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Das Geschlecht

Beim Rundell der Nordbrückenstraße sprang Halle von der Straßenbahn.

Kam dort nicht Onkel Harald in seinem Auto?

Harald Hvilding – Filialvorsteher, wie Onkel Per ihn neckend nannte, weil seine Bank tatsächlich nur eine örtliche Filiale der Großbank war, alle anderen nannten ihn Herr Direktor. Onkel Harald war der Bruder von Halles Mutter und hatte bei den Zwillingen Gevatter gestanden. »Halle« war nur eine Abkürzung von Harald, eine Erfindung von Ib, als er den Namen noch nicht richtig aussprechen konnte.

Ja, es war wirklich Onkel Haralds Auto.

Er saß selbst am Steuer, mit seiner weichen Sportmütze und grauen Windjacke. Halle erkannte ihn kaum, so verändert war er. Dick und das Gesicht so seltsam steif, als gäbe er beständig darauf acht, daß es nichts verriete. Als er aber Halle gewahr wurde, der zur Seite gesprungen war, verschwand die Starrheit, ein milder, wehmütiger Schein ging über seine Züge, die Halle an die seiner Mutter erinnerten, wenn sie traurig war und dennoch zu lächeln versuchte. Es schnitt ihm ins Herz.

Onkel Harald wollte anhalten, besann sich dann aber eines Besseren – es war zuviel Verkehr an dieser Ecke, und darum rief er ihm nur zu:

»Wie geht's? Lange nicht gesehen!«

Er drehte, beide Hände am Steuer.

»Zu Hause wartet eine Überraschung auf dich!« rief er ihm noch über die Schulter zu.

Darauf ließ er die Hupe ertönen und verschwand nach der Stadt zu.

Halle beeilte sich; er konnte das hohe Tor zum Lagerplatz schon von weitem sehen und hinter der Gittertür die alte Linde, die vor der Steintreppe zum Wohnhause stand, der Verwalterwohnung, wie das graue Haus noch immer genannt wurde.

Halle umfaßte das eiserne Geländer und schwang sich mit zwei Schritten die Treppe hinauf. Das Messingschild in der ersten Etage war für den morgigen Sonntag frisch geputzt, in den Ritzen saß noch die weiße Kreide. »I. Valerius« stand darauf und darunter: »Assessor beim Hof- und Staatsgericht.«

Endlich hörte er Linens Schritte; sie kam aus der Küche, die im Keller lag, um die Tür zu öffnen.

»Warum dauert es so lange!«

Line sah ihn gekränkt an. Sie hatte ein hübsches, rundes Gesicht, mit rot geränderten Augen.

Halle bereute seine Ungeduld schon, es war nur wegen der Überraschung.

»Ist Besuch gekommen?« fragte er; im Entree hing Damenzeug, das nicht Tante Nette gehörte, ein großer Hut mit Straußfedern.

Halle konnte Besuch nicht leiden und ging nie ins Wohnzimmer, bevor er sich vergewissert hatte, daß er sich bald wieder auf seine Dachkammer zurückziehen konnte.

»Raten Sie mal, Herr Halle!« Line trat ihm vertraulich nah; sie hatte eine Art, sich ganz dicht neben ihn zu stellen, daß er die Wärme ihres kleinen vollen Körpers spüren mußte. Er bekam einen roten Kopf, es gefiel ihm nicht.

»Wer ist da?« fragte er ungeduldig und trat einen Schritt zurück.

»Gott, seien Sie doch nicht so eklig gegen mich!« Line verzog ihren Mund wie zum Weinen.

»Ich will wissen, wer da ist?«

»Denken Sie nur, Herr Halle –« Line blickte vielsagend zur Wohnzimmertür und flüsterte:

»Vor einer Stunde sind Herr Direktor und zwei junge Damen im Auto gekommen.«

»Was für Damen?«

»Gott, haben Sie es eilig! Ihre Kusine und ihre französische Gouvernante, oder wie es heißt.«

Die Kindheitserinnerungen trieben ihm das Blut in die Wangen.

»Na, und was weiter?«

»Ihre Kusine ist aber wunderschön!« Line hatte gern gesehen, was er für ein Gesicht dazu machte, er aber hatte sich über die Konsole am Spiegel gebeugt und gab sich den Anschein, als ob er nach etwas suche.

»Die andere, die französische, ist übrigens auch sehr hübsch, aber viel älter.«

Halle sammelte seine Bücher zusammen und ging an ihr vorbei zur Treppe, die zum oberen Stockwerk führte.

»Herr Halle, ich habe Ihnen ja erst die Hälfte erzählt –«

Line sah ihm verdutzt nach.

»Sie sollen hier wohnen – alle beide! Was sagen Sie dazu! Hier bei uns! Jensen hat es selbst gesagt, ich soll die Fremdenzimmer instand setzen.«

Sie berührte seinen Arm vertraulich.

»Können Sie das klein kriegen?«

Line machte ein tief nachdenkliches Gesicht. Halle zögerte noch einen Augenblick, vielleicht wußte sie mehr. Fragen wollte er nicht, er verabscheute ihre Vertraulichkeit.

»Line!«

Es war Jungfer Jensens scharfe Stimme aus der Küche.

»Gottchen.«

Line zwinkerte ihm zu, als ob sie Verschworene seien, und trippelte davon.

Tante Nette saß auf der Fenstererhöhung, von wo sie durch den Spion alles beobachten konnte, was in der Allee vorging. Auf dem ovalen Nähtisch im Empirestil, mit dem grünen Seidenstoff und der Leier, lag ein aufgeschlagenes Buch, mit einem gestickten Lesezeichen.

Sie hatte ihre Staatshaube auf, mit den Spitzenbändern, die über die grauen Hängelocken fielen. Ihre kleinen rundlichen Finger spielten nervös mit der vierreihigen Goldkette, an der sie ihre Uhr trug. Ihre Backen hatten rote Flecke, und die etwas hervortretenden Augen mit ihrem bleichen Perlmutterglanz blickten starr durchs Zimmer, wie sie zu tun pflegten, wenn sie etwas »durchdachte«.

Onkel Jonas schritt auf dem blumigen Teppich auf und nieder; sein braunseidener Schlafrock mit den großen Aufschlägen wurde um seine magere, geduckte Gestalt mit einer seidenen Schnur zusammengehalten, deren Quasten ihm beim Gehen um die Beine schlotterten. Ihn fror, denn Tante Nette erlaubte nicht, daß im Wohnzimmer vor dem ersten Oktober geheizt wurde. So war es auch in ihrem Elternhause gewesen. Jonas aber war der Ansicht, daß es hier draußen, wo der Wind von allen Seiten um das Haus pfiff, viel kälter sei als in ihrem ewigen Palaisviertel.

Das war jeden einzigen September während siebzehn Jahren eine Streitfrage zwischen ihnen gewesen. Solange hatten sie nun schon in Onkel Adams Verwalterwohnung als Mieter gewohnt. A. Dams hieß er – A. Dams Drogerie und Chemische Fabrik. In der Familie aber hieß er Adam; Onkel Per nannte den Garten sogar das Paradies, es war ja A – Dams Garten.

Gleich als Halle die Tür öffnete, spürte er, daß ein fremder Duft, vornehm und seltsam persönlich, von dem Zimmer Besitz ergriffen hatte. Und im Spiegel geradevor begegnete er Minnas braunen Augen; sie saß im Lehnstuhl, in der anderen Fensternische, bequem zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, während eine kleine mausgraue Schuhspitze auf und nieder wippte.

Ein weicher, aber kühler Händedruck, in dem sich keine Erinnerungen aussprachen; in den Winkeln der schmalen Lippen aber, die noch immer sehr rot waren, zuckte es wie müde Nachsicht. »Was waren wir für Kinder!« schien der Mund zu sagen, während der Blick der Fünfzehnjährigen, so seltsam haltlos, erfahren in dem seinen forschte.

»Guten Tag, Minna, wie geht es dir?«

»Wie es einem so geht.«

Im Halbdunkel des angebauten Zimmers, der Erker genannt, obgleich er kein Fenster hatte, entdeckte Halle plötzlich eine junge Dame, die in dem alten Ohrensessel vor der Etagere saß. Sie trug ein einfaches, graues Kostüm, das reiche, dunkle Haar war am Hinterkopf in Zöpfen aufgesteckt, die Hände waren im Schoß gefaltet, sie hatte sich höflich zum Zimmer gebeugt und war dennoch fern. Als sie aufblickte und Halles Blick begegnete, begriff er gleich, daß sie und nicht Minna es war, die den Duft verbreitete.

Sie mochte wohl zwanzig Jahre alt sein, hatte eine klare weiße Stirn, eine leicht gebogene Nase, mit fein geschwungenen Nasenflügeln, einen guten, wehmütigen Mund, obgleich er fest geschlossen war. Die Augen glichen denen eines fremdartigen Vogels, spähend, wachsam; man kam schwer los von diesem Blick.

Er war so gefesselt, daß sie die Augen niederschlug, mit einem Zug um den Mund, als ob jemand ihre vollen Lippen angeblasen habe.

Tante Nette drehte den Kopf und stellte mit würdiger Handbewegung vor:

»C'est notre neveu, ce jeune homme – il s'appelle Halle. Vous ne saurez jamais le prononcer. – Mademoiselle Adèle Gavarny, qui prend soin de notre chère Minna.«

Halle verbeugte sich errötend. Ermuntert durch die Achtung, die man in aller Gegenwart seinen Sprachkenntnissen bewies, ging er auf die Gouvernante zu und gab ihr die Hand.

» Enchanté de faire la connaissance!« Das hatte er gerade gestern in der »Französischen Konversationsstunde« gehabt.

Ein erstauntes Lächeln in dem Gesicht des jungen Mädchens machte ihm Mut zu einem weiteren Schritt:

» J'espère, Mademoiselle, que vous vous portez bien ici à Copenhague.«

Ob es nicht doch subjonctif hätte sein müssen?

» Oh, mais oui, Monsieur, – c'est une ville très gentille!«

Mit leichten Schritten eilte Halle nach gut bestandener Prüfung zu Minna zurück, besorgt, daß er sich durch ein weiteres Examen um seine Lorbeeren bringen könnte.

Von der französischen Sprache angeregt, begann Tante Nette zu konversieren, indem sie sich hin und wieder an Fräulein Adele wandte und einen Satz auf Französisch wiederholte.

Von Wind und Wetter, von Unterricht und Erziehung. Halle erfuhr, daß Minna bereits vor einem halben Jahr aus dem Pensionat zurückgekehrt war und die französische Erzieherin bekommen hatte. Und es hatte wirklich den Anschein, als ob Minna und sie hier wohnen sollten, wie Line gesagt hatte.

Da sich nichts Interessantes mehr zu ereignen schien, verließ Halle entschlossen das Zimmer. Draußen im Entree zögerte er einen Augenblick – sollte er in die Küche gehen und Jensen ausquetschen? Nein, das war unter seiner Würde.

Er begab sich auf seine Dachkammer, zündete sich ein Zigarette an und setzte sich rittlings auf die Fensterbank, das eine Bein im Zimmer, das andere auf dem Dach, und genoß die kühle Luft, die über das niedrige Stall- und Garagegebäude vom Garten herübergestrichen kam. Die Kastanie da drüben hatte schon gelbe Töne im Laub; man sah es erst jetzt, nachdem das Wetter sich nach all den trüben Tagen endlich aufgeklärt hatte.

Er dachte an seine Enttäuschung über Minna, – und auf einmal fiel ihm ein, ob Minnas Übersiedlung zu ihnen vielleicht damit zusammenhing, daß ihre Mutter mit irgend jemandem durchgebrannt sei. Man hatte ihrer nicht ein einziges Mal erwähnt, und Onkel Harald hatte ausgesehen, als ob so etwas Ähnliches passiert sein könnte.

Arme Minna!

 

Halle erwachte. Seine Stube war voller Sonne.

Mit einem Satz war er am Fenster. Der Hof lag sonntagsstill und sauber da. Alle Türen und Tore waren verschlossen. Der Speicher stand wie im tiefen Schlaf, mit seinen geschlossenen Luken, eine immer über der anderen, die an Werktagen auf alles achtgaben, was im Hofe geschah.

»Hallo!«

Es war der Verwalter Sörensen, der sein Fenster öffnete, er hatte zwei kleine Zimmer unten im Speicher.

Er war in Hemdsärmeln und hatte sich seine Morgenpfeife angezündet. Ein junger Mann, das struppige, blonde Haar über der eckigen Stirn hochgekämmt, große, etwas hervortretende, erfahrene Augen, die auf ihrem Posten waren, und immer ein angenehmes Lächeln auf dem hübschen, regelmäßigen Gesicht.

Halle bewunderte ihn, weil er so viel erlebt hatte, obgleich er erst siebenundzwanzig Jahre alt war. Vier Jahre war er zur See gefahren, fünf Jahre war er in den Vereinigten Staaten gereist; im vergangenen Frühling war er auf der Heimreise in der Nordsee auf einem verdächtigen norwegischen Schiff torpediert worden; alles, was er außer seinem Leben besessen hatte, lag mit seiner Schiffskiste auf dem Meeresgrund; drei Tage und drei Nächte hatten die Schiffbrüchigen in einem Boote auf dem offenen Meere verbracht, bevor sie die norwegischen Schären erreichten. Jetzt hatte er genug vom Herumvagabundieren, hatte sich die Stellung als Verwalter hier verschafft, sie buchstäblich aus dem Erdboden gestampft, da sie wegen der schlechten Zeiten eigentlich unbesetzt bleiben sollte; Rohstoffe waren nicht mehr aufzutreiben, und der Drogenhandel hatte seine ausländischen Kunden verloren. Von einer Tante aber, die in der Fabrik die Treppen scheuerte, hatte er zufällig davon erfahren, hatte sich im Kontor eingefunden, seine Dienste für halben Lohn angeboten und soviel davon gefaselt, was man drüben in Amerika alles an Zeit und Arbeitskräften zu sparen verstünde, daß man ihn schließlich angestellt hatte. Er hatte sich schnell beliebt gemacht, war immer dienstbereit, immer freundlich – und bereits einen Monat nach seinem Eintritt wurde er fest angestellt.

Halle gegenüber, der ihn unbegrenzt bewunderte, machte er kein Geheimnis aus seinen Talenten. »Nur immer drauf – dann geht's von selbst!« war sein Wahlspruch.

Vor einiger Zeit hatte der Verwalter Halle anvertraut, daß er mit seinem Namen unzufrieden sei. Darin sei keine Zukunft. Er hatte einen anderen gefunden, er wollte »Smart« heißen. Peter Smart, das hatte Klang, nicht wahr? Schließlich würde man ihn nicht mehr Smart nennen, sondern »der Smarte«. Ah, da ist ja der Smarte! – Fein, nicht?

Halle hatte sich erkundigt, wie man um Namensänderung einkommen müsse. Er hatte Onkel Jonas gefragt, der herzlich gemeckert und Sörensen eine große Zukunft prophezeit hatte.

»Sage ihm aber, daß er Smarth mit einem H einreichen soll; das andere wird ihm nicht bewilligt, das ist zu deutlich.«

»Raten Sie, was ich hier habe?«

Der Verwalter nahm einen gelben Briefumschlag vom Fensterbrett und hielt ihn in die Höhe.

Halle erfaßte gleich, daß es die Bewilligung vom Ministerium sei.

»Gratuliere!« winkte er, »ich komme gleich hinunter.«

Der Verwalter bewirtete ihn zu Ehren des Tages mit Portwein in Biergläsern; und es war Mittag, bevor er die Auseinandersetzung seiner Zukunftsmöglichkeiten vorläufig abschloß.

Das Tor knarrte. Tante Nette im schwarzen Sonntagshut und langen, grauen Mantel kam mit Jensen aus der Kirche. Jensen trug das Gesangbuch und eine weiße Tüte mit dem Sonntagsgebäck.

Halle trat vom Fenster zurück; denn Tante Nette liebte es nicht, daß er sich in Sörensens Zimmer aufhielt. Galt es doch den sozialen Abstand wahren, besonders jetzt, wo alle Welt am Herrntisch sitzen wollte. »Vulgäre Manieren und schlechter Tabak sitzen denen in den Kleidern,« pflegte sie zu sagen.

Als Tante Nette im Hause und die Bahn wieder frei war, schlüpfte Halle hinaus. Gleichzeitig wurde zum zweiten Frühstück geläutet.

Oben am Fenster des Fremdenzimmers sah er die Umrisse einer weiblichen Gestalt, die im Begriff war, sich zu kämmen. War es Fräulein Adele oder Minna?

Da wurde das Fenster unten im Anrichtezimmer geöffnet, und Line tauchte auf, im Sonntagsstaat, mit frisch gewaschener Haube.

»Per Andrés!« rief sie über den Hof.

Hinter dem Garagetor erklang das Geklapper von Holzpantoffeln, ein kräftiges »Ja« erschallte, und Per Andrés öffnete den einen Torflügel und ließ sein sonntäglich rasiertes Gesicht sehen, den gedrehten Schnurrbart und das dunkle, gescheitelte Haar über der halb weißen, halb von der Sonne kupferfarben gebrannten Stirn.

Er blinzelte dem hübschen, rundlichen Mädchen, das nichts von ihm wissen wollte, einen Morgengruß zu. Was dieser alte, nach Pferdestall, Benzin und Öl stinkende Kerl sich einbildete! Eine Frechheit, wie er sie immer duzte und Schatz und Herzchen zu ihr sagte. Daß die anderen Mädchen sich das gefallen ließen! Sie wollte es sich ernstlich verbeten haben.

»Ich sollte Ihnen von Frau Assessor sagen, ob Sie gleich nach dem Frühstück mit dem Auto zur Stadt fahren und Sachen für Fräulein Minna holen wollen.«

»Natürlich will ich, Herzchen! Sobald ich zu Mittag gegessen habe. Kannst grüßen und sagen, daß ich so um zwei Uhr herum antreten werde.«

Der freche Kerl wagte es, ihr Kußhände zuzuwerfen. Line schlug beleidigt das Fenster zu.

Also auch Möbel sollten hergebracht werden! Das wurde ja immer interessanter.

Halle ging mit Minna durch alle Treibhäuser. Im ersten, wo Trauben gezogen wurden, war die Luft milde und behaglich von der frischen Herbstluft draußen. Je weiter sie gingen, desto wärmer aber wurde es. Da gab es Apfelsinenbäume, Zitronen, Pomeranzen und Kakao; da waren Kaktusgewächse, die bis an die Decke reichten, Feigenkaktus, Bananenbäume; da waren Fächer- und Phönixpalmen; in dem letzten Raum aber, wo die Orchideen träge in geflochtenen Körben wuchsen, die von der Decke herabhingen, war es so heiß, daß es ihnen den Atem benahm, die Luft war von Dämpfen aus der feuchten, warmen Erde gesättigt.

Sie machten, daß sie in den Gemüsegarten hinauskamen, einen großen, viereckigen Platz, der durch eine mannshohe, beschnittene Buchenhecke von der Umwelt abgeschlossen war. Die Erdbeerpflanzen standen in langen Reihen, verbraucht, mit Unkraut zwischen den langen Schößlingen; die Erbsen hingen gelb, wie in Fetzen, über dem struppigen Erbsenbusch. Rote Bete aber, Petersilie und gelbe Wurzeln hatten noch kräftiggrüne Büschel; der Blumenkohl schwoll mit festen, weißen Brüsten aus seinem grünen Kleide; die Salatköpfe waren üppig in Saat geschossen. Sie suchten nach Zuckererbsen, fanden aber nur gelbe, zähe Schoten mit steinharten Kernen.

Halle begab sich zum Verwalter, um den Schlüssel zum Speicher zu holen.

Sörensen schlüpfte in aller Eile in den Sonntagsrock und zeigte sich in der geöffneten Tür, mit seinem angenehmsten Lächeln.

»Das ist unser Verwalter –« Halle sah ihn fragend an, und der Verwalter nickte – »Herr Smarth!«

Minna stutzte bei dem Namen und bei dem fremdartigen Gesicht, nickte kurz und stieg die Treppe hinauf.

»Es wird mir eine Ehre sein, dem gnädigen Fräulein den ganzen Laden zu zeigen.«

Smarth lief an ihnen vorbei, um die Tür zur nächsten Treppe aufzuschließen.

Halle war in dem weißen, niedrigen Speicherraum wie zu Hause, Kisten und Kasten standen in geordneten Reihen, mit Porzellanschildern auf dem Deckel, worauf die lateinischen Namen vermerkt waren. Dort war es dunkel, nur durch die Ritzen der Luken drang etwas Tageslicht in Streifen herein.

Sörensen drehte das elektrische Licht an, und Minna fand gleich die große Kiste mit dem Kandiszucker, »Saccharum nigrum« stand darauf.

Ob sie sich noch erinnern könne, wie sie sich einst einen Zahn dabei verletzt hatte, daß es blutete?

»Wie jammerschade um die hübschen Zähnchen,« versuchte Smarth eine galante Bemerkung.

Minna warf ihm einen kühlen Blick zu und nahm Halles Arm.

Wahrhaftig, auch wo die Kiste mit den süßen Mandeln stand, wußte sie noch ganz genau, »Amygdalae dulces«, auch des Namens erinnerte sie sich noch.

Sie waren wieder Kinder. Wäre Smarth nicht dagewesen, der sich zuvorkommend an Minnas Seite hielt und bei jedem Wort »gnädiges Fräulein« sagte, die schweren Deckel öffnete und von allem, was gut schmeckte, eine Handvoll herausnahm: Pfefferminz, Johannisbrot, englische Lakritze – sie hätten weiß Gott Lust gehabt, hier wieder Verstecken zu spielen, wie vor fünf Jahren. Nirgends konnte man sich besser verstecken als in diesem großen tiefen, dämmerigen Saal, hinter den großen Kisten.

»Weißt du noch, du hattest Angst, hier allein zu sein?«

Ja, Minna wußte es noch. Sie schmeckte von allem, Dinge, die sie verächtlich zurückgewiesen haben würde, wenn Halle sie ihr oben im Zimmer angeboten hätte.

Sie stiegen weiter nach oben. Dort standen die Ballons, große dickbäuchige, seegrüne Glashäfen in Korbgeflecht. Auf den Borden riesige Flaschen ohne Hals, mit merkwürdigen Flüssigkeiten in allen Farben. An einer Stelle roch es nach Salmiak und Kampfer, an einer anderen nach Terpentin und Teer.

Smarth schloß die Giftkammer auf; drei Totenköpfe und gekreuzte Knochen waren auf die Tür gemalt. Drinnen war es fast dunkel, nur ein kleines viereckiges Fenster aus undurchsichtigem, grünem Glas, das zum Garten hinausging, gab spärliches Licht.

Minna ging zögernd hinein. Smarth zeigte und erklärte. Da waren Rattengift und Lauge, da waren Blausäure und Zyankalium – und wie es alles hieß. Er erklärte, wozu alle diese Gifte gebraucht würden und wie sie wirkten – einige waren für Tiere, andere für Menschen. Opium für Zahn- und Leibschmerzen, Belladonna in die Augen zu träufeln, damit die Pupillen groß, dunkel und strahlend wurden –

»Das haben gnädiges Fräulein aber wahrhaftig nicht nötig.«

»Und hier ist Morphium. Der rote Saft dort ist zum Einnehmen, und die Flasche für Einspritzungen. Sie können mir glauben, gnädiges Fräulein, viele würden etwas darum geben, wenn sie den Schlüssel zu dieser Kammer hätten und sich die Spritze füllen könnten, ohne die vielen Umstände mit den Rezepten.«

Halle fühlte Minnas Hand auf seinem Arm – einen unbewußten, bebenden Druck. Sie wandte den Kopf ab, wollte hinaus – und plötzlich ging ihm ein Licht auf. Hier lag das Geheimnis.

Eine Menge kleiner Dinge sammelten sich auf einmal in seiner Erinnerung. Wenn ein seltenes Mal von Minnas Mutter gesprochen worden war, hatte es sich immer um ihre Gesundheit gehandelt, ohne daß man erfuhr, was ihr eigentlich fehlte. Einmal hatte er etwas von einer Anstalt gehört, in der sie gewesen war. Und als er eines Abends in Onkel Jonas' Zimmer gekommen war, um die Zeitung für Tante Nette zu holen – es war das letztemal, daß Onkel Harald müde und gequält dort gesessen hatte, – sagte er: »Wenn ich nur wüßte, woher sie es bekommt!« – und es war still gewesen, bis er das Zimmer wieder verlassen hatte. Die Worte aber waren gerade dieses Schweigens wegen in seinem Gedächtnis haftengeblieben. Er hatte darüber gegrübelt, wer diese »sie« wohl sein mochte?

Also Morphinistin! Arme Minna, die gesehen und verstanden hatte, was ihrer Mutter fehlte! Darum war Minna also in ein Pensionat geschickt worden, obgleich sie einziges Kind war. Armer Onkel Harald!

Der Verwalter wollte ihnen durchaus auch die obere Etage zeigen. Kaum hatte er die Tür geöffnet, ja, bereits auf der Treppe, schlug ihnen ein betäubender Duft entgegen.

Hier oben, wo die Dachbalken sich über ihrem Kopfe kreuzten, fiel blendendes Tageslicht durch die großen schrägen Fenster, zwischen den kahlen Ziegelsteinen. Der Boden war ganz wie mit einem lebendigen Blumenteppich bedeckt, nur an den Seiten war ein schmaler Gang frei – da lagen ganze Bündel von gelben Königskerzen, von silberrandigen Kamillenblumen, kleinen roten Thymianblüten, Lavendel in blauen Bündeln und Meiran mit weißen Blütenaugen im grünen Laub. Bund neben Bund lagen die abgeschnittenen Kräuter und trockneten in der Sonne. Obgleich es schon Spätherbst war, herrschte eine Treibhauswärme dort oben.

Die Luft benahm ihm den Atem, er wandte sich, um zu gehen, Minnas Augen aber glänzten, ihre Lippen waren halb geöffnet, ihre Backen brannten.

»Komm!« sagte er und nahm ihre Hand.

»Wie wundervoll!« flüsterte sie wie im Traum; ihre Hand, die sonst so schlaff war, drückte die seine heiß und lebendig. Einen Augenblick lehnte sie sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand, nahm sich dann zusammen und ging zur Tür.

»Ja, davon kann man einen Rausch bekommen,« sagte der Verwalter und strich sich den Schweiß von der Stirn.

Sie stiegen jetzt geschwind die Treppe hinunter. In der Tür drehte Minna sich noch einmal um und reichte dem Verwalter zum Dank die Hand.

»Ich hoffe, gnädiges Fräulein beehren mich bald wieder!« sagte er kühn.

Minna antwortete nicht; Halle grüßte kurz, – Tante Nette mochte recht haben, wenn sie sagte, man solle Abstand halten.

 

»Es ist unbegreiflich,« sagte Tante Nette beim Frühstück vorwurfsvoll zu Onkel Jonas, denn er war ja der ältere Bruder, »daß Per nicht einsehen kann, daß man der Hausfrau einen Bescheid schuldet, wieviel Gäste sie zum Mittagessen erwarten kann, wenn es auch nur ein gewöhnliches Sonntagsmittagessen ist. Ich habe Jensen gesagt, daß sie ein halbes Huhn pro Person berechnen soll, die Hühner sind ja jetzt so groß; wenn Per nun die Güte hat zu erscheinen, ist für ihn kein Huhn da.«

Als aber Per in seinem schwarzen Mantelkragen kam, den er Anno zehn vor dem Kriege in Spanien gekauft hatte, mit dem breitrandigen Filzhut und seinem herrlichen, offenen, runden Gesicht, mit den großen schelmischen Augen unter den hochgezogenen Brauen, immer lebhaft und gleichmäßig freundlich gegen groß und gering, gegen Jensen und Line – da fehlte es weder an einem gedeckten Platz für ihn am Tische, noch an Blumenkohlsuppe, Huhn und Pudding.

Man hatte bereits in den hochlehnigen Stühlen Platz genommen, und Jensen war dabei, die Suppe herumzureichen, als es an der Türglocke läutete.

»Das ist Per,« sagte Tante Nette und strahlte gegen ihren Willen.

Er hatte eine ganz besonders festliche Art, die Glocke zu läuten, sie trillerte förmlich, man hörte seine klare Stimme, und Jensen öffnete die Speisezimmertür. Mit einem munteren Guten Tag trat er ins Zimmer, neigte seine hohe, ritterliche Gestalt, die sein Stolz war, vor der Schwägerin, die ihm am nächsten saß, und zog ihre Hand zu sich empor, als ob er sie küssen wollte. Da spürte er den fremden Duft, zart und dennoch durchdringend, und seine Augen wanderten suchend um den Tisch, bis sie Fräulein Adelens begegneten.

»Um Gottes willen!«

Der Ausruf kam von Tante Hannes Lippen; sie saß mit ihrem feinen alten Sonntagsschal um die schmalen Schultern, das silberne Haar glatt über die Schläfen gekämmt, und hätte fast den Löffel aus der Hand verloren –

»Aber um Gottes willen, Per!«

Halle blickte erschrocken auf, auch Fräulein Adele und Minna.

Onkel Jonas aber brach in sein Gewieher aus. Er warf den Kopf in den Nacken und hielt die Serviette vor seine schlechten Zähne.

»Du machst dich lächerlich, total lächerlich.«

»Aber Peter!« sagte Tante Mine, sie war die sanfteste, still, friedliebend, ein wenig einfältig.

»So nackt!« keuchte Onkel Jonas und drehte den Kopf, um Per noch einmal anzusehen, »geradezu unanständig nackt.«

Tante Nette hielt ihre Lorgnette vor die Augen, um richtig urteilen zu können. Sie spitzte die Lippen kritisch, war ihrer Sache aber doch nicht recht sicher. Peter hatte wirklich etwas Nacktes; andererseits aber –

Per mußte ein Kreuzverhör bestehen, warum er sich des Schmuckes beraubt hatte, der in Hannes und Mines, ja, auch noch in der Jugend der Schwägerin, des Mannes vornehmste Zier gewesen war. Es war wirklich nicht leicht für Per, Rede und Antwort zu stehen, während er die heiße Suppe löffelte. Schließlich erbarmte Jonas sich seiner:

»Laßt ihn nun erst essen!«

Nachdem Per seine Suppe gegessen und sich aus alter Gewohnheit den Schnurrbart gewischt hatte, der nicht mehr da war, lehnte er sich in den Stuhl zurück, umfaßte die Gesellschaft mit einem schelmischen Blick und fragte:

»Steht es mir nicht großartig? Bin ich nicht zehn Jahre jünger geworden?«

»Im Gegenteil, ganz im Gegenteil!« krächzte Jonas und strich sich über seinen Kinnbart, während er noch einmal die nackte Lippenpartie seines jüngeren Bruders musterte, »pfui Teufel!«

Auch Fräulein Adele konnte ein Lächeln nicht unterdrücken; sie verstand mehr von der Sprache, als sie als französische Gouvernante zugeben wollte; Per gefiel ihr, dieser ältliche Kavalier, mit dem jugendlich schelmischen Blick, dem vollen, graumelierten Haar, das wie eine gepuderte Perücke die etwas eingefallenen, edlen Schläfen mit dem feinen Adernetz einrahmte.

Per war all sein Lebtag ein großer Damenfreund gewesen. Seine Geschwister kannten verschiedene Geschichten aus seinem intimen Leben. »Und wenn man bedenkt,« pflegte Jonas mit gemachter Entrüstung zu Tante Nette zu sagen, »daß wir sicher nur das Harmloseste erfahren. Was mag Per auf seinen vielen Reisen nicht alles angestellt haben? – Glaubst du vielleicht, daß er das viele Geld allein durchgebracht hat?«

»Mademoiselle, Sie sind fremd, Sie haben alle Bedingungen für ein unparteiisches Urteil – Sie sollen Richter sein!«

Was Per für ein Theater macht, dachte Schwester Hanne bei sich und blickte mißbilligend auf die französische Puppe mit ihrem ausländischen Duft.

Fräulein Adele errötete unter seinem Blick und wehrte ab, indem sie bemerkte, sie habe ja nicht das Vergnügen gehabt, ihn vorher zu kennen, könne darum nicht beurteilen, ob die Veränderung vorteilhaft sei oder nicht. Aber sogar in Frankreich, wo alle Männer Vollbärte trügen, sogar ganz junge Leute, habe man angefangen, die Bartlosigkeit der Engländer nachzuahmen, wie man schon lange ihre Kleidung kopiert habe; besonders jetzt nach dem Kriege; als sie zuletzt zu Hause gewesen sei, wäre es ihr auf den Boulevards aufgefallen.

»Que voulez-vous, monsieur, c'est la mode qui fait tout.«

»Parfaitement, mademoiselle, c'est ça!«

Pers schelmischer Blick glitt über die ganze Tafelrunde und blieb zuletzt auf der Wirtin haften.

»Und warum sollte ich bei meiner Jugend nicht der Mode folgen, wenn sie die natürlichen Vorzüge meines Gesichtes hervorhebt?«

Es gab einen allgemeinen Lärm.

»Alter eingebildeter Junggeselle!« meckerte Onkel Jonas.

»Mein Gott, was du für ein Theater machst!« Hanne konnte nicht länger an sich halten, sie nahm immer alles ernst.

Halle nickte ihm mit großen bewundernden Augen zu und klatschte lachend in die Hände, während Per herzlich lachend die Wirkung seiner kühnen Worte genoß. Schwester Mine aber sagte sanft:

»Per ist wirklich erst fünfundfünfzig, er ist immer sechsundeinhalbes Jahr jünger als ich gewesen.«

»Es kommt auch nicht auf die Jahre an, sondern aufs Herz,« sagte Tante Nette und hob ihr Glas, worin kühler Chablis perlte, den Jensen soeben eingeschenkt hatte, und trank Per zu.

Halle sah zu seinem Staunen, daß ihre Augen mild und feucht waren.

Nachdem man den Kaffee getrunken hatte, wurde Halle aufgefordert, den Bridgetisch herzurichten. Im kleinen Salon stellte er den Spieltisch auf, zündete die Lichter in den alten massiven Leuchtern an, die noch von Tante Nettens Urgroßeltern herstammten, befestigte die roten Seidenschirme daran, nahm die Karten aus dem Schubfach, Bridgeblock und Bleistifte und breitete das eine Spiel fächerförmig auf der blanken, schimmernden Mahagoniplatte aus.

Onkel Per interessierte sich nicht für Kartenspiel. An diesem Abend aber wurde er gezwungen mitzuspielen, denn Tante Nette weigerte sich, weil Per Andrés gleich nach dem Mittagessen mit den Möbeln gekommen war; sie und Onkel Per saßen in der Ecke beim Klavier und flüsterten miteinander, – Halle begriff, daß es sich um die mystische Begebenheit bei Onkel Harald handelte.

Minna hatte sich im Erker in das rote Damastsofa gekuschelt, und Halle setzte sich neben sie. So saßen sie im Halbdunkel und starrten in das dunkelrote Licht der Lampenschirme; der Kronleuchter brannte nicht. Die Dunkelheit lag weich über dem Teppich, die Möbel hoben sich mit verschleierten Umrissen davon ab. Ein goldenes Licht auf einem Bilderrahmen, ein schwacher Reflex im Glase über Urgroßvaters Porträt – das war alles.

Es machte sich ganz von selbst, wie sie so untätig saßen, daß Halle mit treuherziger Stimme fragte, ob ihre Eltern nicht traurig seien, daß sie sie entbehren sollten; für ihre Mutter müßten die langen Vormittage, wenn Onkel Harald in der Bank war, doch recht einsam sein.

Minna zögerte eine Welle, während ihre Schuhspitze auf und nieder wippte.

»Ach, Mutter!« sagte sie dann fast schreiend, mit einer Mischung von Mitleid und Verachtung, »wenn sie nur ihr Morphium hat!«, und sie lachte schmerzlich auf, daß es Halle durch Mark und Bein ging.

Während die alten Geschwister nebenan Trumpf ansagten und einander überboten, sich über leichtsinnige Meldungen ärgerten – besonders Per spielte übermütig, sonst schliefe er ein, sagte er –, das Spiel lobten und tadelten, saß eine junge einsame Seele und verbarg ihre hilflose Verzweiflung hinter verwegenen Worten, bereits tränenlos. Und eine andere junge Seele, verwandt und nah, gleich an Jahren und Lebensbedingungen, nahm die Worte in sich auf – lauschte auf ihren Klang, auf die wortlose Rede des Herzens, und schwang bebend mit, wie eine empfindsame, gleichgestimmte Saite.

In einem sogenannten Erholungsheim, wo Harald Hvilding auf Rat der Ärzte seine Frau hingeschickt, hatte man versucht, ihr Morphium zu entziehen, indem man ihr statt dessen Alkohol gab. Der Erfolg hatte alle Erwartungen übertroffen, so sehr, daß ihr Mann ihren Wunsch erfüllen konnte, der auch sein Herzenswunsch war, die Tochter nach Hause kommen zu lassen. Minna wurde aus dem Pensionat genommen und bekam stattdessen Fräulein Adele. Kaum aber war das Ziel erreicht, als die Unglückliche einen Rückfall bekam. Und jetzt war es so weit gekommen, daß die Ärzte sie als unheilbar erklärten; im Krankenhaus konnte sie nicht bleiben; darum wurde bestimmt, daß Minna und ihre Erzieherin das Heim verlassen sollten, das so viele bittere Erinnerungen barg. Hvilding behielt seine Frau bei sich; sie stand Tag und Nacht unter Aufsicht und lag fast ständig zu Bett. Der Arzt meinte, es würde nicht mehr lange dauern.

 

Die Uhr war schon nach elf, als das Spiel beendigt und die schwierige Abrechnung in Ordnung gebracht war.

Nachdem Halle gute Nacht gesagt und Tante Hanne und Mine zu ihren Zimmern begleitet hatte, begab er sich auf seine eigene Stube, müde nach dem langen Tag.

Vom Gang aus sah er, daß Licht in seinem Zimmer brannte, und als er hereinkam, war Line damit beschäftigt, das Zimmer für die Nacht zurechtzumachen.

»Gott, wie haben Sie mich erschreckt, Herr Halle!«

Sie stand im Unterrock und blinzelte ihn verschämt an, während sie mit ihren runden, weißen Armen das Bettuch vor ihre tief ausgeschnittene Untertaille hielt.

»Gerade wollte ich zu Bett gehen, als mir einfiel, daß ich bei Ihnen noch gar nicht zurechtgemacht hatte. Und darum beeilte ich mich, um fertig zu sein, bevor Sie kämen.«

Da Halle keine Miene machte, seinen Blick von ihr abzuwenden, ließ sie mit niedergeschlagenen Augen das Bettuch sinken und setzte ihre Arbeit fort. Indem sie sich übers Bett beugte, wurde die Untertaille von zwei weißen Wölbungen ausgefüllt, die sich weich und verführerisch hinter den Spitzen wölbten.

Gegen seinen Willen konnte Halle seinen Blick nicht davon losreißen; Line aber schien es gar nicht zu bemerken. Sie richtete den Kopf auf das offene Fenster –

»Ich werde es schließen,« sagte sie, als ob er über Zugwind geklagt hätte.

Dabei mußte sie an ihm vorbeigehen; er stand am Fußende des Bettes, und der Durchgang zwischen Bett und Kleiderschrank war schmal. Er spürte, wie ihre weiche Brust seinen Ärmel streifte und gleichsam einen Augenblick verweilte.

»Machen Sie doch Platz!« sagte sie kokett und senkte den Kopf unter seinem Blick.

Das Herz hämmerte ihm in der Brust. Er durchschaute ihr Manöver – und dennoch war er nicht Herr über seine Augen, das Blut brauste in ihm, und seine Hände wurden mit fast unwiderstehlicher Gewalt zu ihr hingezogen.

Line zögerte einen Augenblick, bereit, lüstern, während ein unfreiwilliges Siegeslächeln auf ihren Lippen erschien.

Halle sah es – und das genügte.

Er machte sich dünn und ging vorbei, ohne sie anzurühren.

»Danke, Line, Sie können gehen.«

»Aber ich bin ja gar nicht fertig.«

»Ich werde den Rest selbst besorgen.« Er befestigte die Fensterriegel. »Ich möchte jetzt zu Bett gehen.«

Noch zögerte sie und seufzte hörbar. Dann besann sie sich eines anderen, ging rasch zur Tür und schlug sie, ohne gute Nacht, hinter sich zu.

 

Aus Halles Elternhause kamen wichtige Nachrichten.

Nach dem Tode seines Vaters konnte seine Mutter den alten Familienbesitz nicht länger halten. Sie hatte versucht, ihn mit Hilfe eines Großknechtes selbst zu bewirtschaften. Aber alle jungen und tüchtigen Landleute waren im Felde.

Da wollte das Schicksal, daß der Krugwirt, der alte apoplektische Jespersen, das bißchen Geist aufgab, das noch in seinem von Fett beschwerten Körper wohnte, und daß der Krugverwalter Pedersen während seines Urlaubes sich an Frau Halfdann wandte, um im Namen von Frau Jespersen auf den Hof und all seine Herrlichkeiten zu bieten, mit Ausnahme der Möweninsel, auf die er keinen Wert legte. Für Frau Annie aber war die kleine Insel, wo sie so häufig mit ihrem Mann und ihren Jungen Möweneier gesammelt hatte, eine teure Erinnerung an glückliche Zeiten.

Briefe gingen hin und her zwischen Frau Annie, Onkel Jonas und ihrem Bruder Harald. Auf dem Jagdwege wurde Familienrat gehalten und das Angebot schließlich angenommen. Es war notwendig, denn der Hof gab nicht allein keinen Überschuß, sondern sein Wert wurde von Tag zu Tag geringer.

Es war Pedersens – Frau Jespersens Plan, aus dem alten herrschaftlichen Haus und Park ein modernes Badehotel zu machen, sobald der Krieg vorbei war. Es läge dort ein Vermögen für ihn – für Frau Jespersen – meinte Pedersen und bewies darum ein Entgegenkommen, das den Kauf schnell zum Abschluß brachte.

Nur reichlich zwanzigtausend Kronen blieben Frau Annie und ihren Zwillingen, nachdem alles bezahlt war.

Sie und Ib hatten immer Blumen geliebt. Sie hatten die meiste Zeit im Park verbracht. Einen Garten mußten sie haben. Darum kaufte Frau Annie für eine bescheidene Summe Gärtner Hansens kleines Haus am Bahndamm und übergab den Rest des Geldes ihrem Bruder Harald, dem Bankdirektor, zur Verwaltung.

Sie zogen in die bescheidenen Stuben ein, mit den niedrigen Fenstern, die zwischen den Ranken der weißen Rosen hervorlugten. Ein alter echter Gravensteiner Apfelbaum warf spielende Mittagsschatten über Frau Annies Nähtisch am Fenster. Vor der ganzen Länge des Hauses war ein Blumenbeet. Das hatte sie auch früher gehabt. Sie liebte es, daß die Blumen ihr bei der Arbeit zunicken konnten; sie liebte es, ihrem Flüstern zu lauschen, wenn sie sich auf Zehenspitzen reckten, um in ihre behagliche Stube hineinzusehen. Denn es gibt keine neugierigeren Wesen als Blumen – und treuere. Alles, was sie sehen, bewahren sie, bis sie welken; sie ziehen Farbe daraus und spinnen Duft daraus, wie die Bienen aus ihnen Honig saugen.

Der alte Gärtner Hansen bewohnte jetzt die Dachstuben seines eigenen Hauses; das war eine stillschweigende Voraussetzung gewesen, als er es an Frau Halfdann verkaufte, die ihn seit vielen Jahren gekannt, bei ihm gekauft und mit ihm über die Blumen in dem alten Garten manch liebes Mal beraten hatte. Als man seine alte Haushälterin begraben hatte und er ganz allein war, verkaufte er das Haus, und Frau Halfdann wollte ihn in Kost nehmen.

Ib war von jeher getreulich Hansens Spuren gefolgt, wenn er Frau Halfdann im Garten des Herrenhauses half. Er liebte es, Hansen bei der Arbeit zuzusehen. Versorgte er nicht die Blumen, als sei er ihre Mutter? Er gab ihnen zu essen und zu trinken, hielt sie sauber, beschnitt und putzte sie; bisweilen nahm er sie aus der Erde, gab ihnen ein neues Bett und glättete die Erde um sie herum, als sei sie eine Bettdecke, mit der er sie zudecke.

Je älter Ib wurde, desto größer wurde seine Liebe zu allem, was wuchs. Schon als Kind durfte er Hansen bei der Arbeit helfen, zeitig lernte er jede Pflanze ihrer Natur nach zu behandeln. Ib wollte Gärtner werden. Hansen meinte, daß es seines kurzen Beines wegen ein guter Beruf für ihn sei; Ibs Mutter aber dachte an seinen guten Kopf und klaren Verstand; er lernte nicht leicht, aber was er gelernt hatte, durchdrang er bis auf den Grund und vergaß es nicht.

Das Leben wurde mit jedem Tage schwieriger. Der alte Hansen mußte sich auf andere Gartenerzeugnisse einstellen. Die Bewohner der Gegend hatten jetzt weder Gedanken noch Geld für Blumen. Kartoffeln – Kartoffeln – gelbe Wurzeln, ganz gewöhnliche Runkelrüben und Kohlrabi nahmen den Platz ein, wo früher Chrysanthemen mit Georginen und Astern um die Wette geprangt hatten, Hansens Spezialität. Keiner hatte so viele verschiedene Sorten wie er, Kunden kamen von weit her; das aber war lange vorbei.

Der alte Hansen war schon von vornherein so mager, daß man ihm den Hunger nicht ansah; etwas welker und runzliger sah er wohl aus, das war alles.

Annie Halfdanns Augen aber, mit ihrer weichen Sammettiefe, die ihr Mann so über alles geliebt hatte, wurden in dem mageren Gesicht immer größer und größer; die zarte Haut wurde durchsichtig, und was einst Grübchen gewesen, waren zwei scharfe Falten zu jeder Seite des schmalen Mundes geworden … Sie sorgte zuerst für Ib, dann für den alten Hansen, zuletzt für sich.

Ib sah, daß seine Mutter hungerte. Der lange Weg zur Lateinschule in der Stadt erschöpfte ihn, bei der geringsten Anstrengung bekam er Kopfschmerzen; aber er sagte nichts und unterdrückte seinen Hunger, damit die Mutter sich keine Sorgen machen sollte. Der alte Landarzt aber, der Ib seit seiner frühesten Kindheit gekannt und ihm auf der Landstraße oft begegnet war, kam eines Tages wie zufällig zu Besuch, und da wurde vereinbart, daß Ib aus der Schule genommen und bei Hansen in die Lehre gegeben werden sollte, in die richtige, fachliche Gärtnerlehre, um später die Gärtnerei zu übernehmen, wenn Hansen mal »ausgerodet wurde«, wie er es selbst nannte.

Dies alles wußte Halle aus den Briefen seiner Mutter und Ibs. Aber es war nur die Hälfte, die freundlichere Hälfte. Alle Sorgen und Entbehrungen lagen ungeschrieben zwischen den Zeilen. Sie wollte nicht klagen, ihrem großen Jungen, wie sie ihn nannte, weil er eine halbe Stunde älter war als sein Bruder, keinen Kummer bereiten. Warum sein Gemüt verbittern, da er doch nicht helfen konnte, warum seine Sehnsucht auf die Folter spannen, da mehr als ein Weltmeer, die furchtbare Abrechnung einer Welt, zwischen ihnen lag?

Der letzte Brief war von Ib. Er handelte nur vom Garten. Es lag ein Plan dabei über sämtliche Beete, Gänge und Mistbeete und ein genaues Verzeichnis über alles, was man der Tyrannei der Kartoffeln und Rüben entzogen hatte.

Es war ein herrlicher Brief. Niemand verstand sich auf Briefe schreiben wie Ib, meinte Halle. Alles war so natürlich und klar, wie er selbst. Es war, als ob seine lieben, treuen, blauen Augen, die so schelmisch und gleichzeitig traurig blicken konnten, zwischen den Zeilen zu ihm aufsahen. Er berichtete von der Arbeit und von einem Plan, den er ins Werk setzen wollte und auf den er sehr stolz war, denn er selbst hatte die Idee dazu bekommen. Er hatte seiner Mutter vorgeschlagen, die Möweninsel zu bepflanzen. Der Boden war ausgezeichnet. Hansen war drüben gewesen und hatte ihn in Augenschein genommen. Eine wahre Guanoinsel war sie unter der Herrschaft der Möwen geworden. Ib wollte von der Mitte der Insel aus den Boden bebauen, so daß den Möwen ein breites Stück am Strande blieb. Man mußte langsam vorgehen, die Vögel Stück für Stück zur Küste drängen. Die Arbeit war schon mit einer kleinen Parzelle im Zentrum in Angriff genommen worden. Ib und seine Mutter machten alles selbst. Morgens in der Frühe ruderten sie hinüber – Hansens altes Boot war instand gesetzt worden –, die Vespermahlzeit nahmen sie mit, und wenn der Wind günstig war, setzten sie ein Segel, das Hansen aus einer alten Persenning gemacht hatte. Diese Morgenstunden waren köstlich. Anfangs hatten die Möwen furchtbar geschrien und geschimpft, waren ihnen mit ausgebreiteten Flügeln so nahe gekommen, daß sie das Sausen ihres Flügelschlages im Gesicht fühlen konnten, obgleich die Vögel zu dieser Jahreszeit weder Nester noch Eier hatten, sonst hatte man sie natürlich auch nicht vertrieben.

Ib hatte einen Schuppen gezimmert, wo er und seine Mutter sich bei Regenwetter aufhalten und ihre Vespermahlzeit gut geborgen verzehren konnten. Man wollte ihn später zu einem kleinen Holzhaus, mit Arbeits- und Gerätschaftsraum ausbauen. Auch ein Hühnerhaus sollte errichtet werden. Denn weil es dort weder Fuchs, noch Marder, noch Ratten gab, konnten Mutters Kücken und Entlein frei herumstreifen. Damit war viel gewonnen; wenn erst eine richtige Gärtnerei im Gange war, würde es Abfall genug geben, so daß kein Futter zur Insel herübergeschafft zu werden brauchte.

Ach, warum durfte er nicht zu Hause sein! Warum konnte er Ib nicht mit seinen kräftigen Armen helfen!

 

Als Halle eines Tages aus der Schule kam, öffnete Jensen ihm die Tür: er möchte gleich ins Wohnzimmer kommen, es wäre eine alte Bekannte da, die ihn begrüßen wollte.

Eine schwarzgekleidete Dame, mit einem kleinen Kapotthut auf krausem, weißem Haar, erhob sich von einem Stuhl am Tische, als Halle hereinkam, und Tante Nette stellte ihn vor.

»Ihre allererste Bekanntschaft,« sagte die Dame, als Tante Nette ihren Namen genannt hatte, »Frau Jansine Janssen,« und die Fremde, die so fettleibig war, daß ihre schäbige Jacke vorn viel zu kurz war, reichte ihm eine winzigkleine, weiche Hand.

Tante Nette beeilte sich, ihr zuvorzukommen:

»Frau Janssen stand deiner Mutter bei, als du und Ib zur Welt kamt.«

»Oh, ich erinnere mich noch ganz genau!« Frau Janssen schüttelte den Kopf, so daß der Kneifer, der auf der abgemagerten Nase keinen Halt mehr hatte, herabfiel. »Es war eine herrliche Frühjahrsnacht, als man mich mit dem Einspänner des Krugwirtes holte.«

»Ich bin im September geboren,« konnte Halle nicht unterlassen zu bemerken.

»September, auch gut, mein Söhnchen. Es war nicht leicht für Ihre Mutter, ich erinnere mich dessen noch genau, weil es Zwillinge waren, sonst kann man all das Kroppzeug nicht voneinander unterscheiden, wie Sie sich wohl denken können. Eintausendsiebenhundertsiebenundsiebzig Menschenkindern habe ich in die Welt geholfen – was sagen Sie dazu? Die Totgeborenen nicht mitgerechnet. Ach ja, wenn man siebenundzwanzig Jahre beim Fach gewesen ist –«

Tante Nette räusperte sich.

»Frau Janssen bringt dir Grüße von deiner Mutter und Ib.« Halle errötete vor Freude.

»Ach, vielen Dank!« Unwillkürlich streckte er ihr seine Hand hin.

»Ja, es geht ihr den Umständen nach ganz gut!«

Frau Janssen setzte sich wieder und begann etwas kurzatmig.

»Wie ich vorhin schon zu Ihrer – zu Frau Assessor sagte: Man sieht sich selten, teils ist man ja älter geworden, obgleich, na – und dann diese schrecklichen Zeiten! Göttchen, man sollte nicht glauben, daß es noch eine Vorsehung gibt!«

Frau Janssen trocknete sich die Augen, seufzte tief auf und begann wieder.

»Wie ich schon sagte, jeder hat genug an seinem eigenen Kreuz zu tragen. Ihre liebe Mutter hat ja noch immer ihr liebes Gesichtchen, aber viel Fett ist nicht drauf. Wo soll es auch herkommen, wenn man fragen darf?«

Ihre Lippen zitterten, und das Taschentuch fuhr wieder über die Augen.

»Und Ib, Ihr lieber kleiner Bruder, der Gärtner geworden ist. Wie ich schon damals, als er kam, zu Ihren Eltern sagte – es war genau eine halbe Stunde nach Ihnen – sehen Sie wohl, wie gut mein Gedächtnis ist?«

»Was sagten Sie, Frau Janssen?« Halle konnte seine Ungeduld nicht länger bemeistern.

»Ich sagte: sein rechtes Bein ist eine Spur kürzer als das andere, sagte ich –«

»Das linke –«

»Na, gut, das linke? – ›Seien Sie dessen froh,‹ sagte ich zu Ihrer Frau Mutter, ›dann braucht er nicht zum Militär.‹ Erst vorige Woche, als ich bei ihr war, um Grüße mitzunehmen, erinnerte ich sie daran. ›Wissen Sie noch, Frau Janssen,‹ sagte sie, ›was sie damals sagten?‹ ›Na und ob,‹ sagte ich, ›und es wäre kein Schade gewesen, wenn der andere auch ein kleines Gebrechen gehabt hätte, dann hätten Sie ihn nicht fortzuschicken brauchen.‹«

Halle schwieg und überlegte. Nein, sie hatte doch nicht recht.

»Wie geht es Ib?« fragte er und sah sie fest an, damit sie nicht wieder abschweifte.

»Na, wie's einem so gehen kann. Ihre Mutter sagte, Ib habe diesen Sommer sechzehn Pfund abgenommen. ›Na, und wie steht's mit Ihnen selbst, kleine Frau.‹ sagte ich zu Ihrer Frau Mutter – ›wieviel haben Sie abgenommen?‹ Da aber wollte sie nicht mit der Sprache heraus. ›Das weiß ich wirklich nicht,› sagte sie. Ach ja, das kennt man – erst kommen die Kinder, man selbst kommt zuletzt.«

Halle sah seine Mutter vor sich, blaß, die fleißigen Hände beständig in Bewegung, nie gönnte sie sich Ruhe, immer gab's etwas zu tun. Er sah Ib vor sich, blaß und mager, über den Spaten gebeugt, mit Schweißperlen auf der Stirn, müde, aber er hielt aus. Halle aber wollte nicht abseits stehen; er fluchte seinem Schicksal aus aufrichtigem Herzen. Warum ging es ihm gut, wenn Mutter und Ib hungerten? Warum war er nicht im Schützengraben, wie die tausend anderen, die Mütter und Brüder zu Hause hatten, die sich um sie sorgten?

»Bekamen sie denn nicht Tante Nettens Pakete?«

Frau Janssen sah sich um, als meinte sie, daß jemand von jenseits der Grenze sie hören könne.

»Es kommt vor, daß ein Paket unterwegs verlorengeht,« flüsterte sie, »und Zoll geht ja auch davon ab.«

Sie nickte und blickte vor sich hin.

»Was soll man dazu sagen, die andern hungern auch! Sie müßten Schulze sehen, der doch ein stattlicher Mann war, wie der abgemagert ist, und seine Frau und die sieben Kinder. Denen schickt niemand etwas. Ach Gott, ach Gott, wo soll das enden!«

»Können Sie nicht etwas mitnehmen,« rief Halle eifrig.

»Ich?« Frau Janssen sah ihn mit ihren nüchternen, braunen Augen erstaunt an. »Ich? Wissen Sie, wie ich die Reiseerlaubnis erhalten habe?«

Und sie erzählte von Ihrer Tochter Amalie, die schon lange vorm Kriege in Kopenhagen gewohnt hatte, jetzt im Sterben läge und ihre Mutter noch einmal sehen wollte. Frau Janssen aber bekam keine Reiseerlaubnis. Da ging sie zum Landrat, dessen Tochter vor kurzem eine sehr schwere Entbindung gehabt hatte, und niemand anders als Jansine Janssen hatte ihr und dem Kinde das Leben gerettet. Landrats also hatten die Bürgschaft für sie übernommen, und sie durfte reisen. Aber es gäbe nicht eine Stelle an ihr, die an der Grenze nicht untersucht worden wäre, und auf der Rückreise müsse sie sich derselben Untersuchung unterwerfen.

»Grüße und mündlichen Bescheid, soviel mein Kopf fassen kann, aber an verbotenen Dingen nicht so viel, wie in einem Fingerhut liegen kann. Sie kennen die Verhältnisse nicht, mein Söhnchen, da ist nichts zu machen.«

»Wir werden sehen, wir werden sehen,« dachte Halle bei sich; er wollte sich nicht damit abfinden, daß seine Mutter und Ib hungerten, während er selbst im Überfluß lebte.

»Jetzt müssen Sie eine Tasse echten Kaffee trinken!« sagte Tante Nette und legte ihr herzlich die Hand auf die Schulter.

»Gott segne Sie!«

Frau Janssen verlor die Haltung, ihre Augen füllten sich mit Tränen; und als sie bald darauf, mit von Kaffeeentbehrung geschärften Sinnen, die lieblichen Düfte aus dem Anrichtezimmer spürte, begannen ihre Kinderhände zu zittern.

 

Halle überlegte und überlegte. Schließlich vertraute er sich Smarth, alias Sörensen an, der immer Rat wußte.

Einen ganzen langen Nachmittag verbrachte er in dem kleinen Kontorraum neben der Treppe.

Am nächsten Tage ging Halle von der Schule aus nach Christianshavn, um Onkel Per einen Besuch zu machen. Von unterwegs telephonierte er an Tante Nette, daß er nicht zum Mittagessen kommen würde, er müsse mit einem Kameraden zusammen arbeiten. Er verbrachte einen wundervollen Abend. Als Onkel Per seine Bedenken erst überwunden hatte, war er ebenso eifrig geworden wie Halle selbst.

Am Morgen klagte Halle über Kopfschmerzen. Tante Nette, die in ihrem geblümten Morgenrock Kaffee über der Spritflamme machte, sah Halle prüfend an und fragte, wann er nach Hause gekommen sei.

Es sei spät gewesen; aber er habe auch schon gestern den ganzen Tag Kopfschmerzen gehabt.

Tante Nette meinte, er rauche zu viel; ein junger Mensch in seinem Alter dürfe überhaupt nicht rauchen; was würde sein Vater dazu gesagt haben! Ob Halle nicht auch vorgestern beim Verwalter – pfui – der seinen Namen gewechselt hatte, gesessen und geraucht habe?

Ja – aber Halle hatte auch schon tags vorher und alle Tage Kopfschmerzen gehabt, überhaupt fühlte er sich gar nicht recht wohl. Gut, daß die Osterferien vor der Tür standen.

Nach einer Weile der Überlegung sagte sie:

»Wenn du dich nicht wohlfühlst, mußt du lieber zum Arzt gehen.«

Kurz vor dem Mittagessen kam Onkel Per. Tante Nette wollte ihren Ohren nicht trauen, als sie sein Klingelzeichen hörte. An einem Wochentag! Sie stieg von ihrem Fensterplatz herab und ging ihm entgegen.

»Du bist doch nicht krank?« fragte sie besorgt, als sie seine Hand hielt.

Per sah sie erstaunt an, als ob sein Erscheinen sich alle Tage wiederholte.

»Ich meine, es ist doch nichts Schlimmes geschehen?«

»Etwas geschehen? Aber Nette – richte doch mal deine Augen auf etwas anderes als den Zimmerspion und sieh dir den Himmel an –«

Er stand neben ihrem Nähtisch und zeigte auf die alten Pappeln, die ihre steifen Äste vor Feuchtigkeit glänzend zum Himmel reckten. Nette sah hinaus.

»Sieh doch die treibenden Wolken! Sieh die Feuchtigkeit auf den Zweigen! Frühling, Schwägerin, Frühling!«

»Ich sehe nichts als Nässe,« sagte Nette und setzte sich wieder auf ihren erhöhten Fensterplatz, »abscheuliche Nässe, keine Spur von Frühling!«

Als Halle nach Hause kam, ging er zu Lines Erstaunen geradeswegs ins Wohnzimmer, ohne sich die Neuigkeit von Onkel Pers Besuch erzählen zu lassen. Enttäuscht schloß sie die Tür hinter ihm. Jetzt stand es fest: sie kündigte zum Ersten.

»Na, Studiosus, wie geht's? Lange nicht gesehen –«

Wie frech! Halle bewunderte ihn. Er sah Per an, daß er recht in seinem Fahrwasser war. Jetzt mußte man aufpassen, denn Onkel Per konnte es natürlich nicht lassen, mit dem Feuer zu spielen.

»Der Junge sieht nicht gut aus! Blaß und hohläugig,« wandte er sich an Tante Nette. »Ich bin überzeugt, der leidet an nervösen Kopfschmerzen.«

»Ja, er klagt über Kopfschmerzen,« sagte Tante Nette besorgt, »ich habe Halle schon heute morgen gesagt, daß er zu Doktor Lind gehen solle,« ereiferte sie sich, »bist du bei ihm gewesen?«

Halle hatte keine Zeit gehabt.

»Keine Zeit gehabt! Mein Gott, was für eine Jugend heutzutage! Anstatt die Gelegenheit zu benutzen, um einen halben Tag die Schule zu schwänzen.«

»Aber Peter!«

»Ich sage, es ist unmoralisch, daß man vor Kopfschmerzen lieber umfällt.«

Per machte eine Pause und sah von Tante Nette zu Halle.

»Was soll übrigens ein Arzt? Du und ich können so gut wie jeder Arzt sehen, was ihm not tut.«

Tante Nette sah ihn unsicher an.

»Frische Luft sage ich!« Per rief es mit runden Augen und ausgebreiteten Armen. »Frische Luft! Nichts anderes als frische Luft!«

»Als ob hier draußen auf dem Jagdwege nicht frische Luft genug wäre!« wandte Tante Nette ein. Sie meinte, daß ihre Gicht daher stammte.

»Das nennst du frische Luft?« Per wurde beinah hysterisch. »Diese eingeschlossene Stubenluft. Oder machst du deine Schularbeiten vielleicht draußen in der Allee, Halle?«

Er wandte sich Halle teilnahmsvoll zu, sah ihm sogar in die Augen, und Halle wäre über sein Theaterspielen beinah losgeplatzt.

»Das kann ich mir denken! Er sitzt nicht unter den Bäumen und treibt Trigonometrie oder wie es sonst heißt. Aber jetzt werde ich mal Arzt sein: dieser junge Mann muß aufs Land, wo der Wind vom blauen Meere her über das dänische Land weht!«

Per machte eine dramatische Handbewegung, während er Halle zublinzelte, der sich abwenden mußte, um nicht in Lachen auszubrechen.

»Aber sein Studium, Per, die Schule,« sagte Tante Nette sehr ernst, »bedenke sein Examen, Per!«

»Studium? – Examen? Hab' ich vielleicht gesagt, daß es schon morgen sein soll? Habe ich versucht, Halle nur einen einzigen kostbaren Tag der gesegneten Mühle der Wissenschaft zu entziehen? Aber gestatte mir die Frage: hat die Studentenfabrik nicht auch Ferien? Ah, da haben wirs, und irre ich mich nicht, steht Ostern vor der Tür.«

»Dienstag fangen unsere Ferien an,« beeilte Halle sich einzuschieben.

»Und heute ist Sonnabend. Noch zwei Tage der Sklaverei.«

»Aber Per!«

»Noch zwei Tage, sage ich – und dann Luft und Licht und goldene Freiheit für das junge Gemüt mit dem beschwerten Kopf!«

»Aber wohin?« Tante Nette führte grübelnd das elfenbeinerne Papiermesser über ihre Lippen.

»Wohin? Tcha, Wald und Strand, Meer und Wind – ich hab's! Halle soll nach Egesund, dem herrlichen Egesund – im erwachenden Frühling!«

»Egesund? Der kleinen Stadt am Belt? Kennen wir dort jemanden?«

»Ich weiß nicht, ob du dort jemanden kennst, ich kenne jedenfalls meinen alten Freund dort, den Hotelbesitzer Maagensen. Wie manchen herrlichen Sommertag habe ich in seinem gastfreien Hause verbracht. Ich werde dir einen Brief an Maagensen mitgeben, Halle, er soll dir Zimmer Nr. 5 geben, das hat Aussicht aufs Meer. Halle kann seine Bücher mitnehmen, damit er nicht ganz ohne Beschäftigung ist.«

Halle mußte sich wieder abwenden.

»Sind deine Sachen in Ordnung?« fragte Tante Nette.

»Ich habe gerade frische Wäsche bekommen,« beeilte Halle sich zu antworten.

»Wenn ihr Dienstag Ferien bekommt« – sann Tante Nette nach –, »kannst du dich gewiß schon am Montag freimachen. Dann hast du zwei Tage mehr.«

»Ausgezeichnet!« – sagte Onkel Per – »dann reist er morgen.«

»Nein, das tut er nicht! – Heute ist Sonnabend, daran habe ich nicht gedacht; da hat Jensen so viel anderes zu tun, daß sie es nicht schaffen kann.«

»Was kann sie nicht schaffen?«

»Halles Strümpfe müssen gestopft, seine Wäsche nachgesehen werden, daran denkt ein Junggeselle wie du nie. Halle reist Dienstag morgen.«

Damit war die Sache entschieden. Und dabei blieb es.


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