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Als Annie am Arm ihres Mannes vom Schiff auf die Mole trat, schlug ihnen ein Windstoß entgegen, Schaum spritzte ihnen ins Gesicht, so daß sie geblendet wurden, und Annie stolperte über einen großen Stein.
Viggo griff ängstlich nach ihr und zog sie an sich. Er fühlte ihren angstvollen Aberglauben und beeilte sich zu sagen:
»Das bedeutet Glück.«
Langsam und beschwerlich ging sie über die runden Steine, die sich aus der Zementfüllung hoben.
Endlich gelangten sie in den Schutz des steilen Ufers.
»Sieh!« sagte er und blieb stehen.
Es war Nachmittag, aber es dämmerte schon. Unter den niedrigen Wolken, die über dem Meer hingen, als ob das Land sie von sich geschoben habe, lagen auf dem hohen Ufer, hinter Pappeln und Weiden, etliche verstreute Häuser, mit kleinen Gärten, hinter mannshohen Hecken.
»Das ist Sundby.«
Vor einem weißen Giebel stand eine einsame Kuh, den Schwanz dem nassen Winde zugekehrt, und starrte wehmütig auf sie herab. Im Schutz einer Sandgrube grasten einige Schafe.
Die Landstraße bog mit tiefen, regengefüllten Wagenspuren nach links ab, folgte dem Strand ein Stück, wo die Wellen über die Steine schäumten und Tanghaufen hoben und wieder fallen ließen. Wo das struppige Strandgras begann, lagen große Flächen von schmutzigem Schaum, mit denen der Wind spielte.
Vom Strande bog die Landstraße in eine breite, offene Lichtung ein, die zum Hügel hinaufführte. Dort lag der alte Fährhof, mit zwei mächtigen Linden vor seinem Giebel.
Es war nur ein niedriges, langgestrecktes Fachwerkgebäude, mit Efeu längs der gelben Mauer, ganz bis zu dem strohgedeckten Dach hinauf; wie reich aber war es an Erinnerungen –
Sie wurden nicht erwartet, darum war auch niemand am Dampfer gewesen, um sie zu empfangen; der Zollbeamte aber hatte ihren Namen auf den Koffern gelesen: »Viggo Halfdann, Laborant bei den chemischen Fabriken von A. Dam, Kopenhagen, Jagdweg.« Es war sicher die neue Herrschaft von Sundbyhof. Der Name war bekannt in der Gegend.
Diese Dinge wurden zwischen dem Zollbeamten, einem Grünschnabel aus dem Holsteinischen, dem Schutzmann, dessen Mutter als Mamsell unter der vorigen Herrschaft auf dem Hof gedient hatte, und dem alten Wirt, Jespersen, erörtert.
Es war nach beendigter Zolluntersuchung – der Zollbeamte hatte die interessante Neuigkeit gleich mitgebracht–, und sie saßen bei einem Glase Bier auf ihrem gewohnten Eckplatz am Fenster, von wo sie den Hafen, die Landstraße und die Häuser von Sundby sehen konnten.
»Sie ist schon ziemlich weit,« sagte der Schutzmann, nachdem er den beiden, die in ihren langen Regenmänteln so beschwerlich den Hügel hinaufstiegen, eine Weile entgegengesehen hatte.
»Aber 'ne ganz stattliche Person,« fügte er mit Kennermiene hinzu und wischte sich den Bierschaum vom Schnurrbart; er war ein hübscher, junger Mensch, mit wachsamen blauen Augen.
»Eine feine Dame,« sagte der Zollbeamte und verriet mit einem zweideutigen Lächeln auf seinem blassen, sommersprossigen Gesicht, wie fein die Wäsche gewesen war, die er bei der Untersuchung der Koffer zwischen die Finger bekommen hatte.
Der Wirt saß hochschultrig mit seinem hängenden Bauch da. Das Gesicht war blaurot, das glattgekämmte Haar war über der niedrigen Stirn zurückgestrichen, die Unterlippe hing ausdruckslos herunter. Seine wasserblauen, hervortretenden Augen, die von frühzeitiger Apoplexie blutunterlaufen waren, folgten dem Paare.
Seine Frau drehte den Kopf und sagte über die Schulter zu dem Tisch hinüber:
»Sie haben eine Postkarte wegen des blauen Zimmers geschrieben.«
Sie warf einen Blick auf die Landstraße, um zu sehen, ob Hans an das Gepäck gedacht hatte. Ja, er hatte zwei große, gelbe Koffer auf dem kleinen Handwagen, Handtaschen, Reisedecken und alles. Er schuftete wie ein Pferd, um den kleinen Handwagen den aufgeweichten Weg heraufzuziehen.
»Stand denn kein Name darunter?«
Der Schutzmann sah verdrießlich auf. Trieb man sich hier den halben Tag herum und erfuhr nicht einmal, wenn sich etwas ereignete.
»Ich konnte die Krähenfüße nicht lesen.«
»Warum haben Sie mir die Karte nicht gezeigt? Es schickt sich doch nicht, daß niemand auf der Brücke ist, wenn die neue Herrschaft des Hofes kommt.«
»Steh auf, Mensch!«
Der Schutzmann stieß den Wirt in die Seite, erhob sich selbst rasselnd und knarrend in seiner neuen Uniform, trank sein Bier aus und nahm das Gewehrgehänge vom Haken.
»Geh hinaus und empfange deine Gäste! Denn Pedersen ist ja nicht zu Hause,« fügte er mit einem Grinsen hinzu.
Frau Jespersen beachtete diese Bemerkung nicht, hob die Brauen nur über den schläfrigen Augen – sie waren fast schwarz, wer weiß, vielleicht konnte es noch in ihnen glühen? – Wußte Pedersen darüber Bescheid?
Alle drei gingen hinaus und stellten sich vor die Tür. Der Schutzmann stand stramm, der Zollbeamte grüßte und ging vorbei; Jespersen streckte Viggo seine dicke, rote, feuchtwarme Hand entgegen.
»Eh – he,« schnaufte er, »sind Sie nicht – –«
»Stimmt!«
»Und das ist meine Frau,« sagte er und beugte sich zu dem Ohr des Wirtes herab.
Jespersen seufzte hörbar: Taub – nein, so alt war er doch noch nicht.
»Eh – he,« krächzte er, mehr wurde es nicht; er war kein Mann des Wortes. Kaum, daß er daran dachte, der Dame die Hand zu geben. Erst als sie in der Stube standen, glückte es ihm, ein »Willkommen In der Heimat« zu stammeln. Dann murmelte er »meine Frau« und schielte in die Richtung, wo Frau Jespersen breit und würdig grüßend hinter dem Schenktisch stand.
»Das Zimmer ist bereit.«
Das Giebelzimmer trug seinen Namen nicht mit Unrecht. Die schrägen Wände waren himmelblau gemalt, und der große Kleiderschrank am Giebelfenster, das zum Meer hinausging, war blau mit einem Bukett roter Rosen in der Mitte der Türflügel. Das große plumpe Doppelbett war blau gemalt, und sogar die Steppdecken waren blau. Das kleine halbrunde Sofa hinter dem Tisch aber war mit rotem Plüsch überzogen, worin die Zeit – oder vielleicht die Mäuse – kahle Stellen genagt hatten. Der große Spiegel, der zwischen den Waschtischen auf einer niedrigen Konsole stand und ganz bis zur Decke reichte, hatte einen goldnen Rahmen mit vielen Schnörkeln, die davon erzählten, daß der Spiegel trotz Flecke und Schrammen das vornehmste Stück des Hauses war.
Annie umfaßte das alles mit einem prüfenden Blick; sie wußte, daß diese Stube in ihrem Leben eine Bedeutung bekommen würde, wie keine andere. Auch der Tiroler über den Betten, der seinen weichen Hut zu den blauen Bergen hinüberschwang: »Ade, mein Land Tirol!«, auch er entging ihr nicht; und als sie sich dem Sofa zuwandte, da hing dort eine Lithographie von Scheherazade, die zu Harun al Raschids Füßen saß und ihm Märchen erzählte; das stand mit schönen gotischen Buchstaben darunter.
»Wie dumpf ist die Luft!« sagte Viggo, der das Zimmer von seinen Knabenjahren her kannte; damals wurde das Zimmer benutzt, wenn alle Fremdenzimmer auf Sundbyhof besetzt waren.
Er schickte sich an, das Fenster zu öffnen, wurde aber von ihr davon zurückgehalten. Sie brauchte Trost in der großen Trauer, die sie plötzlich befallen hatte.
Sie stand vor dem prunkenden Spiegel, den Kopf an seiner Schulter. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Ihre grauen Augen mit dem tiefen, weichen Sammetschein, den er so liebte, waren bis an den Rand mit hilfloser Angst gefüllt, die ihm ins Herz schnitt.
»Wären wir doch geblieben, bis es überstanden Ist,« sagte er, »aber du selbst wolltest es ja so.«
Sie antwortete nicht. Ihre schweren Augenlider fielen langsam zu. Er strich ihr über das dunkle Haar, das noch kalt und feucht war. Er küßte ihre kalten Hände und führte sie zum Sofa. Nachdem er es ihr bequem gemacht hatte, beugte er sich über sie und drückte einen langen Kuß auf ihre schmalen, weichen Lippen.
Darauf setzte er sich auf den Bettrand und packte ihre Handtasche aus. Nachdem das besorgt war, drehte er sich um, um sie zu fragen, ob sie Tee haben wolle. Die Augen aber waren ihr zugefallen. Gottlob, daß sie Ruhe gefunden hatte.
Auf den Zehenspitzen trat er ans Fenster –
Da lag das Meer, grau und zornig, mit weißen Schaumköpfen. Da lag die Insel, wie der hochgeschobene Buckel eines riesigen Seetieres. Die Möwen kreisten auf dem Winde, schossen auf die Wellen herab und flogen wieder aufwärts. –
Dort lag der Fährdampfer noch, mit dem sie gekommen waren, und schwankte neben der nassen Mole, auf deren äußerster Spitze der kleine weiße Leuchtturm stand.
Wie klein das alles – und wie unverändert! Er meinte, er könne jeden Stein wiedererkennen.
Wie viele Generationen mochten die Möwen dort wohl von denen trennen, deren Nester er mit den anderen Jungen bestohlen hatte – nur ein Ei aus jedem Nest. Kaufmann Jensen in der Stadt kaufte sie unterderhand und schickte sie nach Kiel; manchen Groschen hatten sie sich damit verdient.
Auf den Zehenspitzen ging er um das Bett herum, um zu dem anderen Fenster zu gelangen, blieb aber auf halbem Wege stehen, um nach ihr zu sehen. Sie saß noch in derselben Stellung. Die Lippen halb geöffnet, mit dem rührend kindlichen Ausdruck, der ihr eigen war, wenn etwas sie bedrückte. Diesen Ausdruck liebte er, er rührte an seine tiefste Männlichkeit; er mußte sich Gewalt antun, um sich nicht niederzubeugen und den feinen Mund zu küssen.
Er trat an das andere Fenster: dort hinten lag das alte Haus, sein Vaterhaus, hinter dem großen Hofplatz. Seit vierundzwanzig Jahren hatte er es nicht gesehen. Da fühlte er ihre Hand auf seiner Schulter, drehte sich um und zog sie an sich.
»Sieh,« sagte er, »das ist unser Heim.«
Und im selben Augenblick sah er es, wie es wirklich war, mit vorurteilsfreien Augen. Er sah, daß der Ort, den er ihr in den schönsten Farben geschildert hatte, in Wirklichkeit grau und verfallen, öde und traurig im Regen dalag. Er zog sie fester an sich, als fürchtete er, daß sie ihm in der Enttäuschung über die Öde des ersten Eindruckes entgleiten könnte –
Da fiel sein Blick auf den Gipfel der alten Esche, die über das Dach ragte –
»Aber der Garten –« sagte er bittend.
»Ja, der Garten!« Sie lächelte wehmütig. Sie fühlte, daß er um seine Wiedersehensfreude kam, wenn sie ihm nicht zu folgen vermochte.
»Geh jetzt,« sagte sie und löste sich aus seinen Armen.
»Geh in den Garten und sieh dich nach den alten bekannten Plätzen um. Wenn ich nicht so müde wäre –«
»Willst du nicht Tee haben?«
»Jetzt nicht. Ich möchte zu Bett gehen und eine Stunde ruhen. Dann essen wir hier oben zusammen, nicht?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, begann sie sich zu entkleiden.
Der Garten – er zögerte einen Augenblick, während er ihn sich in Gedanken vorstellte –, der würde sie nicht enttäuschen, davon war er überzeugt.
Wie das rote Scheunentor in den Angeln hing! Dort in der Ecke hatte der Knecht einmal auf eine lebendige Ratte getreten, er meinte noch ihr Todesgeschrei zu hören; es durchschauerte ihn wie damals.
Gitter und Gittertür – ja, es waren wirklich die alten; damals waren sie hübsch weiß gemalt, jetzt war alle Farbe fort, die Latten waren hier und dort gebrochen und die Pfosten unten angefault.
Die Tür stand offen, er ging Hindurch. Der große Rasen vor der Terrasse war voll von hohem Unkraut. In der Mitte stand die große Esche, ihre mächtige Krone hing ganz bis zur Erde und verbarg den Stamm mit ihrem kühlen, dunklen Schatten.
Er ging über den Rasen zum Obstgarten. Die Bäume, die damals jung, fruchtbar und aufrecht waren, standen jetzt mit Moos bekleidet und runzlig da, die knorrigen Äste nach der Sonne reckend. In dem hohen Gras lagen heruntergefallene Äpfel, von Nässe aufgeschwollen, schwarz, verfault; niemand hatte sich an ihrem Duft in der Morgenluft, an ihren roten Backen erfreut.
Weiter schritt er durch die nassen Wege. Bei jedem Ausblick durch die Büsche, bei jeder Biegung des Weges stiegen alte Erinnerungen in ihm auf.
Die große Eiche in der Ecke, wo er einst seine Schaukel gehabt hatte, war gefällt worden, ein morscher Stumpf nur war übriggeblieben. Dort über dem Tannendickicht aber erhob sich noch der hohe, schlanke Lärchenbaum, mit seinen anmutig vornehmen Zweigen und den feinen Nadeln im stilvollen Kranz.
Auch die jungen Birken, die ganz für sich in einem vertraulichen Haufen, dicht am Rande des Abhanges gestanden hatten, wie eine Schar leichtfüßiger junger Mädchen, zum Tanz geschürzt, standen noch da; doch waren sie alt und verdrießlich geworden; und einige waren dazwischen gefällt, damit sie sich nicht gegenseitig erstickten.
Er war bis dahin gelangt, wo der Park in die Lichtung der Wiese überging; dort hatte die Bank gestanden, gegen den Wall gelehnt, den sie »das Ende der Welt« nannten. Jetzt war sie nicht mehr da; der Wall war unter einer dichten Dornendecke ganz verschwunden.
Unten am Fuße des Abhanges lief ein anderer Pfad, der sich zwischen dem Abhange und der Nußbaumhecke schlängelte, die den Garten vom Strandgebiet trennte.
Wie friedlich hatte dieser Pfad immer dagelegen, mit den Sonnenflecken zwischen dem Laub. Jetzt waren die Zweige ineinander gewachsen und sperrten Luft und Licht aus. Der Pfad selbst war kaum zu sehen, wegen des sauren Grases und schleimigen Unkrautes, das in seinem Halbdunkel herrlich gedieh.
Es würde nicht leicht sein, das Leben in diesen toten Garten zurückzurufen, wo so viele frohe Erinnerungen begraben lagen.
Viggo kehrte auf Zehenspitzen in das blaue Zimmer zurück. Er stand am Fußende des Bettes und betrachtete ihr weißes Gesicht im Kranz des schwarzen Haares, dessen weiche, dunkle Fülle irgendwie beruhigend auf das Gemüt wirkte, – ein Wiegenlager, weich und warm.
Sie bewegte die Lippen, drehte den Kopf und schlug die Augen auf, mit einem glücklichen Lächeln.
»Bist du's?«
Sie strich sich über die Stirn und wurde ganz munter.
Er setzte sich auf den Bettrand und nahm ihre Hand. Die seine war warm und unruhig; sie liebte das Lebensvolle seiner Hand und hielt sie fest.
»Ich habe Schinken und Rühreier bestellt und –«
»Mir hat etwas Schönes geträumt –«
Sie blickte zum Fenster, als ob der Traum dorthin verflogen sei.
»Von einem Garten, einem wunderschönen Garten –«
Sie blickte ins Leere, während er die matte Haut ihres Handgelenkes mit den blauen Adern streichelte.
»Was für einem Garten?« Er drückte seine Lippen auf die weichste Stelle. »Wohl gar das Paradies?«
War diese Hand denn imstande, sich mit der harten, groben Wirklichkeit des Lebens zu befassen? Kein Reichtum wartete Ihrer – war es eigentlich nicht schade um sie?
»Ich suchte nach dem Edelstein des Lebens –«
Er legte keinen Wert auf Träume wie sie; aber er sah den verklärten Ausdruck in ihren Augen und hörte geduldig zu.
Edelstein des Lebens – wo hatte er diese Sprachblüte schon mal gehört? Richtig, in dem Psalm, den man bei ihrer Hochzeit gesungen hatte: Liebe von Gott –
»Auf ihrem stillen, tiefen Grunde
ruht des Lebens Edelstein.«
»Und du hast ihn gefunden?« fragte er und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, während er das Haar aus ihrer Stirn strich, die nach dem Schlaf feucht war.
»Eine Stimme sagte zu mir: »Ich will dir helfen' – und als ich mich umdrehte, war es ein junger Mann, mit einer Feder am Hut und einem Ledergürtel –«
»Doch nicht dieser Tiroler?«
Er blickte zu dem Bild über dem Bett hinauf: »Ade, mein Land Tirol!«
»Du darfst nicht spotten,« sagte sie und entzog ihm ihre Hand, »es war so schön.«
Sie blickte zum Fenster und fuhr fort:
»›Wer bist du?‹ fragte ich. ›Ich bin dein guter Schutzgeist,‹ sagte er und lächelte mir zu. Dann gingen wir zusammen weiter, zwischen lauter Blumen, von allen Sorten und Größen. Du glaubst nicht, wie schön das war. Plötzlich wurde mir angst, daß ich mich verirren könnte. ›Der Edelstein ist doch sicher hier versteckt?‹ fragte ich und faßte seinen Arm. ›Suche nur!›‹ sagte er und nickte. Ich ging von Blume zu Blume. Plötzlich aber war es der Garten zu Hause auf dem Jagdwege. Wir gingen längs der Beete vor den Treibhäusern. ›Dort?‹ fragte ich und zeigte auf eine prachtvolle Gladiole, so groß und stolz, wie ich noch keine gesehen habe. Im selben Augenblick stand Onkel Jonas neben mir. Er flüsterte mir zu, damit der Schutzgeist ihn nicht hören sollte: ›Nimm die nicht, Kind, an der wirst du nur Ärger erleben.‹ Mein Schutzgeist aber hatte es gehört und lächelte so seltsam. ›Ja, das ist eine rechte Herrnblume,‹ sagte er. Ich aber wollte trotzdem die herrliche Gladiole pflücken, als ich auf eine kleine bescheidene Blume neben meinem Fuß aufmerksam wurde, die im Schatten stand und aus ihrem Versteck mit reinen, blauen Augen zu mir aufsah; du glaubst nicht, wie lieb sie war. Ich beugte mich zu ihr herab, und der Schutzgeist sagte: ›Ja, das ist eine rechte kleine Dienerblume.‹ – ›Ist der Edelstein in einer von diesen Blumen?‹ fragte ich. Er aber sah mich nur mit seinen treuen Augen an. Ich wußte, daß der Stein in einer von ihnen war. Auch Onkel Jonas wußte es, ich konnte es ihm ansehen; er sah so ernst und zugleich schelmisch aus, du weißt, wie er aussieht, wenn Tante Nette zu ihm sagt, daß er ein alter Quatschkopf ist. Aber er sagte nichts, nickte nur. Ich sah von der einen zur anderen Blume und konnte mich nicht entscheiden. Schließlich fing ich an zu weinen. Da nahm Onkel Jonas den Schutzgeist beiseite und flüsterte ihm etwas zu. Und da drehte der Schutzgeist sich um und sagte mit einer Miene, daß ich ihm ansehen konnte, er hielt mich für ein recht verzogenes Kind: ›Na, meinetwegen, pflück' sie dir beide!‹ Ich wurde so froh, ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen und hätte ihm einen Kuß gegeben. Da aber wachte ich auf.«
Viggo hatte ihr geduldig zugehört, während er mit ihren Fingern spielte. Die Innigkeit ihrer Stimme, der Widerschein in ihrem Blick rührten ihn, so daß er seine Ansicht über Träume, die ihm auf den Lippen schwebte, unterdrückte.
»Das war wirklich ein schöner Traum,« sagte er und küßte sie.
Sie aber war noch mit ihrem Traum beschäftigt und drehte seinen Kopf, so daß sie seine Augen sehen konnte.
»Was mag er wohl zu bedeuten haben?«
Er wurde einer Antwort enthoben, denn im selben Augenblick wurde an die Tür geklopft, und das Mädchen brachte das Abendessen.
Viggo stellte zwei Stühle nebeneinander, so daß am Bett angerichtet werden konnte.
Annie meinte, sie habe gar keinen Appetit; als sie aber die schönen frischen Eier und den zarten Schinken sah, lief ihr das Wasser plötzlich im Munde zusammen.
Sie richtete sich auf, und aller Kummer war verschwunden.
Alle dunklen Wolken schienen gewichen. Der Himmel war klar über ihrer Zukunft in dem alten Heim. Nach dem heutigen Regen würde es morgen gewiß schönes Wetter werden. Dann wollte er ihr den Garten zeigen.
Viggo erwachte dadurch, daß eine Hand über sein Gesicht tastete. Er fuhr in die Höhe und wußte nicht, wo er sich befand.
»Viggo, ich glaube, es ist so weit,« sagte sie.
»Was?«
Er rieb sich die Augen und konnte sich nicht besinnen. Plötzlich begriff er, sprang mit einem Satz aus dem Bette, zündete Licht an und war an ihrer Seite. Er schob den Arm hinter ihren Kopf und hob ihn zum Licht. Ihre Augen waren dunkel und groß, die Lippen zitterten; die Stirn stand voller Schweißtropfen.
Sie stöhnte und zog die Knie hoch. Er kleidete sich hastig an und war in ein paar Minuten im Hof, um den Hausknecht zu wecken.
Hans war schnell fertig, schwang sich auf den Bock, nahm die Zügel, und durch den Hof ging es im Galopp, auf die Chaussee hinauf, wo die Dunkelheit unter den großen Bäumen Pferd und Wagen bald verschlungen hatte.
Annie hatte eine Weile geschlafen, ihre Hand in Viggos. »Nur läuten,« hatte Frau Jespersen gesagt, wenn sie etwas brauchten; Ane wäre beauftragt, in der Küche zu bleiben, und es sei kochendes Wasser da, wenn Annie eine Tasse Kaffee wolle.
Plötzlich erklang Wagengeratter, Annie erwachte, und Viggo eilte ans Fenster.
Unten im Hof war Hans im Begriff, ein lebendiges Bündel vom Wagen zu heben.
»Sie ist da.«
Annie erblaßte. Sie zog die Bettdecke bis ans Kinn, wie um sich zu wehren, und Viggo setzte sich zu ihr auf den Bettrand.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten,« sagte er, während die Angst ihm aus den Augen leuchtete. Annie sah es und mußte trotz ihrer Aufregung lächeln.
Es wurde militärisch an die Tür geklopft, und da stand Jansine Janssen, klein, breit und lächelnd, mit rundem Leib, die Tasche in der einen Hand und im Arm einen Haufen Apothekersachen.
»Grüß Gott, Kindchen!«
Sie nickte Annie zu, als ob sie erst gestern zusammen Kaffee getrunken hätten.
»Na, is' schlimm?«
Sie kam ins Zimmer getrippelt, trotz ihrer Leibesfülle beweglich, und lud ihre Pakete auf dem Tisch ab.
»Ja, ja, man sollte sich nie mit einem Mann einlassen!«
Viggo hatte die Tür hinter ihr geschlossen und bot sich jetzt zur Hilfe an.
»Aha, da haben wir ja den Sünder!«
Sie reichte ihm eine winzigkleine, kugelrunde Hand. »Aber diese Hände verstehen ihren Kram,« pflegte sie zu sagen, wenn sie nach überstandener Entbindung mit einer frisch gebackenen Großmutter beim Kaffee saß.
»Sie schämen sich wohl, wie ich hoffe.«
Während sie Hut und Mantel ablegte, wichen ihre Augen nicht von Annie. Es waren etwas hervorstehende, blanke, braune Augen, mit einem seltsam nackten Blick, der alles Erreichbare umfaßte und noch ein gut Teil mehr.
»Na, lassen Sie mal sehen.«
Sie trat ans Bett und drückte Annies Hand. »Was für ein liebes Gesichtel!« Sie strich ihr leicht über die Wange, »'s das erstemal, nicht – lieber Gott! Na, es wird schon werden, Ihre Mutter hat es ja geschafft und deren Mutter und alle anderen, ganz bis zu Eva zurück.«
»Hören Sie mal, Sie, Männeken!« Sie drehte sich nach Viggo um, der kurze Hals brachte es nur zu einer halben Drehung. »Packen Sie allemal die Apothekersachen schon aus, während ich Ihre Frau mal näher in Augenschein nehme. Die Rechnung liegt im Becken, die können Sie gleich behalten.«
Viggo gehorchte unwillkürlich. Alles, was diese kleine, runde Frauensperson sagte, hatte einen seltsam vertrauenerweckenden Zauber.
»Ach ja, 's ist heutzutage ein teures Vergnügen, Kinder in die Welt zu setzen, das mögen die Götter wissen – (tut es hier weh? – nein, das dachte ich mir) – es ist nicht wie zur Zeit meiner Mutter – (jetzt drehen wir uns ein wenig auf die Seite – so ist's recht) – damals machte man nicht so viele Umstände – nachmittags hatte sie noch Kirschen zum Einmachen gepflückt, als sie nachts ein Kind von acht und einem halben Pfund zur Welt brachte, meine Wenigkeit nämlich. Und vierzehn Tage später stand sie wieder am Waschtrog.«
Annie begann zu jammern.
»Gottchen, Gottchen, is' es so schlimm? Na, wollen mal sehen, ob wir da nicht ein bißchen helfen können, – dazu sind wir ja hier.«
Und zu Viggo gewandt, sagte sie:
»Gehen Sie nur auf Ihr Zimmer, Männeken! Wenn wir Ihnen was zeigen können, rufe ich Sie!«
Annie bat so flehentlich mit Augen und Mund.
»Nee, Kindchen, das können Sie von Jansine Janssen nicht verlangen. Ich bin kein herzloser Mensch, habe noch nie jemandem was zuleide getan, aber Männer in der Wochenstube, nee, das gibt's nicht. Sehen Sie doch nur, wie die Kleine sich in die Lippen beißt, um nicht zu schreien! Ihretwegen, Sie alter Sünder, das kleine Herzchen kann es nicht ertragen, daß Sie vielleicht Ihre Sünden bereuen sollten. So – so, hat das geholfen? Haben Sie Schmerzen zwischen den Anfällen gehabt? Nicht. – So – o – sehen Sie, das geht ja ganz fein.«
Annie legte sich nach dem Anfall zurück, in Schweiß gebadet und am ganzen Körper zitternd.
»Jetzt wollen wir erst mal 'ne Tasse Kaffee trinken. Das ist das allerwichtigste. Den können Sie gleich in der Küche bestellen, Männeken, wenn Sie sich jetzt empfehlen. Zwei gehäufte Teelöffel für jede Tasse, reinen Bohnenkaffee, kein Zusatz, verstehen Sie. Grüßen Sie in der Küche und sagen Sie, der Kaffee wäre verordnet und auf gefälschte Medizin stehe Zuchthaus.«
Annie richtete sich mit wilden Augen und verzerrten Zügen auf.
»Gottchen, Gottchen, geht's schon wieder los? Ist es denn so schlimm?«
Sie streckte ihre kleinen, runden Hände aus, und Annie ergriff sie in ihrer Not; ihre Augen aber hingen an Viggo.
»Recht so! halten Sie sich nur ordentlich fest, meine Hände sind aus Eisen, wenn sie sich auch weich anfühlen.«
Annie schrie zum erstenmal.
»Nur heraus damit! Schreien Sie, daß das Haus bebt. Sie glauben nicht, wie das erleichtert.«
Annie aber verstummte wieder. Sie sah an Viggos Augen, wie er mit ihr litt, und sie brachte es nicht übers Herz, laut zu klagen.
Janssen drehte sich nur so weit um, daß sie ihn mit ihren kleinen, festen Augen erreichen konnte.
»Was, Sie sind noch immer da? Na, kommen Sie her und geben Sie ihr noch 'nen Kuß, bevor Sie verschwinden.«
Er zog ihren Kopf an seine Brust und an seine Lippen und sah ihr tief in die überströmenden Augen.
»Sei stark, Geliebte,« flüsterte er, »und kümmere dich nicht um ihr Wesen, sie meint es gut. Schrei nur, wenn sie es für gut hält.«
»Geh nicht zu weit fort!«
»Ich bleibe hier unter deinem Fenster. Sie braucht nur zu rufen, dann komme ich herauf.«
»So, jetzt Schluß!« Janssen zog ihn sanft, aber bestimmt am Ärmel.
»Kein Grund zur Besorgnis, Ihre Frau ist ja kräftig und gesund.«
Als Viggo draußen war, sandte Annie ihr einen großen vorwurfsvollen Blick.
»Ja, schelten Sie nur,« nickte Janssen vergnügt, »das geht nicht anders, Kindchen. Männer benehmen sich bisweilen so hysterisch, daß sie mir den Patienten anstecken. Nee, nee, Männer in der Wochenstube, das müßte polizeilich verboten werden.«
Der Wind hatte sich gelegt. Auch das Meer war ruhig geworden. Ein leises Aufschlagen der Wellen gegen den Strand, das war alles. Hinter den zottigen Wolken, die seewärts zogen, kämpfte der Mond, um durchzubrechen; er erhellte den Himmel und warf blasse Schatten hinter Häuser und Bäume.
Viggo hielt sich in der Nähe des erleuchteten Giebelfensters, das hin und wieder von Janssens breitem Schatten verdunkelt wurde.
Da kamen die Schreie. Erst gedämpft und vereinzelt, dann stark und anhaltend.
Es war nicht auszuhalten. Er lief ein Stück zum Strande hinunter, aber es war, als ob die Schreie ihn festhielten und zurückzwangen.
Oh, dieser – er war wie ein Gebrüll. Er hätte nie geglaubt, daß Annies Stimme so viel Kraft haben konnte – Entsetzen klang heraus. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht mitzuschreien. Nicht an das Kind dachte er mehr, nur ob sie es überstehen würde. Vielleicht war sie tot, bevor er sie erreichen konnte.
Er lief unter dem Fenster hin und her, alle Nerven gespannt.
Ein furchtbarer Schrei, von einem langen Stöhnen gefolgt, und alles wurde still.
Plötzlich stand jemand da und rief ihn, oder war es vielleicht nur ein Traum?
»Ich soll Ihnen von Janssen sagen, Sie möchten heraufkommen.«
Es war Ane. Ja, war es nicht das Mädchen mit dem roten Haar, das dort im Schein des halbversteckten Mondes vor ihm stand? Hatte sie zu ihm gesprochen?
»Ich glaub', es ist ein Junge,« platzte sie heraus.
»Und meine Frau?« Er packte das Mädchen so heftig am Arm, daß es fast aufgeschrien hätte.
»Die liegt im Bett!« sagte Ane verdutzt.
Janssen öffnete die Tür –
Da lag Annie mit blassen Wangen auf dem Kissen, wie eine gebrochene Blume.
»Annie!« flüsterte er tonlos.
Sie öffnete die weißen Lippen zu einem schwachen Lächeln, konnte den Kopf aber nicht drehen.
Er vergaß jede Vorsicht und wollte sie stürmisch in die Arme schließen.
»Halt, mein Herr!«
Janssen versperrte ihm den Weg.
»Sehen Sie, was wir hier für Sie haben!«
Er drehte sich um. Von dem leeren Bett, das ganz an das andere Fenster hinübergeschoben war, nahm sie ein Bündel und hielt es ihm entgegen.
»Ein gesunder Junge!«
Tränen stiegen ihm in den Hals, er konnte kein Wort sagen. Er blickte in ein kleines rotes, zorniges Gesicht, in ein Paar große dunkelstrahlende Augen.
»Nehmen Sie ihn nur!«
Sie legte ihm das Bündel in den Arm. Er wagte sich nicht zu rühren, aus Angst, es fallen zu lassen. Zwei kleine, blaurote Händchen fuchtelten ihm vor dem Gesicht. Er beugte sich herab und fühlte bis ins Innerste die Wärme eines neugeschaffenen Lebens.
»Wir haben noch mehr. Eben denk' ich, wir sind fertig, da kommt sie, weiß der Himmel, ganz still und wohlerzogen mit noch einem an. Sehen Sie her!«
Janssen nahm noch ein Bündel vom Bette und hielt es ihm hin.
»Ein prächtiges Männeken, Nummer zwei!«
Sie legte es ihm in den andern Arm. Kleiner und leichter erschien er ihm; auch das Gesicht war kleiner. Er fuchtelte nicht, lag ganz still und sah ihn mit Augen an, die vom reinsten Blau waren. Seltsam mild sahen sie ihn an, als ob sie sagen wollten:
»Sei nicht böse, ich kann nichts dafür, daß ich auch noch kam.«
»Gratuliere!« sagte Janssen, »gratuliere zu allen beiden!«
Sie sah zum Bett hinüber und sagte:
»s' war hart, aber sie hat ihre Sache gut gemacht, die Kleine!«
Janssen trocknete sich die Augen, – oder vielleicht tat sie auch nur so.
Darauf nahm sie ihm die Bündel wieder ab, legte sie vorsichtig aufs Bett und erlaubte ihm, sich einen Augenblick zu seiner Frau auf die Bettkante zu setzen.
Er hielt Annies Hand in seinen beiden heißen, bebenden Händen, bedeckte sie mit Küssen und netzte sie mit Freudentränen.
Sie blickte ihn von der Seite an, ohne ihren müden Kopf zu drehen.
Glücklich und seltsam ernst sah sie zu ihm auf. Sie bewegte ihre armen verzerrten Lippen, und er beugte sich zu ihr herab und küßte sie andächtig, als sei es ein heilig, unantastbar Ding; sie flüsterte:
»Hast du seine Augen gesehen? So blau wie die Blume – die kleine Dienerblume.«
Und sie senkte die Lider, um das Bild festzuhalten, daß es ihr nicht wie der Traum entschwinde.
»Prachtjungen!« sagte Frau Janssen sachlich, indem sie ihre Sachen zusammenpackte. »Vielleicht das eine Bein etwas kürzer als das andere.«
»Was soll das heißen?« Viggo sah sie erschrocken an.
»Ich glaube, daß bei Nummer zwei, dem mit den Himmelaugen, das linke Bein etwas kürzer ist als das rechte. Ganz unbedeutend. Was schadet das? Der Absatz unterm Stiefel etwas höher, das ist alles, und vom Militärdienst wird er frei. Wenn er erwachsen ist, wird es ihn gut kleiden, denn nichts ist so vornehm, als wenn ein Herr den einen Fuß etwas nachzieht.«
Er warf Annie einen ängstlichen Blick zu. Gott sei Dank, sie schlief.