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Das Gelübde

Halle wohnte bei Maagensen in Hotel Egesund.

Er bekam seine Mahlzeiten in der Staatsstube serviert, wo Gutsbesitzer, Beamte und Handelsreisende aßen und was sonst an vornehmen Gästen kam. Punkt zwei Uhr pflegte Maagensen in der Tür zur Staatsstube zu erscheinen, den Türrahmen mit seiner großen Gestalt zu füllen, den guten Bekannten zuzunicken und über Wind und Wetter zu poltern.

Halle bewies er besondere Aufmerksamkeit. Vielleicht, weil Halle nie durch die Gaststube ging, ohne auf das Barometer zu klopfen und nach Wind und Wetter zu fragen. Maagensen, der in seiner Jugend ein eigenes Schiff geführt hatte, unterhielt sich mit Vorliebe über Windrichtung und Windstärke. Das tiefe Interesse für atmosphärische Verhältnisse bei einem so jungen Manne rief sein Wohlwollen wach.

Zwei Tage war Halle nun schon dort gewesen, immer aber war der Wind westlich und der Himmel sternenklar.

Er saß auf dem Schiffszimmerplatz und besprach zum soundsovielten Male die Aussichten mit dem jungen Olsen, der mit der Pfeife im Munde einen alten Schiffsrumpf teerte, der mit dem Bug nach oben auf zwei Böcken lag.

Der junge Olsen war Seemann; er war mit dem Verwalter Smarth an Bord gewesen, als das Schiff torpediert wurde. Sie kannten sich von Jugend auf; Smarth hatte gleich an ihn gedacht, als Halle sich ihm in der schwierigen Sache anvertraut hatte.

Jens Olsen trieb sich beschäftigungslos bei seinem Vater herum; Heuer war nicht zu bekommen, und auf dem Zimmerplatz war nichts zu tun. Darüber hatte er in einem Brief an Smarth geklagt, und darum wüßte Smarth, daß Olsen nichts zu tun hatte – außer gewisse Ausflüge in westlicher Richtung, mit dem Segelboot des Vaters, bei günstigem Winde. Er war der Mann, den Halle gebrauchen konnte, und an ihn hatte Smarth ihm einen Brief mitgegeben.

Olsen wollte die Fahrt für hundert Kronen wagen. Daß er sie schon häufig auf eigene Gefahr und Rechnung gemacht hatte, erzählte er nicht, daß er oft in dunklen Nächten mit seinem Segler draußen gelegen und Lebensmittel in ein Fischerboot gelöscht hatte, während der Scheinwerfer des Wachtschiffes über ihren Köpfen spielte und sie wegen des steilen Ufers, das zwischen ihnen lag, nicht finden konnte.

Halle hatte gleich zugeschlagen, und der junge Olsen bereute, daß er nicht das Doppelte verlangt hatte. Mit gleichgültiger Miene schob er die Scheine in seine Hosentasche; daß der Kauf begossen wurde, schien selbstverständlich zu sein, Halle mußte einen Frühschoppen über sich ergehen lassen und hatte den ganzen Tag Kopfschmerzen.

Halle weihte ihn in alles ein, was er und Onkel Per sich ausgedacht hatten. Frau Janssen hatte versprochen, als Halle sie beim Schuhmachermeister besuchte – bei Gott und allen Heiligen –, daß sie seine Mutter gleich nach ihrer Rückkehr aufsuchen und ihr Halles Bescheid bringen wollte: seine Mutter und Ib sollten jeden Nachmittag zur Möweninsel hinüberrudern, unter dem Vorwand, daß sie dort pflanzen wollten. Sie sollten häufig bis nach Dunkelwerden dort bleiben, damit der Zollbeamte und auch die anderen nichts Verdächtiges ahnten, wenn der Tag kam, an dem der Plan ins Werk gesetzt werden sollte. Am ersten Abend nach dem ersten April, wenn Neumond war, Landwind wehte und der Himmel sternenlos war, sollten sie den ganzen Abend und, wenn nötig, auch noch die Nacht auf der Insel bleiben; Halle würde dann in einem Boot mit Lebensmitteln kommen. Er hatte vergessen, ihnen sagen zu lassen, daß sie ein Versteck auf der Insel bereithalten sollten, aber darauf würden sie gewiß von selbst kommen.

 

»Einsteigen!« sagte Olsen.

Olsen nahm die Ruder und übergab Halle das Steuer, es galt sich von der Zementierung der Mole freizuhalten. Halle wunderte sich, daß die Ruder so lautlos gingen, bis er entdeckte, daß die Ruderschafte mit Werch umwickelt waren. Er hatte es die ganze Zeit gewußt, jetzt aber wurde es ihm erst richtig klar, daß sie sich auf eine gefahrvolle Fahrt begeben wollten; unwillkürlich ballte er die Hände und setzte sich besser zurecht.

Ein plötzliches Blaffen, ein Ruck im Mast, ein Knarren in der Takelage – sie waren in den Wind gekommen. Das Segel blähte sich, und das Boot legte sich so plötzlich auf die Seite, daß Halle fast von seinem Sitz heruntergefallen wäre. Und das Schiff schoß lustig über die Wogenköpfe.

Sie hatten den Wind scharf von achtern und flogen vorwärts. Das Boot schoß mit langen Sätzen über die Wellen. Ach, es war herrlich!

Halle folgte Olsens Blick und gewahrte einen Lichtpunkt vor ihnen. Es war die dänische Insel, und das Licht kam aus dem erleuchteten Fenster eines Gehöftes.

Olsen legte das Steuer um, und sie bekamen den Wind von Backbord. Das Boot legte sich so stark auf die Seite, daß die Reling das Wasser berührte. Halle mußte sich mit den Füßen gegen den Boden stemmen, um nicht von seinem Platze herunterzufallen. So ging es eine Weile.

Als sie in die Nähe der Insel gekommen waren, erhob Olsen sich und zog das Segel ein, während er das Steuer mit den Beinen hielt. Er reckte sich, um die Küste besser zu sehen, griff nach dem Bootshaken und stieß das Boot damit durch das seichte Wasser vorwärts, bis sie zu einer Landzunge kamen, die wie der Querschnitt einer Kiesgrube aussah.

Der Vordersteven scharrte gegen den steinigen Strand, während Olsen den Mast niederlegte. Halle bemerkte, daß er kürzer war, als die Maste eines Segelbootes zu sein pflegen.

So lagen sie eine Weile und lauschten der Brandung auf der anderen Seite und dem Winde, der um die Landzunge herumsauste.

»Na, los!« sagte Olsen schließlich.

Halle mußte weiter hinten im Boot Platz nehmen – er kam dabei auf eine Buttertonne zu sitzen –, und Olsen begann die Steuerbord-Persenning loszuschnüren.

Halle wurde angewiesen, sich der Backbord-Persenning anzunehmen. Es dauerte nicht lange, da war das Boot mit Mast und allem von zwei schweren, flachliegenden Persenningen bedeckt, die über die Reling herabhingen, so daß die Zipfel auf dem Wasser schwammen.

Halle saß darunter wie in einem niedrigen Zelt, mit hochgezogenen Knien, den Rücken gegen den Maststumpf gestemmt, dicht über seiner Stirn die untere Seite der Persenning, die nach Teer stank. Olsen saß mit dem Rücken gegen die Steuerbank, die Ruderpinne in Schulterhöhe; durch eine Öffnung konnte er den Kopf herausstecken und über das Wasser gucken. Durch den Spalt, wo die eine Persenning mit der anderen zusammenstieß, konnte Halle den hellen Schimmer seines Gesichtes erkennen. In der geteerten Decke war ein Ausschnitt für die Ruder. Olsen zeigte ihm, wie er auf Kommando das Ruder beilegen und schleunigst unter die Persenning ziehen sollte.

Wie sie so saßen und warteten, sah Halle, daß sich weit draußen auf dem Wasser ein Lichtstreifen bewegte. Die Küste hinter ihnen wurde sichtbar, mit Wald und Häusern, wie ein Lichtbild, das mitten zwischen lebendigen Wogen auf eine Leinwand geworfen wird, – darauf glitt der Scheinwerfer mit einem scharfen Lichtkegel über den Himmel und verschwand hinter der Landzunge.

Es war das deutsche Wachtschiff, das langsam in dem Fahrwasser, zwischen der Insel, wo sie lagen, und der deutschen Insel auf der anderen Seite der Seegrenze, kreuzte.

»Wie lange wollen wir warten?« Halle flüsterte unwillkürlich.

»Bis er die Biegung gemacht hat.«

»Biegung – wo?«

»Er muß die Insel im Nordwesten runden, um das dänische Territorium nicht zu berühren. Er braucht sonst eine Viertelstunde dazu.«

»Wie lange müssen wir rudern?«

»Mit dem Wind achtern ungefähr drei Viertelstunden. Wenn ich sage ›Ruder ein‹, muß es dalli gehen. Dann müssen wir uns ducken und die Persenning glätten, damit man keinen Buckel sieht.«

Olsen sagte »Ruder ein«, und Halle machte die Probe, einmal, zweimal; dann klappte es. Das Ruder rasselte über die Ruderbank hinter ihm.

Wieder glitt der Scheinwerfer über sie hin; Olsen maß die Entfernung zwischen dem Kopf der Landzunge und dem offenen Fahrwasser.

»Los!« flüsterte er.

Halle fühlte, wie die Aufregung sich auch seiner bemächtigte. Er legte sein Ruder aus und hob die schwere Persenning, so daß er der Bewegung der Ruderschaufel folgen konnte.

Im selben Augenblick aber fiel das Licht blendend auf das Fahrwasser.

Es machte den Eindruck, als ob die Wogen wetteiferten, um in den Lichtfächer zu gelangen. Sie tummelten sich, krümmten die Rücken, schäumten und traten sich gegenseitig auf die Schleppe des zurückströmenden Wassers, das mit Schaumflecken gemustert war; der Lichtstreifen schwankte, als wüßte er nicht, nach welcher Seite er sich wenden sollte.

»Ducken!«

Halle wußte nicht, ob es ihm gelungen war, das Ruder einzuziehen, bevor der Strahl sie traf. Er duckte sich und zog die Persenning glatt; er wußte nicht, war es vorher oder nachher gewesen, daß er durch den Spalt das Blendlicht auf Olsens Gesicht gesehen hatte? Nur einen Schimmer, dann war nichts anderes als der Kopf von Olsens Südwester zu sehen, der schimmernd vor Nässe mit der Persenning zusammenfloß.

Das Licht verweilte – Halle hielt den Atem an. Ihm war, als ob er aufgespießt würde. Was würde geschehen? Ein Dröhnen – das Zischen einer Kugel über ihren Köpfen?

Endlich wich das Licht über dem Wasser und war fort.

»Können Sie das Wachtschiff sehen?« fragte Halle, der seinen Kopf nicht heben konnte.

»Es liegt an der Spitze der Landzunge, das Licht geht nach Nordosten; es sucht etwas.«

Sie ruderten einige Minuten schweigend. Der Lichtkegel rührte sich nicht; plötzlich aber glitt das Wachtschiff langsam nach Westen.

Es blieben ihnen zehn Minuten, bevor das Schiff westlich um den Hügelkamm der Insel herumgelangt war und der Sucher sie wieder finden konnte.

Es war harte Arbeit, das Boot war schwer geladen und lag tief. Der Schweiß rann Halle von der Stirn über die Schläfen das Rückgrat hinunter.

Jetzt waren sie in der Mitte der Fahrstraße. Eine mächtige Woge kam schräg von Backbord und hob sie auf ihren Rücken. Es ging auf und nieder, die schlimmste Rutschbahn, die er je mitgemacht hatte. Der Wind zerrte an Persenning und Rudern. Ihm schwindelte, in seinem Magen begann es zu murren; wenn er nur nicht seekrank wurde! Er biß die Zähne zusammen und ruderte, was er konnte.

Sie hatten nichts, wonach sie steuern konnten. Hätte der Scheinwerfer, der über ihren Köpfen hinglitt, ohne sie zu erreichen, ihnen nicht als Blinkfeuer gedient, wäre es mehr als gewagt gewesen, auf die Insel loszusteuern, denn Strom und Wind standen geradeswegs auf den steinigen Strand zu.

Plötzlich drehte das Boot nach Steuerbord! Es war so schnell gegangen, daß Halle gegen die Persenning taumelte, die sich dadurch verschob. Olsen hatte kurz vor einem Riff, das der Scheinwerfer ihm im letzten Augenblick gezeigt hatte, das Steuer gedreht.

Sie hörten, wie das Wasser gegen das Riff anschlug, der Schaum spritzte so hoch, daß er bis in den Lichtkegel über ihren Köpfen gelangte und wie Kristallstaub glitzerte.

Sie rundeten eine Landzunge, wo die Wellen sich brachen, als ob sich ein Krater auf dem Meeresgrund öffnete, und glitten darauf in ruhigeres Wasser.

Sie befanden sich jetzt auf deutschem Boden.

 

Olsen zog die Ruder ein und rollte die Persenningen zusammen, während Halle mit dem Bootshaken nach vorn geschickt wurde, um beim Licht des Scheinwerfers auf steinigen Boden und Strand zu achten. Was hätten wir ohne den Scheinwerfer anfangen sollen, dachte er bei sich.

Der Mast wurde aufgerichtet, während sie auf den Wellen schaukelten. Das Segel wurde gesetzt und das Steuer umgelegt. Sie bekamen den Wind jetzt von Backbord, und Halle war des Ölzeuges froh, als er wieder auf seinem früheren Platz saß, mit dem Rücken gegen die Reling. Das Wasser platschte und strömte, daß die Bootswand zitterte. Ein seltsamer Gedanke, daß die dünne Wand, gegen die er seinen Rücken lehnte, die einzige Scheiden wand zwischen ihm und dem Tod war!

Wenn ihr Boot in die Hände des Wachtschiffes fiel, wurden sie wahrscheinlich in die nächste Stadt ins Gefängnis geschickt und verhört; vielleicht wurden sogar Mutter und Ib als Zeugen geholt, wenn man erfuhr, wer er war.

»Olsen –« er wandte sich an den Lichtfleck im Nebel, der Olsens Gesicht war, »wenn etwas geschieht« – er zögerte, um seiner Stimme Herr zu werden.

»Was?«

»Ich meine, wenn wir abgefangen werden, dann trage ich die ganze Schuld.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wissen nur, daß ich Sie mit einem Gruß von Ihrem Freund Smarth aufgesucht und Ihnen hundert Kronen versprochen habe, wenn Sie mich mit Lebensmitteln zu der Insel hinüberschmuggeln, wo mein Bruder pflanzt.«

»Was sollte ich sonst wissen?«

»Sie wissen nichts davon, daß ich Frau Janssen mit dem Bescheid hinübergeschickt habe, daß meine Mutter und mein Bruder mich erwarten. Versprechen Sie mir das?«

»Natürlich.«

Während einiger Minuten war der Scheinwerfer nicht dagewesen. Jetzt tanzte er über das Fahrwasser, keine fünfzig Meter von ihnen entfernt.

Olsen drehte hart in den Wind. Sie waren schneller vorwärtsgekommen, als er berechnet hatte; beim Lichtschein sah er, daß sie zur Südwestspitze der Landzunge gelangt waren, während das Wachtschiff gleichzeitig die Insel im Norden gerundet hatte, – oder –

Oder hatte es kehrtgemacht und kam jetzt auf dieser Seite durch den Sund?

Wenn das der Fall war, war es unmöglich, zurückzukreuzen, unmöglich, weiter zu rudern, mit dem Schiff auf den Fersen. Dann gab es nur einen Ausweg: so nah wie möglich an den Strand heranzusteuern, die günstigste Stelle auszusuchen, wo sie unter der Persenning stilliegen konnten, auf die Gefahr hin, daß sie auf dem steinigen Grund zerschellten.

Die Sekunden waren kostbar, während sie mit klapperndem Segel, Wind und Strom von Backbord, weiter und weiter in die Lichtbahn hineintrieben.

Olsen erhob sich und reckte sich, konnte aber nicht um die Landzunge herumsehen. Darauf legte er das Steuer um. Das Segel blähte sich, das Boot legte sich auf die Seite und glitt zu Halles Entsetzen geradeswegs in die Lichtbahn hinein. Halle zitterte vor Spannung! Was fiel Olsen ein?

Einige Bootslängen, und es war Olsen gelungen, einen Ausguck zu bekommen.

Dort drüben lag das Schiff, dort drüben war die Quelle, aus der der Lichtkegel über Himmel und Meer flutete. Halle sah, wie er verkürzt wurde, zu einem Lichtfleck über dem Horizont im Norden einschrumpfte und auf der anderen Seite des dunklen Rumpfes wiedererstand, sich wie erwachend reckte, wieder zu einem Kegel wuchs, das Land im Westen mit seinen Hügeln, Wäldern und weißen Häusern zum Leben erweckend.

Halle saß mit geblendeten Augen da. Plötzlich erreichte eine glitzernde Linie, die vor dem Festland lag, sein Bewußtsein. Merkte er die Strahlen, die unsichtbaren, rätselhaften, die wir mit den Sinnen nicht wahrnehmen können, erreichten ihn die Sehnsuchtswogen von zwei Seelen, die ihr Leben nach dem seinen ausstreckten?

Es war die Möweninsel, seine Heimat, die der Scheinwerfer auf seinem Wege mit einer glitzernden Linie streifte.

»Ja, ja, ich komme.« Seine Augen füllten sich mit Tränen, während er dem Flüstern seines Herzens lauschte.

»Ducken!«

Es glückte Olsen, das Steuer umzulegen.

»Er sucht uns ab.«

Halle schloß die Augen und hielt den Atem an –

Er fühlte das Licht auf seinen geschlossenen Lidern; es schien auf ihnen zu verweilen, aber vielleicht war es nur Einbildung. Er öffnete die Augen, und Olsens Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf.

»Wir müssen wenden!« sagte Olsen und fügte nach einer Weile hinzu: »Man sollte glauben, er wäre hinter uns her.«

Halle wußte nichts zu sagen.

»Sind Sie sich klar darüber, daß wir nur eine Chance haben?« fragte er kurz darauf.

Halle wußte nicht, was er antworten sollte.

»Sind Ihre Papiere in Ordnung?«

»Papiere?«

»Können Sie es darauf ankommen lassen, daß er uns anhält? Dann können wir die Dosen über Bord werfen – und auch das Steuer und die Ruder – und sagen, daß wir südlich nach Faaborg kreuzten, um dem Kaufmann dort Waren zu bringen; dabei hätten wir das Steuer verloren und wären aus dem Kurs geraten.«

»Was geschieht dann?«

»Dann behält er die Lebensmittel, untersucht das Boot bis auf die Planken und uns bis auf die Haut und läßt uns laufen, wenn unsere Papiere in Ordnung sind. Ich habe mein Seemannsbuch, das hat ein Seemann immer bei sich, und das ist in Ordnung. Wie aber steht's mit Ihnen?«

»Sie schicken mich in den Schützengraben!« Und tonlos fügte er hinzu: »Meine Mutter überlebt es nicht.«

»Ducken!«

Auch diesmal verweilte das Licht nicht auf ihnen; je näher das Schiff kam, desto gefährlicher aber würde es werden. Das sah Halle ein.

Olsen schien über etwas zu grübeln.

»Sehen Sie nach der Uhr« – sagte Olsen –, »wenn das Licht wiederkommt.«

Halle wartete auf den Scheinwerfer, mit der Uhr in der Hand. Sie zeigte kurz vor elf.

»Vor zwölf können wir nicht drüben sein, im günstigsten Falle.«

»Na, und?«

»Wir müssen doch auch zurück. Segeln können wir nicht bei dem Gegenwind, wir müssen rudern, gegen Strom und Wind an. Haben Sie sich das überlegt?«

»Wie lange müssen wir rudern?«

»An drei bis vier Stunden.«

»Die Nacht ist lang,« meinte Halle keck.

»Haben Sie Kräfte? Es ist harte Arbeit.«

Erst jetzt spürte Halle, wie müde er war. Die Spannung wich, und Schwere legte sich über Schultern und Lenden; die Glieder schmerzten ihn –

»Das fehlte gerade!« sagte er und nahm sich mit Gewalt zusammen. »Wenn wir erst auf der Insel sind, können wir ja auch etwas essen.«

»Wenn das Schiff aber weiter hier herumkreuzt und wir nicht von der Stelle kommen – und Sie zusammenklappen? Nee, wir müssen es lieber aufgeben. Wir haben Pech heute, da ist nichts zu wollen. Jetzt gilt's, sich aus der Klemme zu ziehen, bevor es zu spät ist.«

Während er sprach, hatte er auf die Küste achtgegeben; sie waren ihr so nah gekommen, daß sie die Dünen und Steine am Strande unterscheiden konnten. Er spähte nach einer geeigneten Stelle aus, so gut er es vermochte, denn er mußte auch das Meer im Auge behalten – die Wellen konnten das Boot in dem seichten Wasser jeden Augenblick auf Grund werfen. Jedesmal, wenn das Licht kam, zog er die Ruder ein und duckte sich beizeiten; das Schiff aber kam näher, und das Licht wurde mit jedem Male stärker. Bald beruhte ihre Rettung nur darauf, daß die Wache an Bord nicht ordentlich achtgab.

Was war das? – Das Boot drehte und legte sich auf die Seite, so daß das Wasser über die Persenning schlug. Gleich neben der Steuerbord-Reling sah Halle eine blanke Fläche – er konnte sie fast mit der Hand erreichen –, die von allen Seiten von Wasser bespült wurde; im selben Augenblick begriff er, daß es ein Riff war – und daß das Boot daraufgelaufen war.

»Ducken!«

Bevor Halle sich besinnen konnte, wurden sie vom Licht getroffen. Da das Boot sich gedreht hatte, bekam er den Lichtschein zum erstenmal in die Augen.

Er schloß die Augen und meinte den Stempelschlag der Schiffsmaschine zu hören; aber es war unmöglich; der Wind kam von der anderen Seite.

Kaum war das Licht verschwunden, als Olsen seinen Ölmantel herunterriß und ihn zu einem Bündel zusammenballte; er riß die Persenning zur Seite, schob Halle nach achtern, gab ihm die Ruder und sagte ihm, er sollte dafür sorgen, daß das Boot nicht auf Grund lief.

Er legte sich an der Stelle, wo Halle gesessen hatte, auf die Knie, rettete die Pakete vor dem eindringenden Wasser, das bereits bis ans Kielbrett ging, tastete sich bis zum Leck vorn am Steuerbordbug vorwärts und preßte das Bündel, das er aus dem Ölmantel gemacht hatte, gegen das Loch.

Das Licht kam wieder –

Halle rief Olsen eine Warnung zu, zog die Ruder ein und breitete die eine Persenning aus, wahrend Olsen den Fuß gegen das Bündel stemmte, sich auf der Ruderbank so klein wie möglich machte und die andere Persenning im letzten Augenblick über sich zog.

Der Scheinwerfer war über ihnen, starker als je zuvor. Von unten schlich das Wasser sich über sie.

Halle begann jetzt die Gefahr in ihrem vollen Umfange zu erfassen; er schloß die Augen vor der Lage, der Gedanke an seine Mutter und Ib lag wie ein Gebet in seinem Gemüt.

Das Licht glitt wieder fort.

Sie schaukelten zwischen dem Strande, dem sie sich des Steingrundes wegen nicht zu nähern wagten, der doch ihr Versteck sein sollte, und dem Fahrwasser, dem sie sich des Scheinwerfers wegen fernhalten mußten.

Halle begriff, daß jetzt jede Hoffnung verloren sei.

Er würde Mutter und Ib nicht wiedersehen, er würde ihnen keine Hilfe bringen. Er stellte sich vor, wie sie bebend vor Kälte und Angst während der langen Nachtstunden auf der kahlen Insel standen, in den zornigen Wind hinausspähend, dicht aneinandergedrängt, um sich warmzuhalten, nach ihm ausspähend, der diese Lage verschuldet hatte. Aus gutem, aus mitleidendem Herzen, aber doch zum Unglück. Es war also wahr, was er einmal gelesen hatte: daß Dummheit größeres Unglück in der Welt anrichtet als Bosheit.

Vielleicht würde Mutters Gesundheit heute nacht einen Knacks bekommen – und Ib, dessen Lungen schon von vornherein nicht kräftig waren! Mein Gott, warum fiel ihm das erst jetzt ein? Und warum hatte Onkel Per, der doch soviel älter war, seine Zustimmung gegeben? Er sah das weiße Gesicht seiner Mutter, ihre weitgeöffneten, angstvollen Augen, den zusammengepreßten Mund, der bei dem Gedanken bebte, was ihm in diesem Augenblick zustoßen mochte. Vielleicht durfte sie ihn nicht einmal sehen, bevor er in den Schützengraben geschickt wurde, der ihr ihren Mann genommen hatte und jetzt auch die Arme nach ihm ausstreckte.

Halle schöpfte und schöpfte, obgleich seine Hand wie gelähmt war und der Arm ihn schmerzte, daß er ihn fast nicht mehr heben konnte.

Olsen hatte seinen Entschluß gefaßt.

Das Wachtschiff war jetzt zwischen die Inseln gelangt, und darum wollte er versuchen, von der deutschen Insel fortzukommen. Er hoffte, daß Halles Kräfte zum Schöpfen ausreichen würden, während er selbst gegen Wind und Strom zum Fahrwasser und der dänischen Insel hinüberruderte; dort wollte er unter der Landzunge Schutz suchen und das Boot aufs Land ziehen.

Er beobachtete Halle. Die mechanischen Bewegungen des Burschen gefielen ihm nicht, dazu sein anhaltendes Schweigen, nachdem er die ganze Zeit geschwatzt hatte.

»Wie geht's?« rief Olsen schließlich.

Halle kam zu sich, richtete sich auf und hielt einen Augenblick mit Schöpfen inne.

»Danke, gut!« sagte er und schöpfte weiter.

Ob ich wohl sterben muß, dachte Halle und starrte in die schwache Dämmerung über dem Wogenkamm.

»Vater« – flüsterte er in die Dunkelheit hinein –, »hilf uns! Du bist ja nicht tot, vor Gott ist niemand tot.«

Er starrte auf einen Schaumkopf, der über den Wellenkamm rollte und in Fetzen zerteilt wurde, die über die glatte Wellenseite herabglitten, ausgelöscht wurden und verschwanden.

»Warum willst du mich auslöschen?

Schone mich Mutters wegen! Laß mich leben – und ich will den Menschen ein Beispiel sein, will nur das Gute tun, wie ich heute nacht mein Leben für meine Lieben gewagt habe.

Ich verlange es von dir im Namen dessen, der über die Wogen schritt, als seine Jünger am Ertrinken waren.

Jesus, hilf du mir! Mutters wegen, Ibs wegen, meiner Jugend wegen!«

Es wurde hell über dem Wasser – sieh, etwas kam auf ihn zu – er streckte die Arme nach dem aus, der in der Herrlichkeit des Lichtes über den Wassern zu ihm kam –

»Mutter – Ib!«

»Ducken!«

Halle duckte sich nicht. Er lag über der Persenning, mit ausgebreiteten Armen, ein Lächeln in seinem weißen Gesicht, die Hand um die Schöpfkelle gekrampft.

Das Wachtschiff lag ganz hinten zwischen den Inseln, Olsen meinte, daß es die Biegung erreicht hatte. Wenn man sie auch in ihrem Boot erblickte, würden sie dennoch die Landzunge auf der dänischen Insel erreicht haben, bevor das Schiff sie eingeholt hätte, wenn dies nicht geschehen wäre!

Olsen hatte es schon lange gefürchtet. Der Bursche hatte so seltsam vor sich hin geflüstert, während er schöpfte.

Er zog die Ruder ein und beugte sich über Halle. Er sah das Lächeln auf seinem Gesicht und versuchte seinen Arm zu heben. Der Arm folgte ihm willig, die Hand aber wollte die Schöpfkelle nicht hergeben.

Olsen strich ihm über das blonde Haar, das ihm in die Stirn hing, der Südwester war ihm in den Nacken geglitten.

Halle zitterte vor Kälte und sah sich mit ungeheurem Staunen um.

»Schöpfen Sie, was Sie können,« tönte es ihm ins Ohr. Der Befehl brachte ihn zur Besinnung.

Schweigend kämpften sie um ihr Leben, Halle vor Erschöpfung zitternd, Olsen mit zusammengebissenen Zähnen, ohne einen Zoll von der Kraft zu vergeuden, die von den Stößen der Herzpumpe durch seine Arme in die Ruderschaufeln ging, die ihr beider Leben an Land bringen sollten.

Nach wenigen Minuten glitten sie um die Landzunge herum. Olsen ruderte mit seinen letzten Kräften das Boot auf Grund. Sie entleerten das Boot von seiner Ladung und schleppten die Lebensmittel mit Mühe so weit aufs Land, daß sie trocken lagen; einen Anker hatten sie nicht.

 

Wie ungerecht und traurig Halle es auch fand, es war wirklich so: Liebe konnte Torheit nicht aufwiegen. Frau Janssen hatte ihr Versprechen gehalten, und seine Mutter und Ib hatten eine furchtbare Nacht verbracht, am Strande der flachen Insel auf und nieder wandernd, bis der Morgen graute, in Nacht und Wind hinausspähend; aber es war kein Boot gekommen.

Ib beschrieb es in einem Brief, den Halle zwei Tage nach seiner Heimkehr empfing, während er mit einer schweren Erkältung zu Bett lag.

Vor Kälte und Erschöpfung zitternd, war Halle an jenem Morgen ins Hotel zurückgekehrt; in der Wirtsstube hatte ihn ein eiskalter, musternder Blick aus Maagensens Augen getroffen. »Kaffee für Nummer 5!« hatte der Wirt durch die offene Tür in die Küche gerufen. Wie sah der nette junge Mann aus, der sich so lebhaft für metereologische Verhältnisse interessierte, daß es einem alten Seebären das Herz erwärmt hatte! Die ganze Nacht war er nicht zu Hause gewesen! Halle war zu einer Nummer herabgesunken.

Das erste, was er tat, als er auf sein Zimmer kam, war, seiner Mutter zu schreiben, damit sie wußte, daß er wohlbehalten an Land sei. Er schrieb, daß er auf einer Segelfahrt gewesen, daß das Boot auf ein Riff gestoßen und leck geworden sei, so daß man schnellstens die nächste Küste aufsuchen mußte. Mehr wagte er nicht zu verraten.

Diesen Brief nun hatte Ib umgehend beantwortet. Er erzählte von dem Boot, das sie von der Möweninsel zurückführen sollte und das sie vergebens erwartet hätten. Halle verstand den geheimen Sinn. Die Schrift verschwamm ihm vor den Augen, während er las, was sie für Angst ausgestanden hatten, während sie warteten.

Zehn Tage lang hatte Halle krank gelegen. Influenza, sagte Doktor Lind. Lungenentzündung, flüsterte Tante Nette; sie kannte den alten Arzt und wußte, daß er ungern seine Patienten erschreckte.

Es wurde Frühling, während Halle krank lag. Der Himmel blaute zu ihm herein, über dem Dach des Speichers zogen weiße, unruhige Wolken. In der Linde, deren Zweige mit blanken, geschwellten Knospen vor seinem Fenster auf und nieder wippten, saß der Star auf seinem alten Platz und knisterte und flötete in der Sonne.

Line stand in frisch geplättetem Staat und guckte vom Korridor, wo sie kehrte, durch die offen stehende Tür zu ihm herein, rot und weiß und rundlich, während ihre Haubenbänder im Zugwind flatterten.

»Wie geht es Ihnen, Herr Halle?« fragte sie mit einer Stimme, als ob er im Sterben läge.

Nach dem Frühstück kam Minna; sie brachte immer etwas Gutes mit, entweder ihre eigene feine Schokolade oder etwas, was der Verwalter ihr vom Speicher mitgegeben hatte.

Eines Tages hörte Halle durch sein offenes Fenster, daß sie über den Hof ging und daß der Verwalter aus dem Lagerschuppen kam und sie ansprach. Er sah Smarth deutlich vor sich, das farblose Haar, das über der eckigen Stirn hochgekämmt war, den hohen Kragen, der ihm das Blut in sein langes Gesicht trieb, die abstehenden Ohren und das angenehme Lächeln. Worte konnte Halle nicht verstehen, aber er hörte Minnas Lachen.

Es sah Minna nicht ähnlich, so entgegenkommend zu sein, sonst pflegte das Personal gar nicht für sie zu existieren: jetzt hatte sie schon fünf Minuten gestanden und sich mit dem Verwalter unterhalten.

Eines Tages brachte Minna ihm ein Veilchenbukett von Fräulein Adele.

»Sie läßt grüßen und gute Besserung wünschen; sie hat die Blumen selbst gepflückt.«

Als Halle wieder gesund war, mußte er sich beeilen, das Versäumte nachzuholen. In knapp zwei Monaten sollte er sein Examen machen. Er hatte keine Zeit, den Frühling zu genießen, keine Zeit, den Verwalter zu besuchen, keine Zeit, mit Minna zu schwatzen.

Halle büffelte in der Dämmerstunde. Vom Fenster aus, das halb geöffnet war, kam der Frühling leise zu ihm hereingeschlichen und legte sich auf sein Gemüt. Er hatte das Kinn in die Hand gestützt und träumte. Mit einem Ruck riß er sich los und versenkte sich in den französischen Aufsatz, bald aber war er wieder in Träumerei versunken.

Nein, so ging es nicht weiter. Außer dem französischen Aufsatz hatte er noch trigonometrische Aufgaben zu machen und vierzig Seiten Weltgeschichte durchzulesen.

Er nahm sein Aufsatzheft und ging über den Gang und klopfte an Minnas und Fräulein Adeles Wohnzimmertür. Vor kurzem hatte er leichte Schritte auf der Treppe gehört, daß es Minnas nicht waren, wußte er, sie ging langsamer und schwerer, obgleich sie soviel jünger war als ihre Gouvernante.

Adele saß in der Sofaecke mit einem Buch; sie hatte es sich gemütlich gemacht, die Füße hochgezogen und die Schreibtischlampe auf dem Nähtisch zu sich herangezogen.

»Entrez!«

Die Füße flogen vom Sofa. Sie sah Halle erstaunt, etwas scheu an. Er war nur ein vereinzeltes Mal hereingekommen, wenn Minna ihn mit sich gezogen hatte.

Ah, dieses Parfüm – ihr ganzes fremdartiges Wesen schien sich darin zu äußern.

»Allons!« sagte sie und glättete die Seiten.

Dabei streifte ihre Hand die seine, nur so wenig, daß er ihre Wärme spürte. Klein, schmal, zart gewölbt, mit spitzen Fingern und klaren, schlanken Nägeln lag sie im Lampenlicht auf der dunklen Tischdecke, mit einem rosigen Schein, wie reife Frucht.

Wie war diese Hand schön – er hatte es noch nie gesehen. Er hatte die größte Lust, seine Lippen darauf zu drücken.

Sie zog ihre Hand zurück und beugte den Kopf, dessen Haargekräusel seine Backe berührt hatte, etwas zur Seite.

Während er ihr die Aufgabe erklärte, hörte sie ihm mit halb geöffneten Lippen zu, während ihr Blick aufmerksam in dem seinen ruhte, bald blau und verschleiert, bald tiefdunkel. Kaum war er fertig, als sie mit einem kurzen, energischen »Bon« die Augen auf die Seiten heftete und nach einem Augenblick der Überlegung zu schreiben begann.

Als der Aufsatz fertig war, unterhielten sie sich, lachten zusammen; er war sehr erstaunt über sie und konnte es nicht verbergen.

Warum er sie denn mit so großen, runden Augen ansähe – sie zeigte ihm, wie rund sie waren, hob ihre Brauen und gab das Maß mit den Fingern an. Weil – er lachte und sie stimmte mit ein, ohne den Blick von ihm zu wenden –, weil sie bald ein Jahr lang Tür an Tür gewohnt und jeden Tag am selben Tisch gegessen hätten, und dabei wäre es ihm, als ob er heute zum erstenmal mit ihr gesprochen habe. Sie sei viel lustiger, viel – er hielt inne und errötete –

»Jünger?« fragte sie und sah schelmisch von der Seite zu ihm auf.

»Eh bien – oui!«

Aber auch anders.

Ob er sagen dürfe, was er von ihr gedacht habe?

»Was denn?«

Sie rückte ihm unwillkürlich näher, blieb aber doch unnahbar, sich unwillkürlich gegen das Interesse wehrend, das sie für die Ansicht dieses naiven Knaben empfand.

Er erzählte ihr, daß ihre Augen ihm so geheimnisvoll erschienen seien, er hätte geglaubt, daß ein Roman darin zu lesen sei, obgleich sie so klar und schön wären.

Ob er sich denn jetzt besser auf sie verstehe? Und sie blitzte ihn ausgelassen an.

Ein wenig – obgleich – aber das konnte er nicht sagen.

Plötzlich legte sie sich zurück, schloß die Augen, als ob sie sich sammeln wollte, und als sie sie wieder öffnete, hatten sie einen ganz anderen Ausdruck, einen ernsten, forschenden:

»Was wollten Sie Ostern da drüben – wie hieß es doch noch?«

Sie hatte also begriffen, daß die ganze Geschichte mit den Kopfschmerzen und dem Landaufenthalt nur Komödie gewesen war. Er war aufs äußerste erstaunt und sah sie voller Bewunderung an. Nachdem er ihr das Versprechen abgenommen hatte, nichts zu verraten, erzählte er ihr alles, wie es frisch und warm in ihm lebte, von seiner Sehnsucht nach Mutter und Ib, von der Not, die sie litten, wie er ihnen hatte helfen wollen, von der Bootfahrt und der Gefahr, – von allem erzählte er ihr, nur nicht von dem Gelübde, das er Gott gegeben hatte.

Sie saß unbeweglich, ohne etwas zu sagen; mit einem wehen, fast mütterlichen Zug um den Mund nahm sie alles in sich auf, erlebte es mit dem dunklen Blick ihrer Augen. Als er geendet hatte, war es ihm, als ob sie ihn um den Kopf fassen und auf die Stirn küssen wollte. Aber sie tat es nicht, sie sah ihn nur seltsam bewegt an, atmete tief und strich sich mit der Hand über die Brust, als ob die Bluse ihr zu eng sei.

»Hatten Sie sich so etwas gedacht?« fragte er.

Sie nickte mit abgewandtem Gesicht.

»Haben Sie mir deshalb die Veilchen geschickt?« flüsterte er.

Sie nickte und sah ihn noch immer nicht an.

»Dank!«

Nach einer Weile fügte er leise hinzu:

»Ich habe es noch keiner Menschenseele erzählt: Jetzt sind Sie mein bester Freund. Wollen Sie das sein?«

Sie hatte den Kopf gegen das Sofa gelehnt und hielt die Hände im Schoß gefaltet. Ein Zucken ging über ihr Gesicht. Langsam richtete sie den Blick auf ihn, seltsam fern, wie in einem Traum. Plötzlich aber wurde ihr Auge wieder blank, und ihre weiche, warme Hand strich ihm über die Backe.

»So, Halle,« sie richtete sich auf, »es ist spät geworden. Sie müssen jetzt gehen.«

Halle – nicht Monsieur! – jubelte es in seinem Herzen.

Er griff nach ihrer Hand – die Hand, die seine Backe berührt hatte – und küßte sie. Wieder hatte er das Gefühl, als ob sie seinen Kopf umfassen wollte; sie sah ihn aber nur von der Seite an und flüsterte gute Nacht.

Zwischen Halle und Fräulein Adele hatte sich ein Freundschaftsverhältnis entsponnen. Alle sahen es und durften es gern sehen. Anfangs hatte Tante Nette über ihrer Brille etwas bedenklich geblickt; da der Unterricht aber auf Fräulein Adeles Vorschlag ebenso häufig an dem kleinen runden Tisch im Erker stattfand – sie auf dem roten Damastsessel vor der Etagere, er in der Sofaecke daneben – wie in Adeles Zimmer, so beruhigte sie sich und gab auch gelegentlich ihren Senf dazu, wenn ein Satz zu ihrem Fensterplatz hinaufgelangte, wo sie nach dem Mittagessen ihr Schläfchen hielt.

Minna war nicht im geringsten eifersüchtig, weder auf Halle Adeles wegen, der sie sehr zugetan war – alle hatten sie gern –, noch auf Adele Halles wegen. Letzteres enttäuschte ihn ein wenig, denn noch war ein Rest von der Knabenverliebtheit in ihm.

Nur eine, die die neue Freundschaft sah, konnte den Anblick nicht ertragen. Line. Sie hatte sie gesehen, bevor jemand anders sie geahnt, und hatte sich jeden Abend vor Enttäuschung und Wut in den Schlaf geweint. Sie raste, weil sie so dumm gewesen war, sich in den eingebildeten Bengel zu verlieben, und weil das freche französische Frauenzimmer, die viel zu alt für ihn war, ihn ihr genommen hatte. Wäre die Person nicht gewesen, hätte sie ihn schließlich doch noch gekriegt. Sie kannte die Männer!

Das Examen kam immer näher, in drei Wochen sollte das schriftliche beginnen. Da geschah es, daß das Schicksal ihm den Boden unter den Füßen fortzog. Und er brach zusammen.

Es kam ein Brief von Ib, der fast unleserlich war, Tränen hatten ihn genäßt, so daß alle Worte ineinanderflossen.

»Mutter ist tot.«

Sie hatte sich in jener Nacht erkältet, wie Halle. Nur Ib, der Schwache, war verschont geblieben. Sie hatte gehustet, ein wenig gefiebert und nicht weiter darauf geachtet. Der Doktor würde sie nur ins Bett stecken, sie aber wußte besser, was ihr not täte, wußte, wie zäh ihr gebrechlicher Körper sei. Sie habe sich schon bei schlimmeren Krankheiten ohne ärztliche Hilfe und Krankenlager geholfen. Wer sollte denn das Haus besorgen und ihnen zu essen geben, wenn sie zu Bett läge? Bis sie eines Tages im Garten zusammenbrach. Es war ein stiller Frühlingsabend, klar und kühl. Sie hatte große Wäsche gehabt; das weiße Linnen lag zum Trocknen auf dem sonnigen Rasen; bevor der Tau fiel, sollte es hereingeschafft werden. Ib half ihr, es im Korbe zu sammeln. Während sie über die Wäsche gebeugt stand, fiel sie um. Ib trug sie ins Haus. Sie hatte das Bewußtsein verloren.

Hansen telephonierte vom Krug aus an den Arzt. Hansen war ein alter Mann, der seine nächsten Anverwandten hatte sterben sehen. Und in Frau Halfdanns Gesicht war ein Ausdruck – ach, du lieber Gott! »Kommen Sie so schnell wie möglich« – er hatte die Worte kaum herausbringen können.

Eine halbe Stunde später war der Arzt dagewesen. Sie hatte hohes Fieber. Er hielt das schmale, weiße Handgelenk umfaßt, während er die zitternden Lider beobachtete.

»Du lieber Gott!« seufzte der alte Arzt, mit feuchten Augen. Er hatte sie in den Tagen des Glückes gekannt – und er erlebte es nicht zum ersten Male, daß eine starke Seele einen schwachen Körper sprengte.

Drei Tage später starb sie, mit Ibs Hand in der ihren. Er meinte bestimmt, daß sie bis zum letzten Augenblick bei Bewußtsein gewesen sei und Halles Namen genannt hatte, obgleich kein Laut über ihre Lippen gekommen war.

Der Doktor aber schüttelte den Kopf dazu.

Ib, der die heimliche Angst seiner Mutter nicht kannte, schrieb offen, wie lange sie schon krank gewesen und gegen ihre Krankheit angekämpft hatte.

Wieder zeigte es sich, daß der gute Zweck Torheit nicht aufwiegt; nicht einmal, was Gedankenlosigkeit bloßlegt, vermag er zu bemänteln. Ib mußte sich Luft schaffen, mußte Halle gegenüber die bitteren Selbstvorwürfe bekennen, weil er nicht hinter ihrem Rücken zum Arzt geschickt hatte; seit jener Nacht um Ostern hatte sie gekränkelt; hätte er es getan, würde sie vielleicht noch am Leben sein.

Ib klagte sich in seiner Not selbst an – und traf Halle ins tiefste Herz. Mein ist die Schuld, sagte sich Halle. Was nützte es, daß ich es aus Liebe tat? Ich allein trage die Schuld an Mutters Tod.

Er legte sich ins Bett, wollte niemanden sehen, nicht essen, wollte sterben.

Er dachte an sein Gelübde, als er in dem sinkenden Boot um sein Leben flehte. Aber er hatte ja nicht nur für sich, auch für seine Mutter hatte er gefleht. Warum schontest du mich, Gott, haderte er, wenn du mir dies antun wolltest?

Es war ihm, als ob er in ein böses Lachen hineinstarrte. Er hatte sein Gelübde nicht als etwas Besonderes gerechnet – das war der Fehler gewesen. Hin und wieder war es ihm wohl wie eine ferne Erinnerung durch den Kopf gegangen, – aber ohne Wirklichkeit, ohne Ernst.

Vor Gott aber war ein Gelübde ernst, ebenso ernst wie die Stunde, in der es gegeben wurde, man durfte es nie vergessen, haftete dafür mit seinem Leben.

Ib und Halle, sie beide hatten ihr bitteres Weh zu tragen, das die Liebe zu ihr, die ihnen das Leben gegeben, verursachte.

Onkel Per saß an seinem Bett und erzählte ihm von seiner Mutter, als sie ein kleines Mädchen gewesen und er mit ihr in Museen und Galerien gegangen war, er erzählte, bis seine großen runden Augen voller Tränen standen. Pers allzu weiches Herz aber machte sein Weh fast noch schlimmer.

Auch Tante Nettens erquickende Getränke und Speisen konnten ihn nicht stärken, nicht ihre tröstenden Worte, daß er dem Schmerz wie ein Mann begegnen müsse und daß seine Mutter jetzt mit ihrem geliebten Mann vereint sei: Halle konnte sie nicht ertragen.

Onkel Jonas kam, mit der »Weltkultur« im Arm, acht stattlichen Bänden, die er Halle nach bestandenem Examen hatte überreichen wollen, die aber jetzt besseren Nutzen tun würden, wie er meinte. Aber auch sie nützten nichts, obgleich Halle sie sich schon solange gewünscht hatte.

Minna kam. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, sie hatte seine Mutter nicht gekannt. Sie brachte Schokolade und Zigaretten, die feinsten Sorten, das waren ihre Trostversuche, aber sie waren umsonst.

Adele kam zu ihm, ohne Trostversuche, sie saß nur bei ihm, sah ihn mit ihren wundervollen Augen an, hielt die französischen Lehrbücher zwischen ihren schönen Händen, als wartete sie darauf, daß er bereit sein würde.

Laß uns vorwärtskommen, sagten ihre Augen. Du hast keine Zeit, hier zu liegen und dich deinem Schmerz hinzugeben. Bedenke, was man von dir verlangt: zuerst ein gutes Examen und dann noch viel, viel mehr. Sie brachte die Zukunft mit sich. Schließlich öffnete sie das Buch und begann dort, wo sie aufgehört hatten, als der Schlag ihn getroffen.

Er erinnerte sich, wie glücklich er gerade an jenem Tage gewesen war. Er war die Treppe heraufgesprungen, und das Herz war ihm so voll gewesen, daß er es heraussingen mußte. Da hatte Ibs Brief auf dem Tisch gelegen, und als er ihn in der Hand hielt, hatte das Herz ihm gestockt, so genau hatte er gewußt, daß er ein Unglück enthielt.

Von schmerzlicher Erinnerung übermannt, warf er sich auf die andere Seite.

Eine Weile wartete sie, dann legte sie ihre Hand auf seinen Nacken, beugte sich über seine Schulter, die von Schluchzen geschüttelt wurde, und flüsterte:

»Halle, fassen Sie sich, Ihrer Mutter wegen! Wie muß sie leiden, wenn sie Sie so sieht.«

Die sanfte Stimme, die warme Hand auf seinem Nacken – so würde auch seine Mutter gesprochen haben. Er dachte an Ib, der niemanden hatte, der ganz allein zwischen all den teuren Andenken herumgehen mußte. Was wurde aus ihm? Wer tröstete ihn?

Wieder schien Adele in seinem Herzen wie in einem offenen Buch lesen zu können.

»Denken Sie nicht nur an Ihren Kummer, denken Sie auch an Ihren Bruder, der jetzt nur Sie hat. Wenn Sie nicht zu ihm kommen können, dann müssen Sie ihm schreiben – aus tiefstem Herzen.«

»Ja!«

Bevor sie ihn verließ, gab sie ihm Bleistift und Briefpapier.

Halle schrieb bis tief in die Nacht hinein an Ib, viele Seiten, er wußte selbst nicht, wie viele es waren. Er schrieb sich den Schmerz von der Seele, aber er rief auch Erinnerungen wach und zeigte Ib, wie die Mutter beständig bei ihnen war, nicht mehr abhängig von Meer und Entfernungen. Wo sie waren, da würde auch Mutter sein. Ob er sich erinnerte, wie sie ihnen von dem guten Schutzgeist erzählt hatte, als sie noch klein waren? Jetzt war sie ihr guter Schutzgeist geworden. Ib solle nur versuchen, mit ihr zu sprechen, und er würde ihre Antwort im Herzen spüren. Vor allem aber: »Du darfst nicht weinen, Ib.«

Am nächsten Morgen stand Halle auf und ging zur Schule. Es war ein schwerer Tag, aber er hielt ihn durch.

Es kamen viele schwere Stunden, aber bald sah er ein, daß bei fleißigem Lernen die Zeit am schnellsten verging. Alle in der Schule bedauerten ihn und waren gut gegen ihn.

Und als die Examenstage begannen, litt Tante Nette mehr am Examenfieber als er. Jedesmal, wenn Sophie, Lines Nachfolgerin, mit den Türen schlug oder auf dem Gang sang, bat Frau Assessors strenge Stimme gleich um Ruhe.

Halle bekam ein gutes Zeugnis, in Französisch aber bekam er eine Auszeichnung. Tante Nette schenkte Adele drei Paar französische Handschuhe. Geld mochte sie ihr nicht anbieten, obgleich sie es gewiß nötig hatte; Handschuhe aber waren ja auch wie bares Geld. Ob Jonas nicht auch ihrer Ansicht war? Jonas dachte wie sie.

 

Was sollte Halle werden?

Onkel Harald, sein Vormund, wurde auf Tante Nettes Veranlassung zu einem Familienrat gerufen. Unter Onkel Jonas' Vorsitz wurde die Zeit, ihre Anforderungen und Aussichten, Familientraditionen, die wirtschaftliche Lage und Halles natürliche Anlagen erörtert »Was wollte Halle werden?« fragte Onkel Harald.

»Ich weiß es wirklich nicht,« sagte Halle zögernd und etwas unwillig.

Er konnte Onkel Jonas ansehen, daß diese Antwort ihn in Erstaunen setzte. Jonas hatte dagesessen und an seinem Bleistift gedreht und Halle einen Blick aus den Augenwinkeln zugeworfen, als ob er sagen wollte: Wir beiden und deine Tante wissen, was wir von praktischem Broterwerb halten. Gib Onkel Harald eine schlagfertige Antwort.

Halles neutrale Antwort befriedigte den Bankdirektor. Denn es war an einen wunden Punkt gerührt worden. Als er seinerzeit unter dem Einfluß eines unternehmungslustigen Kameraden der Versuchung erlegen war, Geld zu verdienen, es schnell zu verdienen, da hatte er sich auf gewisse Weise seiner Familie entfremdet. Er hatte es häufig zu hören bekommen, am häufigsten von demjenigen, der der schlechteste Wirtschafter von ihnen allen war: von Per. Harald aber mehrte sein Erbteil erheblich, seine Frau brachte eine Mitgift mit, die er ebenfalls günstig anlegte. Schließlich mußte man seine Tüchtigkeit auf seinem Gebiet respektieren. Harald war ja im Grunde ein prächtiger Mensch – wie alle Mitglieder der Familie. Und da er nun einmal so viel von Dividenden und Zinsen verstand, war es nur natürlich, daß dies auch seiner Familie zugute kam. Darum verwaltete Harald schließlich alles Geld der Familie. Nur Per verwaltete sein Vermögen selbst. Und was hatte er davon? Bald fielen diese, bald jene Papiere, es gab keine Dividende – und wenn dann die Miete bezahlt werden sollte –! Per aber mußte ja immer Sonderstandpunkte einnehmen, und das nannte er dann – daß Gott erbarm' – eine Persönlichkeit sein. Jonas pflegte ihn zu necken und teilnehmend nach seinen Zuckeraktien zu fragen, wenn alle Welt verkaufte, nur Per nicht, weil er so eigensinnig war, wie nur ein Optimist sein kann.

Ganz so töricht, wie man glaubte, war Per indessen nicht. Bisweilen machte irgendeine Neuigkeit in der Zeitung, eine politische Begebenheit, eine technische Erfindung Eindruck auf ihn und ließ ihn einen Zusammenhang mit seinen Papieren ahnen. Am nächsten Morgen gleich verkaufte er dann das eine Papier und kaufte dafür ein anderes. Wenn er auf diese Weise einige hundert Kronen verdient hatte, überlegte er, was er dafür kaufen sollte. Es war ja Geld, womit er nicht gerechnet hatte, und darum hatte es auch keinen Zweck, es aufzubewahren. Verlor er aber, dann machte es nicht mehr Eindruck auf ihn, als wenn gegen alle Erwartung der Sonntagmorgen mit schlechtem Wetter anbrach; sich deshalb einzuschränken, fiel ihm nicht ein. Daß seine Geldwirtschaft dadurch ein wenig aus dem Gleichgewicht war, war nicht zu verwundern; das aber mußte ein für allemal Tante Hanne tragen, wie sie ihn selbst getragen hatte, als er noch klein war. Was sollte sie sonst mit ihrem vielen Geld? Wenn Per schlechter Laune war, pflegte er auszurechnen, wie wenig die Schwestern in ihren Dachzimmern, bei ihrer spartanischen Lebensführung, gebrauchten und wieviel sie im Laufe der Jahre zurückgelegt hatten; er kannte ihr Erbteil ja, es war genau so groß wie seines gewesen.

»Dann soll er doch lieber Pharmazeutik studieren,« meinte Onkel Jonas spöttisch, nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, »in Onkel Adams Geschäft eintreten und den ganzen Krämerhandel übernehmen.«

Tante Nette nickte ihm beifällig zu.

Der Bankdirektor blickte mit seinen klugen, braunen Augen auf.

»Das wäre das Schlechteste nicht, weder für Halle noch für uns. Dann bleibt das Geschäft in der Familie.«

Harald Hvilding machte sie darauf aufmerksam, wie schwer die Zeiten nach dem Kriege werden würden. Er erinnerte Onkel Jonas an das, was er ihm beim letzten Termin gesagt hatte, daß man mit fallender Konjunktur rechnen müsse. Natürlich sei er bemüht, durch vorteilhafte Kapitalanlage das Vermögen der Familie fruchtbar zu machen, aber – wie er Onkel Jonas bereits auseinandergesetzt habe – das Kaufen und Verkaufen brachte immer ein Risiko mit sich.

Tante Nette wollte gegen diese geschäftlichen Erörterungen Einspruch erheben –

Onkel Harald aber wurde nur noch ernster, so ernst, daß sogar Halle, dessen Gedanken weit fort gewesen waren, aufmerksam wurde.

Es mußte einmal gesagt werden, es mußte darauf hingewiesen werden, daß sie bereits Verluste erlitten hatten, eine natürliche Folge der wechselnden Kapitalsanlage, daß wegen der schlechten Konjunktur weitere Verluste zu erwarten seien und daß man sich nie, selbst bei allergrößter Vorsicht, vor Verlusten schützen könne.

Tante Nette erschrak; das Wort »Verlust« hatte er nun schon dreimal genannt.

»Du willst damit doch nicht sagen, daß du mit unserem Geld spekulierst, Harald?«

»Spekulieren –« Harald warf den Kopf gereizt zurück, »nenn' es, wie du willst. Tatsache ist, daß wir heutzutage, bei den teuren Lebenskosten, so hohe Einnahmen wie möglich erzielen müssen. Das habe ich übrigens Onkel Jonas, der etwas von den Dingen versteht, schon auseinandergesetzt.«

Jonas nickte bedächtig und anerkennend und drehte an seinem Bleistift.

»Ich habe Harald gebeten,« sagte er zu aller Beruhigung, »größte Vorsicht zu beobachten.«

Einige Tage vergingen. Da trat Onkel Jonas mitten am Tage, zum Ausgehen gekleidet, ins Wohnzimmer, verabschiedete sich von Tante Nette und sagte, daß er Harald in A. Dams Kontor treffen solle.

Am selben Abend noch kam Sophie mit dem Bescheid in Halles Zimmer, er möchte zu Herrn Assessor hinunterkommen. Das war noch nie dagewesen; unwillkürlich prüfte er sein Gewissen.

Onkel Jonas forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und ging gleich zur Sache.

Ob er nicht in die Welt hinaus möchte?

Das Blut schoß ihm zu Kopfe. Das war's ja, wonach er sich gesehnt hatte – jetzt wußte er es. Stellung, Ausbildung, das alles hatte Zeit. Nein, hinaus in die Welt, fort von allem, was ihn über seine Jahre drückte, – er wußte selbst kaum, was es war! – sein tiefstes eigenstes Ich schien sich irgendwo versteckt zu haben, er mußte fort, hinaus, um es zu suchen.

Er spräche ja gut Französisch, fuhr Onkel Jonas fort, ob er nicht Lust habe, einige Jahre in Paris zu verbringen?

Paris! jubelte es in ihm.

Onkel Jonas und Onkel Harald hatten mit dem Geschäftsführer von A. Dams Fabrik gesprochen– was es sie gekostet hatte, den Mann willig zu stimmen, das erwähnte Onkel Jonas nicht –, und Halle sollte, wenn er Lust dazu hatte, im Geschäft aufgenommen werden, wo ja auch sein Vater angestellt gewesen war, als er seine Mutter kennenlernte.

Der Geschäftsführer, der keinen Wert darauf legte, zu viel mit der Familie zu tun zu bekommen, hatte den Vorschlag gemacht, daß Halle in Paris ausgebildet werden sollte. Man wollte die ausgezeichneten Verbindungen, die man dort vor dem Kriege gehabt hatte, nach dem Kriege erweitern und konnte darum einen Mann gebrauchen, der in französischen Laboratorien gelernt hatte und imstande war, die Fabrikation zu kontrollieren, neue Verbindungen anzuknüpfen und die Interessen des Geschäftes an Ort und Stelle wahrzunehmen. Ein schwieriger und verantwortungsreicher, aber lohnender Posten für einen jungen Mann.

Sobald die Kriegsverhältnisse es erlaubten, sollte Halle nach Paris reisen, an der pharmazeutischen Hochschule studieren und gleichzeitig bei Leroy Frères, der Drogen- und Parfümfabrik, mit der A. Dam seit Jahren in Verbindung gestanden hatte, in die praktische Lehre gehen.

Halle war sofort einverstanden.

 

Endlich, endlich war der Krieg vorbei.

Vier lange Jahre hatte Halle gewartet, er hatte in der Wartezeit Vater und Mutter verloren. Jetzt konnte er nicht länger warten, er wollte und mußte Ib sehen, denn er war von einer sinnlosen Angst besessen, daß auch Ib etwas zustoßen könnte, bevor er ihn erreichte. Er schlief unruhig, und tagsüber war er wie gejagt.

Er war in Ministerien, Konsulaten und beim Roten Kreuz gewesen, wo er sich gleich nach überstandenem Examen zur Verfügung gestellt hatte. Endlich war das Ziel erreicht, er hatte die Reiseerlaubnis in der Tasche, und die Zeit der Abreise war festgesetzt.

An einem kalten, klaren Dezembertage nahm Halle Abschied von Adele und von dem Heim auf dem Jagdwege.

Er wollte über Egesund zu Ib reisen, dort einige Tage bleiben und dann nach Paris weiterfahren.

Halle stand auf dem runden Platz der Einfahrt vor dem alten Herrenhause, das jetzt den Wirtsleuten gehörte. An den Fenstern waren neugierige Gesichter, am Parkeingang stand ein Mann in Hemdsärmeln und besserte den Zaun aus. Halle hatte sich darauf gefreut, durch den Park zu gehen, aber er wollte nicht erkannt, nicht bedauert werden. Darum bog er ab und folgte dem Pfad, der über die Felder führte.

Dort drüben in der Niederung lag Ibs Haus, er konnte schon die Bäume sehen, die über den Hügel ragten. Als Knabe war er oft mit einem Bescheid von Mutter zu Gärtner Hansen geschickt worden.

Er hatte Ib seine Ankunft nicht gemeldet, er wollte kein Wiedersehen vor fremden Augen. Auf der Mole pflegten sich alle Einwohner des Städtchens zu versammeln, die Ankunft des Dampfers war das Ereignis des Tages. Unerwartet wollte er in der Stube zwischen den alten trauten Möbeln stehen. Guten Tag, Ib, wollte er sagen –

Dort drüben hinter den blätterlosen Fruchtbäumen sah man das Haus liegen. Wie war es klein! Oder war er so groß geworden?

Dort in der Ecke stand der Gravensteiner Apfelbaum mit seinen knorrigen, grauen Ästen. Ein Mann war damit beschäftigt, die Erde um seinen Stamm zu lockern, er sollte wahrscheinlich gedüngt werden, ein junger Mann, barhäuptig, im blauen Arbeitskittel, mit mageren Handgelenken; er steckte den Spaten bedächtig in die Erde, hielt dann mitten in der Bewegung inne und sah auf, während sein Fuß auf dem Spaten ruhte. –

Ein langes, blasses Gesicht, unter vollem, blondem Haar, das in die hohe Stirn fiel. Die tiefliegenden Augen, der wehmütig prüfende Blick verweilten auf dem, der den Frieden des Gartens störte –.

Ib stand wie festgenagelt, – dann schoß das Blut ihm zu Kopfe, die Lippen öffneten sich und zeigten die kräftigen, weißen Zähne. Er ließ den Spaten fallen, streckte die Arme aus –

Halle stürmte auf ihn zu und schloß ihn in seine Arme.

Sie sprachen über alles mögliche. Nicht die Worte, sondern das Glück, wieder ihre Stimmen zu hören, wieder Aug' in Auge, Hand in Hand zu gehen, ließ sie in der Freude des Wiedersehens den tiefen Schmerz, die frische Wunde vergessen. Das beglückende Gefühl, die Gedanken des anderen zu kennen, bevor sie ausgesprochen waren, das Herz von gemeinsamen Erinnerungen voll zu haben, Meinungen auszutauschen und zu fühlen, daß sie auf demselben Boden gewachsen waren und dennoch jeder seine Eigenart hatte, beglückte sie tief.

Als sie aber in Mutters Stube traten, wurden sie stumm.

Halle entkleidete sich und ging zu Bett, Ib aber blieb auf seinem Bettrande sitzen, um ihm so nah wie möglich zu sein, während er erzählte. Der Mond schien durch die weißen Gardinen, von der hellen Tapete hoben sich die Fensterrahmen ab, und dazwischen bewegte es sich wie lautlose Schatten – als ob kleine Wesen draußen im Spalier säßen, die lauschten und über das Gehörte und Gesehene die Köpfe zusammensteckten.

Halle erzählte von Haus und Speicher und Garten, von all dem, was Ib als Knabe auch kennengelernt hatte. Er erzählte von den Onkeln und Tanten, vom Verwalter und von Minna. Er erzählte von Schule und Examen. Und er erzählte von Adele.

»Bist du verliebt?« fragte Ib.

»Sie ist sechs Jahre älter als ich,« sagte Halle und richtete sich auf dem Ellenbogen auf.

Ib saß mit verschränkten Armen da und sah träumend ins Mondlicht, mit seinen lieben, wehmütigen Augen, die in dem fahlen Licht farblos erschienen. Um die Mundwinkel lag wie ein Schattenstäubchen die kleine Falte, deren Halle sich noch so genau erinnerte, die zu einem Grübchen wurde, wenn er lächelte, zu einer Schmerzensfalte, wenn er weinte. Wie war er unverändert, wie er dort saß, etwas zusammengesunken in seiner Gedankenverlorenheit. In seiner Kopfhaltung und auch in seinem Gang lag ein Ausdruck, als müsse er sich beständig darauf besinnen, daß er seine Stütze verloren habe. Es ging Halle zu Herzen, er legte seine Hand auf Ibs verschränkte Arme und sagte:

»Du hast ja mich.«

Ib sah auf, als ob er erwachte, es bebte in dem Schattenstrich um seinen Mund, als er antwortete:

»Du reist ja nun weit fort.«

»Wir wollen uns jede Woche schreiben. Wenn ich am Sonntag schreibe, dann hast du meinen Brief am Dienstag oder Mittwoch und kannst mir so antworten, daß ich deinen Brief zum Sonntag habe. Dann schreibe ich wieder, und so immer weiter.«

Das versprach Ib.

»Nun erzähle von der Bootfahrt damals,« sagte er und stützte seinen Nacken gegen das hohe Fußende des Bettes.

Halle saß in der Erinnerung wieder im Boot, und Ib war bei ihm. Sie ruderten und sie duckten sich – der Scheinwerfer kam übers Wasser, und Ib sah alles so leibhaftig vor sich, daß ihn schauderte. Sie durchlebten die Angst, die Spannung zusammen, sie saßen Kopf an Kopf, Halle auf den Knien und Ib über ihn gebeugt, mit weitgeöffneten Augen und offenem Mund. In der späten Nachtstunde war es ihnen, als ob sie das Klatschen der Wellen am Steven hörten, als ob das Bett unter ihnen schaukelte. Und wenn Halle »ducken!« sagte, beugte Ib unwillkürlich seinen Kopf. Halle saß mit der Schöpfkelle in der Hand und mit Todesangst im Herzen. Ib war bei ihm und stand doch gleichzeitig im Sturm auf dem dunklen Strande, seinen Arm um Mutter.

»Oh, Ib, als mir klar wurde, was ich getan hatte – du und Mutter in der dunklen Nacht, und ich konnte euch nicht wissen lassen, daß ich nicht kommen würde –«

»Hat sie in der Nacht davon gesprochen?«

Ib schüttelte den Kopf, sprechen konnte er nicht.

»Ib, ich flehte zu Gott, daß er mir das Leben ließe, und ich habe ein Gelübde getan.«

Ib saß unbeweglich, als ob er es wüßte.

»Mutters wegen habe ich es gegeben, damit sie nicht noch mehr Kummer zu tragen bekäme.«

Ib nickte wieder, er begriff es nur zu gut.

»Und jetzt ist sie tot!«

»Und ich habe schuld.«

Halle brach zusammen wie damals, als er auf seinem Bett lag und Adele ihn zum Leben zurückrief.

Ib legte seinen Kopf neben Halles.

»Dein Versprechen mußt du halten!« sagte Ib und hob seinen Kopf.

»Ja!« Halle erinnerte sich, wie er drauf und dran gewesen war, es zu vergessen.

Er vertraute Ib an, daß er geschwankt habe, ob er Onkel Jonas' Angebot annehmen solle. Ob er der Ansicht sei, daß er einen anderen Weg hatte wählen sollen?

Ib überlegte lange.

»Ich meine, der eine Beruf ist nicht schlechter als ein anderer. Für das gute Beispiel ist überall Platz. Glaubst du nicht auch?«

Das meinte auch Halle.

»Du bist dazu bestimmt, in die Welt hinauszuziehen,« Ib richtete sich auf und blickte in den Mondschein zwischen den Stämmen hinaus, »um Macht zu erringen und Gutes zu tun. Und Mutter wird bei dir sein, als dein Schutzgeist, von dem sie uns erzählte, als wir noch klein waren. Ich aber soll hier bleiben, wo wir die schweren Zeiten zusammen durchlebt haben, ich soll all deine Schätze hüten, Mutter, deine Blumen und deine Erinnerungen – ich soll sie lieben und ihnen dienen.«

Darauf erhob er sich und ging still zu Bett.

»Gute Nacht, Halle.«

»Gute Nacht, Ib.«

Bald darauf schliefen sie sanft. Der Mond stieg höher, sein Licht schwand aus dem Zimmer. Draußen im Garten war es frostkalt, und gegen Morgen fiel Schnee. Was aber schadete es? In der fruchtbaren, schwarzen Erde lag das Leben wohlverwahrt, und unter der Decke des welken Laubes vermischten sich die Säfte zu neuem Frühling.


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