum Einkaufspreis versorgen möge.
Bescheiden sind diese Herrschaften nicht; mich wundert nur, daß ich ihnen die Waren nicht gratis zur Verfügung stellen soll.
Wie wäre es, wenn er dem Roten Kreuz das Ganze überließe, Fabrik, Lager und Laboratorium, so daß sie es für eigene Rechnung – im Namen der Barmherzigkeit –! führen konnten. Und das Haus und den Garten wollte er Adele schenken –
– Er erwachte aus seinen Träumen, saß eine Weile und überlegte, griff dann zur Feder:
»Es soll, Ib, ein Geburtstagsgeschenk für dich sein,« sagte er und schrieb auf den Brief:
»Zehntausend Francs unter der Chiffre Ib an das Rote Kreuz überweisen.«
Halle saß noch beim zweiten Frühstück, als Louis hereinkam und Herrn Ferron meldete. Es war der Präsident des Syndikats der Arbeitgeber. Halle erhob sich sofort, um ihn zu empfangen.
Der zierliche alte Herr mit dem geraden Rücken brachte zuerst eine Entschuldigung vor, daß er so zeitig käme, ergriff darauf Halles Hand und wünschte ihm Glück.
Sein runder Kopf war ganz kahl, die Brauen waren nur wie ein Schatten über den scharfen Augen, die den ganzen Mann beherrschten und in dem von tausend feinen Fältchen durchzogenen weißen Gesicht von einer Lebendigkeit zeugten, die weit jünger war als seine Jahre.
»Ich muß ehrlich gestehen,« begann er, »mein Weg hat mich nicht zu Ihnen geführt, weil ich Ihnen gratulieren wollte. Ich las erst unterwegs in der Zeitung von Ihrem Geburtstag, doch hätte ich keinen passenderen Tag für den ernsten Antrag, den ich Ihnen zu machen habe, wählen können. Denn nicht wahr, wenn man das vierzigste Jahr erreicht hat, dann hat man sein Lehrgeld bezahlt, seine Einsätze gemacht, und das Spiel kann beginnen.«
Halle lächelte, als ob sich dazu allerhand sagen ließe.
»Sie dürfen mich nicht mißverstehen, ich weiß – und niemand schätzt es mehr als ich –, welch hervorragende Tätigkeit Sie bereits hinter sich haben, aber« – der alte Herr beugte sich vor und sagte ernst: »wo viel ist, wird noch mehr verlangt. Sie scheinen zu den Auserwählten zu gehören, denn daß Sie zufällig an diesem bedeutungsvollen Tage Ihres Lebens einer so ehrenvollen und schwierigen Aufgabe, wie ich die Ehre haben werde, sie Ihnen zu unterbreiten, gegenübergestellt werden, das ist solch merkwürdiges Zusammentreffen, ein Fingerzeig, wenn ich so sagen darf –«
Die braunen Augen funkelten. Darauf legte er die Hände zusammen und sagte halb feierlich, halb scherzend: »Ich komme wirklich, als ob ich gerufen sei.«
»Derartige Zusammentreffen sind mir häufig in meinem Leben begegnet,« sagte Halle ernst.
Herr Ferron nickte, über sein eigenes gefühlvolles Verständnis befriedigt.
Darauf ordnete er seine Rockschöße mit seinen nervösen, stark geäderten Händen, rückte sich besser auf dem Stuhl zurecht und sagte mit einer energischen Kopfbewegung:
»Zur Sache!«
Halle beugte sich vor, um besser zu hören, und Herr Ferron begann:
»Ich darf wohl annehmen, daß Sie die Morgenzeitung gelesen haben?«
»Ganz recht!«
»Dann haben Sie auch gelesen, was in der Amnestiefrage bevorsteht?«
Die braunen Augen ruhten tief bekümmert auf Halle.
»Die Abstimmung in der Kammer fürchte ich nicht,« sagte Halle ruhig, »soweit sind wir noch nicht. Viel gefährlicher« – er zögerte einen Augenblick – »für unsere Interessen erscheint mir der Besuch der englischen Arbeiterführer und der Aufruf, den sie erlassen haben.«
Ferron nickte eifrig zustimmend.
»Das meine ich auch. Wenn das geht, wie es gedacht ist, wird die Abstimmung gar keine Rolle mehr spielen. Daß aber ein solcher Aufruf überhaupt erlassen werden konnte, ohne Beschlagnahme oder Ausweisung, ist ein Beweis dafür, wie nahe wir der totalen Auflösung bereits gekommen sind.«
»Das ist auch meine Meinung. Was aber ist dagegen zu machen? Der Entwicklung wird man schwerlich Einhalt tun können.«
Ferron überhörte ihn.
»Ich habe mit einigen Kollegen Rücksprache genommen,« fuhr er fort, »mit den älteren, die zu meiner eigenen Generation gehören,« er lächelte gleichsam entschuldigend, »und nachdem wir uns beraten haben, bin ich gleich zu Ihnen herausgefahren, denn wir sind uns alle darin einig, daß Sie der hervorragendste der jüngeren Kollegen sind.«
Halle lächelte und neigte dankend den Kopf.
»Es ist kein leeres Kompliment,« Ferron neigte ebenfalls den Kopf, »Sie werden es gleich sehen.«
»Wir Älteren – und wir sind in der Mehrzahl – haben beschlossen, daß wir Zahn um Zahn kämpfen wollen. Die Zeit der Kompromisse ist vorbei, – wir haben ja gesehen, wozu sie führen.«
Halle beugte sich vor, als ob er eine Einwendung machen wollte.
Ferron hob abwehrend die Hand: nicht unterbrechen – später.
»Wir betrachten es als unsere Pflicht dem Staate gegenüber, die Zügel zu ergreifen, die die Regierung ohnmächtig fallengelassen hat, wie in Frankreich, so auch in England. Wenn wir es nicht jetzt im letzten Augenblick tun, dann sind nicht nur Sie und ich, alle Männer der Industrie und des Kapitals, unserer Ämter entsetzt, unserer gesetzlich erworbenen Mittel im Laufe von vierzehn Tagen beraubt, sondern der ganze Staat ist der Auflösung preisgegeben.«
»Dem internationalen Arbeiterwillen preisgegeben,« berichtigte Halle und nickte.
Ferron prüfte Halles Worte, indem er seine braunen Augen aufmerksam auf Halle gerichtet hielt. Darauf nickte er zustimmend und fuhr fort:
»Was haben wir denn eigentlich im Sinne? Das will ich Ihnen sagen: zwei Dinge, die uns beide Überwindung kosten, aber die notwendig sind.«
Er machte eine Pause und sah Halle an, als ob dessen starke Jugend ihm die Kraft geben sollte, fortzufahren.
Halle sagte nichts.
»Sie haben wohl gelesen, daß der englische Vorschlag jeder Fachorganisation gesondert vorgelegt werden soll?«
Halle nickte.
»Nun gut, das erste, was wir tun wollen, ist folgendes: wir machen bekannt, daß die Annahme eines Vorschlages in einem Fachverband sofortige Schließung sämtlicher Betriebe, großer und kleiner, auf dem betreffenden Gebiet zur Folge haben wird.«
»Ein Lockout wird«, sagte Halle ohne zu zögern, »gleichbedeutend mit Bürgerkrieg sein, so wie die Sache augenblicklich steht.«
»Vielleicht, sogar höchstwahrscheinlich,« brauste Ferron auf, »in einem Kriege aber hat man doch die Möglichkeit zu siegen, man hat den Vorteil, daß man zuerst angreifen kann, während Nachgiebigkeit die freiwillige Niederlage, den generellen Selbstmord bedeutet.«
»Die Arbeiter aber kämpfen für den Frieden,« wandte Halle ein, »dadurch haben sie die Sympathie von vornherein auf ihrer Seite.«
»Nichts als Vorwand! – Im Grunde bedeutet die Forderung der Arbeiter nichts anderes, als daß Sie und ich, alle Führenden des Handels und der Industrie, ja, in Wirklichkeit die ganze obere Klasse, ihren Platz räumen, ihre Betriebe, ihr gesetzmäßiges Eigentum abgeben sollen, – oder man wird uns die Verantwortung für die Fortsetzung des Krieges zuschieben! Für einen Sieg aber sind die Arbeiter bereit, unsere Kolonien auszuliefern, das ist in Wahrheit die Bedeutung von ›Tongking den Tongkinesen!‹«
Halle nickte begütigend. »Worin besteht nun aber die zweite Möglichkeit?«
»Daß wir dem Beispiel der Arbeiter folgen, daß auch wir unsererseits über die nationale Grenzscheide hinaus, über den Kanal gehen und mit den englischen Arbeitgebern ein Syndikat bilden.«
»Das wird kaum als guter Patriotismus betrachtet werden,« meinte Halle lächelnd.
»Einerlei. Not kennt kein Gebot.«
»Sehen Sie, dies bleibt uns zu tun übrig.« Ferron rang einen Augenblick nach Atem, er konnte keine Aufregung vertragen. »Zu Kampfpolitik aber gehört vor allen Dingen Kraft. Ich meinerseits bin ein alter Mann, der noch in der Schule der Kompromisse erzogen worden ist, ich gestehe es ehrlich, und ich sagte es gleich zu meinen Kollegen, meine Kraft reicht nicht aus, ich wage es nicht, in die Bresche zu springen.«
Ferron blickte auf seine Hände herab –
»Und darum schlug ich Sie vor. Sie sind der Bedeutendste unter den Jungen. Sie haben eine Arbeit geleistet wie keiner, Sie sind jung, ich bin alt. Sie sind hart, ich bin weich. Sie sind geachtet und gefürchtet von Ihren Arbeitern, mir bringt man Mißtrauen entgegen, trotz meiner vierzigjährigen Tätigkeit im Dienste altmodisch humaner Prinzipien.«
»Zahn um Zahn!« Halle nickte, er hatte begriffen. Er hielt die braunen Augen fest, bis sie unsicher wurden –
Er sollte die Arbeit tun – auch die Ehre einheimsen, gewiß, vor allen Dingen aber sollte er die Verantwortung tragen. Er sollte gegen die allgemeine Sympathie angehen, sollte patriotische Prinzipien brechen. Siegte er, dann war es gut. Wurde aber die Schlacht verloren, dann war er ein Stümper, den man fallen ließ: so war es ja gar nicht gemeint, würde man sagen. Und außerdem ein Fremder? Von dem konnte man ja keinen Patriotismus verlangen. Die Arbeiter hatten schuld an allem, denn waren die französischen Arbeitgeber nicht durch sie gezwungen worden, sich mit allen Mitteln zu wehren? Man hatte nur in der Notwehr gehandelt!
Ferron verstand, was in Halles Blick zu lesen war. Er widersprach nicht, es hatte doch keinen Zweck.
»Ich danke für das ehrenvolle Angebot,« sagte Halle schließlich, »aber es ist ein Uriasposten, den man mir zuerteilen will.«
Ferron wollte ihn unterbrechen, Halle aber kam ihm zuvor:
»Ich erkenne, daß meine Wahl gewisse Vorteile bietet,« sagte er ruhig, »ich bin jung und Ausländer, mich kann man desavouieren, wenn die Sache schief geht –«
Wieder wollte Ferron ihn unterbrechen, und wieder kam Halle ihm zuvor:
»Ich verstehe Ihren Standpunkt vollkommen,« sagte er lächelnd, »wünsche die Sache nur nüchtern zu betrachten. Da ist aber der sehr wesentliche Punkt: Ist es nicht bereits zu spät? Und dann folgendes: Sind nicht Sie und ich und alle denkenden Wesen in diesem und jedem Lande sich im Grunde darin einig, daß ein teuer erkaufter Frieden mehr wert ist als ein hoffnungsloser, endloser Krieg, der sowohl nach außen als auch nach innen geführt werden muß?«
Ferron erhob sich.
»Wenn Sie der Ansicht sind,« sagte er mit einer Bitterkeit, die rote Flecke auf seine weißen Backen trieb, »daß die Sache der Arbeiter die gerechte ist –«
»Das will ich nicht behaupten,« sagte Halle, der sich ebenfalls erhoben hatte, begütigend, »Ihre und meine Interessen sind ja ganz dieselben. Ich meine nur, ob der Zeitpunkt günstig gewählt ist.«
»Ich möchte noch hinzufügen,« sagte Ferron wie nebenbei, »daß ich gestern mit dem Präsidenten der Republik gesprochen habe, in seinem Herzen ist er ganz auf unserer Seite, aber natürlich übt die Schwierigkeit seiner Stellung einen Druck auf ihn aus. Ich nannte Ihren Namen, und er war mit der Wahl ganz einverstanden. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß Ihnen bei einem Sieg die Anerkennung des Staates sicher ist.«
Halle verbeugte sich.
Herr Ferron knöpfte seinen Rock und schickte sich zum Gehen an. Noch einmal ruhten die braunen Augen funkelnd in Halles, er richtete sich auf wie ein alter Militär.
»Mein Lieber,« sagte er mit einem wehmütigen Lächeln, »das Alter kapituliert vor der Jugend. Das ist das höchste Vertrauen, das wir jemandem beweisen können, und wir beweisen es Ihnen, obgleich Sie der Untertan eines fremden Landes sind. Wir, Ihre Standesgenossen und Mitarbeiter, geben die Macht in dem kritischsten Augenblick in Ihre Hand – jetzt ist es an Ihnen, ob Sie die Zinne erklimmen wollen oder nicht. Ich bitte um Ihre umgehende Antwort. Geben Sie Ihre Zustimmung, dann werden wir sofort zu Ihnen herauskommen, um alles Notwendige zu besprechen.«
»Ist es früh genug, wenn Sie meine Entscheidung heute abend bekommen?«
»Ja, aber bitte nicht später. Sie können bis zwölf Uhr im Bureau des Syndikates anrufen, der Telegramme wegen haben wir in dieser Zeit die ganze Nacht offen.«
Kurz vorm Mittagessen wurde Minna gemeldet. Es war Jahr und Tag her, seit er sie gesehen hatte.
Sie nahm seine beiden Hände in die ihren und wünschte ihm Glück.
»Wie geht es dir?« fragte er.
»Wie es einem so geht!«
Dieser Ton rief eine Erinnerung in ihm wach: genau so hatte sie geantwortet, als er sie vor vielen Jahren auf dem Jagdwege wiedersah –
Er beobachtete sie, während sie ein Bild an der Wand betrachtete, das vorher nicht da war. Sie war magerer geworden, der Teint hatte einen gelblichen Schein bekommen. In ihren Bewegungen war etwas Unruhiges, fast Exaltiertes.
Als er stumm blieb, sah sie ihn an. Sie errötete, ihr Blick wurde schimmernd. Was war es mit ihren Augen?
Sie gingen zusammen auf die Terrasse hinaus. Minna sollte das neue Treibhaus sehen. Und sie sprachen von alten Zeiten. Erinnerte sie sich noch, wie er ihr zu Hause auf dem Jagdwege den Garten und die Treibhäuser zeigte und wie sie nachher im Speicher waren, wo sie die alten Orte mit den Näschereien fanden?
Die Turmuhr schlug. Halle bat sie, zum Mittagessen zu bleiben.
»Wir sind ganz allein – du kannst ja telephonieren.«
»Lieber Gott, feierst du deinen vierzigsten Geburtstag ganz allein? Das ist zu traurig. Dann bleibe ich bei dir.«
Als sie wieder im Hause waren und Halle wegen eines zweiten Kuverts Bescheid gesagt hatte, meinte er:
»Du wolltest ja telephonieren.«
»Mich vermißt niemand,« sagte sie hart.
Halle schwieg. – –
»Wir beiden Einsamen,« sagte Halle, nachdem sie zu Tisch gegangen waren, und legte seine Hand auf die ihre.
Sie wurde rot, wollte erwidern, besann sich aber und lenkte ab:
»Aber was du alles aus deinem Leben gemacht hast!«
»Wie man's nimmt.«
Er dachte an Ferrons Besuch, richtete sich höher auf und schenkte ihr ein – es war Champagner zur Feier des Tages.
»Ich beklage mich auch nicht. Wollen wir mein Wohl trinken?«
Sie stießen an, und wieder begegnete ihm in ihrem Blick dieses Neue, dies flimmernd Unruhige, das er sich nicht erklären konnte.
Er schenkte ihr ein, bis ihre Wangen glühten, und sie lachte und plauderte.
Sie tranken Kaffee und probierten einen neuen Likör, den Halle soeben geschickt bekommen hatte.
Es wurde spät. Plötzlich sagte Halle, der sie betrachtet hatte: »Jetzt weiß ich, was mit deinen Augen ist.«
Er beugte sich vor und hielt ihren Blick fest:
»Du hast geweint, Minna.«
Sie wurde rot und schlug ihre Augen nieder, wußte nicht, wie sie sich benehmen sollte, versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine bittere und hilflose Grimasse.
Und plötzlich warf sie sich an seine Brust. Sie legte ihre Hand um seinen Nacken, ihren Kopf gegen seine Schulter und hob ihr Gesicht zu ihm auf.
»Warum haben wir uns nicht gefunden!«
Ihre vollen Lippen öffneten sich. Dieser rote Mund, der ihn so oft gereizt, den er aber nie berührt hatte! Sie öffnete die Augen, sah ihn an, ohne Gedanken, ohne Willen, schloß sie wieder und schmiegte ihren Kopf an ihn.
»Erzähle mir alles.« bat Halle.
»Er hat mich geschlagen,« sagte sie still, » La blonde will ihn für sich haben. Er geht nachts zu ihr, wenn sie in der Stadt ist. Ich sagte ihm, daß ich es nicht dulden wolle, da hat er mich geschlagen, und ich bin fortgegangen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, und als ich heute morgen aufstand, faßte ich den Entschluß, zu dir zu gehen. Halle, ich wußte nicht, daß dein Geburtstag sei, erst als ich die Kladde zu dem Telegramm auf seinem Schreibtisch liegen sah, erfuhr ich davon.«
»Und er grüßt von dir?«
Minna nickte mit einem seltsamen Lächeln.
»So ein Gauner!«
Ihre Brauen zuckten, und sie machte eine Bewegung, als wolle sie ihre Hand gekränkt aus der seinen ziehen.
»La blonde ist an allem schuld,« sagte sie wie entschuldigend.
Halle betrachtete die gesenkten Lider, das müde, nasse Gesicht –
»Willst du zu ihm zurück?« fragte er erstaunt.
Es war, als ob sie erwache. Der Schmerz zuckte ihr von neuem über Mund und Brauen –
»Nein, nein!«
Sie klammerte sich an ihn, als ob sie in der weiten Welt niemand anders habe als ihn.
Und Halle begriff: Die Angebetete seiner Kindheit, die immer nur gnädig entgegengenommen und nie etwas gegeben hatte, jetzt konnte er mit ihr machen, was er wollte. Sie verschmähen oder behalten –
Er liebte sie nicht – nur ein tiefes, tiefes Mitleid fühlte er. »Warum haben wir uns nicht gefunden?« war das etwas anderes als ein Hilferuf ihrer erniedrigten Liebe?
Halle dachte an Adele – alle beide, Minna und Adele, hatten doch einmal besessen, was ihr Herz begehrte! Er aber, der die große Chance ergriffen, Macht und Reichtum erlangt hatte, bis er, wie Ferron sagte, auf der Zinne stand, ihm war die große Liebe versagt worden.
Nein, er liebte die Angebetete seiner Knabenjahre nicht, trotz ihrer heißen Lippen, er liebte sie nicht –
Warum aber nicht nehmen, was sie ihm bot, nachdem er die Einsamkeit seines Herzens mit Reichtum und Macht bezahlt hatte? – Sie als seinen Anteil nehmen, sie wollte es ja selbst. –
Als der Diener kam, um zu melden, daß das Fremdenzimmer bereit sei, saßen Minna und Halle friedlich über ein Album gebeugt, das noch aus Adeles Zeit auf dem Tische lag.
»Ich werde die gnädige Frau selbst hinaufbegleiten,« sagte Halle, »Sie können zu Bett gehen.«
Gemeinsam stiegen sie die Treppe zum Turm hinauf. Als Halle die Tür zum Fremdenzimmer öffnete, erinnerte er sich daran, daß es dasselbe Zimmer sei, das Minna bewohnt hatte, während ihr Mann in Afrika war. Er und Adele pflegten sie zu necken, sagten, daß sie mit jedem Tag vor Sehnsucht magerer würde. Und jetzt –
Ein Gefühl des Triumphes stieg in ihm auf. Die zweite Erfüllung an diesem merkwürdigen Tage. »An Ihnen liegt es, ob Sie die Zinne erklimmen wollen,« hatte Ferron gesagt. Ja, er wollte die Macht ergreifen, wie er sich ihrer bemächtigte. Reichtum gewonnen, – er hatte ihn die Einsamkeit und Kälte des Herzens gekostet. Gut, er wollte noch das Letzte und Höchste ergreifen.
»Ich komme gleich,« flüsterte er, eilte in sein Schlafzimmer, nahm das Telephon neben dem Bett und ließ sich die Nummer des Syndikates geben. Der Bureauchef war noch anwesend.
»Sagen Sie bitte Herrn Ferron, daß ich das Angebot annehme und die Herren des Vorstandes morgen um zwei Uhr bei mir erwarte.« – –
Ich will ihn aus meinem Herzen reißen, hatte Minna gedacht, und sie floh zu dem Freunde ihrer Kindheit.
Als sie aber in Halles Armen lag, fühlte sie mit Entsetzen, daß sie Smarth alles gab, daß er es war, der nahm – und anders würde es nie werden, trotz Schlägen und Erniedrigung.
Halle fühlte ihre Tränen auf seinem Halse –
Da wußte er Bescheid und erhob sich ohne ein Wort.
Als er an der Tür stand, sah er im Dämmerlicht, daß sie ihren weißen Arm nach ihm ausstreckte.
»Halle, verzeih mir!«
Nur gut – tröstete er sich im Hinabsteigen –, daß ich Ferron meine Zustimmung gegeben habe, Liebe ward mir versagt, nun habe ich wohl Anspruch auf das letzte Ziel, die letzte Erfüllung!
Ein Kälteschauer schüttelte ihn, so daß er sich am Geländer festhalten mußte, und noch lange, nachdem er im Bett lag, konnte er nicht warm werden. Er warf sich unruhig hin und her, während sein Gehirn das große Werk wälzte, das er übernommen hatte.
Schließlich versank er in einen verworrenen Traum mit vielen Gestalten und vielen Stimmen –
Plötzlich läutete das Telephon.
Er streckte die Hand nach dem Apparat auf dem Nachttisch aus – »Mit wem spreche ich?« – fragte er und winkte den schwebenden Gestalten und flüsternden Stimmen, daß sie sich ruhig verhalten sollten –
Und die Antwort kam mit klarer, deutlicher Stimme, während alles verstummte und alle Gestalten verschwanden, als ob sie durch einen gewaltigen Zugwind fortgezogen würden –
»Gott, dein Herr!«
Er saß im Bette, vor Kälte zitternd, die Hand am Hörer, lauschte mit bebender Seele – und konnte nicht klug daraus werden, ob er wach sei oder träume –
Mit der ersten Post kam der Brief von Ib.
»Lieber Halle! Ich sitze am offenen Fenster an Mutters Schreibtisch, das Wetter ist milde und klar!
Übermorgen werden wir vierzig Jahre alt, Du und ich. Vielleicht ist es der Duft der reifenden Äpfel, der mich auf Herbstgedanken bringt, oder die Krankheit in meiner Brust – der alte zehrende Husten.
Vierzig Jahre! Viele davon durften wir beiden Stare nicht gemeinsam auf der Stange sitzen! Du solltest in die Welt hinaus und Herr sein, ich sollte zu Hause bleiben und dienen, – dazu sind wir geboren, das versprachen wir einander, davon sollen wir Rechenschaft ablegen. Laß uns warten, bis wir Fünfzig sind, sagst Du vielleicht. Wenn man aber sterben soll, kann man nicht warten. Darum will ich jetzt Rechenschaft ablegen vor Dir und vor mir selbst, derweil ich noch Kräfte habe, um zu schreiben.
Meine Lebensbedürfnisse sind immer gering gewesen. Verdiente ich mehr als ich gebrauchte, legte ich es zurück. Ich arbeitete von früh bis spät, weil es meine Lust war; ich bin nur glücklich, wenn ich es um mich herum wachsen sehe. Jahr für Jahr konnte ich einen hübschen Überschuß zurücklegen. Wenn Du doch die Möweninsel sehen könntest! Wo Mutter und ich seinerzeit auf dem kahlen Boden zu pflanzen begannen, stehen jetzt junge Tannen und Fichten. Und dahinter ist die Baumschule, die in der starken Sonne kräftig gedeiht. Die Baumschule ist meine Freude.
Erinnerst Du Dich noch, daß ich unseren alten Garten gekauft habe? Als Pedersen mit seinem Wirtshaus Bankrott machte, übernahm ich den Park. Alles, was ich gespart hatte, ging dabei drauf.
Ich hatte ein bestimmtes Ziel. Ich wollte alle Büsche und Bäume, die in dänischer Erde gedeihen können, sammeln und in meinem Garten ziehen, – und es ist mir gelungen. Es ist ein herrlicher Anblick.
Überall in der Umgebung, auf herrschaftlichen Gütern und in Kätner-Gärten wachsen Bäume und Pflanzen, die aus meiner Baumschule und aus meinem Park stammen.
Meine größte Freude aber war, wenn Leute zu mir kamen und um Rat für ihr Gemüt und ihr Herz baten, sie meinten, weil ich sehen kann, ob ein Steckling oder ein Keim gedeihen wird oder nicht, so kann ich auch den Menschen ansehen, ob sie sich entwickeln werden. Die Leute kommen zu mir mit ihren Kindern und ziehen mich zu Rate, als ob es sich um eine Pflanze handle.
Als Mutter dahinging, glaubte ich, ich verwände es nie. Aber es kam anders. Denn sie ist bei mir geblieben, die ganze Zeit, bei mir und meiner Arbeit, – unsichtbar, aber sie ist da, wie der gute Schutzgeist, von dem sie uns so oft erzählte, als wir noch Kinder waren.
Daß ich sie nicht mehr mit meinem Auge sehe oder mit meinem Ohr höre – was hat das zu sagen?
In mir drinnen, hinter meinen Sinnen, ist ein Reich. Und dort lebe ich zusammen mit ihr, die tot ist, und bald werde ich sie aufs neue von Angesicht zu Angesicht sehen – – nun muß ich aber schließen, denn die Kräfte versagen mir.
Lieber Halle, glaube nicht, daß ich den Tod fürchte, darum rufe ich dich nicht. Ich möchte dich nur so gern noch einmal sehen.
Zaudere nicht!
Dein
Ib.
Halle sandte ein Telegramm an Herrn Ferron.
»Bin nach Hause gerufen worden. Lehne die Aufgabe ab. Bedaure.«
Ferron rief gleich nach Empfang des Telegramms an, Halle war bereits abgereist.
Halle saß in dem Zimmer seiner Mutter.
Er saß auf dem Bettrand, wo Ib damals gesessen hatte, als sie von ihrem Leben sprachen. Die Abendsonne schien durch die weißen Gardinen. Ein Streifen zitterte über den Fußboden, ging über Halles Knie und streifte die Perle an seiner Brust, die er einst von Adele bekommen hatte.
»Was soll ich mit meinem Geld anfangen?« fragte Halle.
Ib suchte hinter der schimmernden Perle und dem eleganten Anzug, seine Sinne waren geschärft wie die Schneide zwischen Leben und Tod. Seine Lippen zuckten schmerzlich, er zögerte eine Weile, dann hatte er es überwunden und sagte mit einem leisen Kopfnicken:
»Ich werde es bald zu sehen bekommen.«
Seine Augen wurden mild und so blau. Wie nannte Mutter sie doch noch, wenn sie so rein waren? »Vergißmeinnicht-Augen« – wie war das lange her!
Ib machte eine Bewegung, als ob er sich aufrichten wollte, aber er hatte keine Kraft mehr.
Und der Husten kam. Halle stützte ihn während des Anfalles. Er fühlte jedes Röcheln in den kranken Lungen, als ob er mit Ib eines wäre. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, und die Todesangst war auch in ihm.
Ib sank zurück mit fahlen Lippen und blassen Augen. Halle trocknete ihm Stirn und Schläfen, glättete die Decke und strich ihm übers Haar.
Ib lächelte ihm gute Nacht zu und schlummerte endlich ein.
Hatte jemand gerufen? –
Halle fuhr in die Höhe, wußte nicht, wo er sich befand – da traf sein Blick Ib, der aufgerichtet dasaß, das Gesicht ihm zugewandt. Der Krampf zuckte durch den mageren, gebeugten Rücken. Endlich kam der Husten, – röchelnd aus der Tiefe, schüttelte und rüttelte ihn, bis der Körper wie ein Bündel in Halles Armen zusammenfiel.
Ib lag wieder mit dem Kopf auf dem Kissen. Seine Hände tasteten über die Decke. Er begann zu singen, – ganz leise, ein Abendlied aus ihrer Kinderzeit.
»Mutter!« rief er im nächsten Augenblick, kehrte sein Gesicht zum Zimmer und streckte die Hand aus. »Halle ist zurückgekehrt –«
Da stürzten Halle die Tränen aus den Augen.
»Warum weinst du? Es ist ja nur –«
Die Stimme versagte. Die Hand fiel über den Bettrand. Ein Lächeln erschien in der Falte unter dem Bart. Die Lippen öffneten sich, – ein liebes Knabengesicht.
»Ib – Ib!«
»Wenn du sehen könntest, was ich sehe,« seine blicklosen Augen waren auf Halle gerichtet, »wenn du hören könntest, was ich höre« –
Ein Ruck ging durch seine Hände, eine Spannung über die hohe Stirn, als bemühte er sich aus aller Kraft zu sehen –
»Ich gehe –«
Seine Augen öffneten sich weit – ein Lächeln – ein Seufzer – und Ib war gegangen.
Ende