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Halle besuchte den Jardin des Plantes jeden Tag. Sein Professor in der pharmazeutischen Lehrschule verlangte, daß man dort die medizinischen und industriellen Pflanzen studierte. Und Halle liebte diesen Garten, der wie ein Fest im Alltag war, wie eine Freistatt in all dem Lärm.
So zeitig wie heute aber war er noch nie hier gewesen. Die Schlaflosigkeit hatte ihn hergetrieben. Des Hin- und Herwerfens müde, war er beim ersten Morgengrauen, das durch die Fensterläden drang, aufgestanden; er war längs der Kais geschlendert, hatte den Segen der Morgenröte empfangen, die Frühlingstaufe des Windes, und stand jetzt auf dem Walhubert-Platz vor dem Haupteingang.
Er war hier, um fleißig zu sein, und hatte ein ganzes langes Jahr intensiv gearbeitet. Zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen lagen die Vorlesungen. Von neun bis zwölf Uhr waren die Stunden im Laboratorium bei Leroy Frères; nach dem Mittagessen die englischen Stunden und außerdem die Hausarbeiten und die Zeitungen und Zeitschriften, die er lesen mußte.
Wo aber führte das alles hin? Konnte daraus etwas keimen? Wurde er dadurch glücklicher oder besser? Vielleicht konnte man dadurch Geld verdienen, technische Triumphe erringen, eine spannende, schwierige Aufgabe lösen – wo aber blieb die Freude, der Fortschritt des Lebens?
Sollte man sich nicht lieber in den breiten, lebendigen Strom hineinstürzen, mitgewirbelt werden, leiden und leben, sein eigenes junges Herz spüren und das der anderen im Takt mitschlagen fühlen?
Was er gestern gesehen hatte, konnte er nicht vergessen!
Es war in einem kleinen Café in der Nähe des Invalidenhotels gewesen. Er hatte dort gesessen, als zwei junge Menschen hereinkamen, kaum älter als er selbst. Der eine saß in einem dreirädrigen Wagen, den er selbst über das Trottoir durch die Glastür – die Türschwelle überwand er nur mit Mühe – mitten ins Café hineinrollte. Halle wunderte sich, daß der Kamerad, der ihm folgte, keine Hand rührte, um ihm zu helfen. Der junge Mann im Rollwagen scherzte mit der Büfettdame, der andere aber saß still und steif da, ohne eine Miene in seinem bleichen, versteinerten Gesicht zu verziehen.
Der Kellner brachte zwei Gläser Kaffee. Und Halle sah, wie der eine, dem beide Beine abgeschossen waren, sich höher aufrichtete und dem anderen, der keine Hand rührte, das Glas an die Lippen hielt.
Ach, er hatte keine Hände! Halle sah es erst jetzt: die Ärmel hingen leer herab. Darum konnte er dem anderen nicht helfen.
Halle wandte sich ab, um seine Bewegung zu verbergen. Die Welt war voller Verstümmelter, die nicht älter waren als er, er wußte es ja, jetzt aber hatte er es erst ganz verstanden. Und er, dem nichts fehlte, der seine gesunden Glieder hatte, warum war er unzufrieden, wozu verwandte er seine Zeit? Er hatte sein Leben für ein Gelübde eingetauscht, er wollte leben, um Gutes zu tun – und was tat er, um zu lindern?
Dies Erlebnis ließ ihm keine Ruhe. Er fühlte sich so armselig, so bitter einsam in seiner Dachkammer. – –
Er lehnte sich über das Gitter, das die Beete einzäunte. Sie waren erst kürzlich umgegraben worden, die Erde lag warm und locker da und wartete auf den Samen, den sie empfangen sollte; auf anderen Beeten war schon gesät worden, die Erde war geglättet, und frischgemalte Etiketten steckten drin.
In einem umgegrabenen Stück Erde sah er den Rest einer Knolle liegen. Ein kleiner, blasser Keim saß daran. Der Spaten hatte ihn dem Tage zugekehrt, wo er noch nicht hingehörte. Halle beugte sich herab und erreichte die Knolle durch das Gitter. Er grub ein frisches Loch in der lockeren Erde und legte die Knolle hinein, den Keim der Erde zugewandt, die ihn nähren sollte. Das alte Schild stand vergessen am Rande. Gladiolus cardinalis stand darauf. Ob der Krim jetzt wachsen würde? – War er selbst nicht auch solch ein Keim, der nach der richtigen Seite gewandt werden mußte? Adele hätte die Fähigkeit dazu besessen, würde er sie je wiedersehen?
O Gott, führe mich auf den rechten Weg, damit ich durch deine Kraft nach meiner Art wachsen kann!
Nachdem Halle bei Duval an der Gare de Montparnasse, wo seine Straßenbahn zum Laboratorium endete, gegessen hatte, schlenderte er durch den Garten des Luxembourg, anstatt zu seinen Vorlesungen zu gehen. Es war das erstemal, daß er seine Arbeit vernachlässigte; im Winde aber war solch mächtiges Frühlingsbrausen, in seinem Gemüt solch zitternde Unruhe, daß er sich nicht zur Arbeit konzentrieren konnte.
Das halbe Paris schien von derselben Unruhe ergriffen zu sein. Kontoristen mit Blumen im Knopfloch und ehrbaren Aktenmappen unterm Arm hatten sich mitten in ihrer Bureauzeit, in der Sonne, unter den noch kahlen Bäumen der Allee, mit ihrer Familie ein Stelldichein gegeben. Handwerker, Künstler in Samtjacken und Mützen ergingen sich mit ihren Liebchen auf den verschlungenen Wegen der graziösen Gebüsche, wo der Maler der galanten Feste sich niedergelassen hat. Junge Mädchen mit Leinenkitteln über den kurzen Kleidern kamen zwitschernd Arm in Arm aus den Werkstätten, der Übermut wegen der gestohlenen Minuten blitzte ihnen aus den Augen. Ammen aus der Bretagne, mit treuen Augen und daunigen Schatten auf der Oberlippe, saßen behäbig auf den Bänken. Da waren englische Nurses mit blonden Haaren, blaß wie Sellerie, da waren glücklich stolze Mütter, die die Kinderwagen selbst durch das Gedränge steuerten. Großmütter saßen auf den Mietstühlen und tauschten Erfahrungen über Ehe, Kinderpflege und Teuerung aus, während sie zu gleicher Zeit nähten und auf die Kinder achtgaben, die sich auf eigene Faust in der breiten Allee küßten und zankten. Reifen und Holzpferde stießen mit Eisenbahnen und Autos zusammen, während plumpe Pelzbären den zierlichen Sonntagsstaat kleiner Puppen in Unordnung brachten.
Wie er so schlenderte, vom Frühling überwältigt, niedergedrückt von dem verblassenden Vorsatz, dem entweichenden Willen, führte der Wind ihm einen Hauch zu, eine flüchtige Liebkosung eines bekannten Duftes – und er drehte sich hastig um –
Ein strahlender Blick – ein pelzverbrämtes Barett in der dunkelweichen Farbe des Haares, das reine Oval der Wange in der weichen Einfassung eines Pelzkragens; ein mausgrauer Mantel in schlanken Falten um einen beherrschten Körper; der Muff, weich und dunkel wie der Pelzkragen, in jubelnder Freude des Wiedererkennens hochgehoben –
Adele –
Alles Blut strömte ihm zum Herzen; und im selben Augenblick wußte er, daß er sie liebte, daß die Entbehrung in seinem Gemüt nur Sehnsucht nach ihr gewesen war, Leere ohne sie, Losgerissenheit von dem, was in seinem Herzen Wurzel geschlagen hatte.
Adele –!
Er ergriff ihre Hand und konnte vor Bewegung nicht sprechen. Der zarte, weiche Handschuh – ach, es war ja der, den sie zur Belohnung für ihre Bemühungen um sein Französisch bekommen hatte – er sah Tante Nette mit der Brille auf der Nase, hörte wieder Adelens zwitschernden Dank – jetzt aber stand sie leibhaftig vor seinen Augen, etwas magerer vielleicht, die Augen aber noch dieselben, der offene Blick, forschend, liebevoll, unergründlich.
Hatte sie sich auch gesehnt? Er wagte sie nicht zu fragen, aber sie konnte seine Gedanken ja lesen. Warum entzog sie ihm ihre Hand? War ihr plötzliches Erröten eine Antwort? Ja, ja, jubelte es in ihm, sie hatte sich nach ihm gesehnt.
Sie lustwandelten zusammen in dem Garten ihrer Kindheit; er hatte die Empfindung, als ob jetzt er bei ihr zu Hause sei. Er sagte es ihr, und sie blickte hastig zu ihm auf, während ihre Hand seinen Arm berührte, als ob sein Blick sie zöge.
Darauf aber trat sie einen Schritt von ihm zurück und sagte ernst:
»Auf dem Jagdwege bin ich trotz allem eine Fremde geblieben.«
Trotz allem – was meinte sie damit?
Sie blieben jeden Augenblick stehen. Bald wollte sie sehen, wie französisch er geworden war und wie er, ihr alter Schüler, die Sprache beherrschte! Bald wollte er Klarheit über irgend etwas haben. Während sie dann sprach, vergaß er ganz, was er eigentlich gefragt hatte, hörte nur halb zu, um alles noch einmal zu erleben: die klare Stirn, die blanken, schwarzen Brauen, die Augen – vor allen Dingen die Augen, aber auch die Wange, so bestrickend gerundet und doch so vornehm unnahbar.
Ach, er war wieder nach Hause gekommen; und sie, war es nur der Pariser Frühling, der ihr das Blut in die Wangen trieb –?
In ihren Augen aber war etwas Neues, was den Glanz ihres Blickes brach, wenn er dem seinen begegnete, als ob sie einen Schleier davorzöge. Auch das Lächeln war neu, als ob die Oberlippe etwas von ihrer Festigkeit verloren hätte, als ob sie von Tränen geküßt sei, die schwindlig und froh machen –
Lange gingen sie so unter der Frühlingssonne. Sie sahen, ohne etwas zu sehen, und dennoch klopften ihre Herzen, sein unerfahrenes und ihr weiblich wissendes, im Takt mit allem ringsumher.
Sie wanderten, bis die Trommel erklang, weil der Garten geschlossen werden sollte, und bis der Himmel, den der Tag wolkenlos gemacht hatte, blaß wurde und wieder in den Winter hineinglitt, die Ausgelassenheit von sich abschüttelnd, das unzeitige Werk der Sonne.
Erst nachdem die kurze Dämmerung sich auf die blätterlosen Bäume herabgesenkt hatte, nachdem die Laternen angezündet waren und sie es sich in einem kleinen Café an der Ecke von Montparnasse bequem gemacht hatten, spürten sie, wie hungrig sie waren, und Halle hatte zum erstenmal die Freude, ihr Wirt und Beschützer zu sein.
Sie wußte, wo er wohnte, hatte ihn dort während seiner Abwesenheit ausgesucht und war in den Luxembourg-Garten gegangen, um sich die Zeit zu vertreiben, bis er zurückkehren würde.
Halle meinte, es sei eine Schickung, daß er gerade heute – zum erstenmal – seine Vorlesungen versäumt habe, etwas in ihm habe gewußt, daß er sie an diesem Frühlingstage treffen sollte, er habe nur einer inneren Stimme gehorcht. Sie lachte ihn aus, ihre Augen aber sagten, daß sie ihn verstehe, wie sehr der Mund auch leugnete.
Er wurde eifrig, und in seinem Eifer verriet er, wie er sich nach ihr gesehnt, wie er gelitten hatte. Und als er es erst gestanden hatte, wurde er freier; sein Blick wurde fest und männlich und forderte von ihr, was sie ihm genommen hatte.
Sie, die Überlegene, wurde plötzlich klein. Verlegenheit beschattete ihre Stirn bei dem Gedanken, daß sie in dem großen Paris ganz allein waren. Sie wendete den Blick von ihm ab, um ihn im nächsten Augenblick voll zu ihm aufzuschlagen.
Vorhin, als sie aus dem Garten in den Ernst der Straße getreten waren, war sie plötzlich stehengeblieben und hatte gesagt, daß sie ihm etwas Trauriges mitzuteilen habe; gleich darauf aber hatte sie es wieder vergessen, über dem Glück, wieder in Paris und mit ihm zu sein. Als sie nun aber gegessen hatten und sich gegen die Spiegellehne des Sofas zurücklehnten, fiel es ihr wieder ein.
Sie richtete sich auf und legte ihre Hand auf die seine.
»Halle, wir müssen ernst sein.«
Wie er ihre Hand kannte, die zarten Formen, die rosige Weiße, die spitzen Finger, die schlanken Nägel – er beugte sich herab und küßte sie.
»Nein,« sie zog sie zurück, »sei vernünftig und höre zu.«
Sie wußte selbst nicht, daß sie ihn geduzt hatte.
»Also erzähle,« sagte er und lehnte sich mit einem glücklichen Lächeln zurück.
Kaum hatte sie begonnen, als sie erschrak. Über der Wiedersehensfreude hatte sie ganz das Unglück vergessen, das den jungen Mann, der ihr so teuer war, betroffen hatte.
Sie zögerte –
Halle meinte, sie sammele ihre Gedanken.
Du liebst ihn ja, sagte eine Stimme in ihrem Herzen; und sie senkte ihre Lider, damit ihr Blick sie nicht verrate.
Es überwältigte sie. Sie strich sich über die Brust, als ob die Bluse ihr zu eng sei, eine Bewegung, die Halle so gut kannte, – und schließlich sammelte sie sich und begann zu erzählen.
Harald Hvilding war mit in den Wirbel, der Kopenhagen und die Börse heimgesucht hatte, hineingerissen worden. Er hatte mit dem Vermögen seiner Frau, mit seinem eigenen und dem Gelde der Familie spekuliert. Alles war bei dem ewigen Auf und Nieder aufgesaugt worden, und schließlich war er der schicksalsschweren Versuchung verfallen, den letzten Vogel aus der Hand zu lassen, um dadurch die zehn anderen, die davongeflogen waren, zurückzulocken. Harald Hvilding hatte alles gewagt, in der besten Absicht, wie die tausend anderen, denen der Wirbel weder Zeit noch Besinnung ließ, mit dem Unberechenbaren, das von außen oder von oben kommt, zu rechnen – dem Donner über dem Dache. Der Bankdirektor war dem Bankrott entronnen, aber alles Geld war verloren. Seine Frau war gestorben, bevor der Schiffbruch sie zwang, vom Überfluß zu den bescheidensten Verhältnissen überzugehen. Minna und er wohnten jetzt in einer Dreizimmerwohnung.
Onkel Jonas hatte seinen Abschied bekommen und behielt nur noch seine Pension. Er und Tante Nette waren in Minnas und Adeles Zimmer unter dem Dach gezogen, Tür an Tür mit Tante Hanne und Tante Mine.
Nur Per, der Leichtsinnige und Unpraktische, der nichts von Geldgeschäften verstand, hatte sein Schäfchen im trocknen, weil er in seinem törichten Eigensinn sein Vermögen selbst hatte verwalten wollen. Die Zuschüsse, die er beim Mietstermin und bei anderen Gelegenheiten Tante Hanne und Mine abgefordert hatte, gaben den beiden Alten jetzt gute Zinsen. Ohne Per würden sie auf ihre alten Tage Not leiden.
Per hatte Adele in die Verhältnisse eingeweiht, er hatte es auf Französisch getan, weil es solche kitzlige Sache war. Er hatte Tränen in den Augen gehabt, denn er hatte sie in sein Herz geschlossen und meinte, es müsse doch ein harter Schlag für ein junges Mädchen sein, solch gute Stellung bei so liebenswürdigen Menschen zu verlieren, wie die Mitglieder seiner Familie, ausgenommen Harald, doch alle waren. In der Erleichterung seines Herzens hatte er ihr ein dreimonatliches Gehalt ausgezahlt, weil sie ihrer Stellung so plötzlich beraubt worden war.
Er war es auch, der sie bat, als er hörte, daß sie nach Paris reisen wollte, Halle aufzusuchen und ihm mündlich von den traurigen Ereignissen zu erzählen und ihm schonend zu sagen, daß er nun ein armer, junger Mann aus einer armen Familie sei. Keiner hatte es übers Herz gebracht, ihm zu schreiben – das war der Grund, weshalb Halle solange nichts gehört hatte. Man hatte es von Tag zu Tag aufgeschoben, bis der Tag sich näherte, an dem er es erfahren mußte, der Tag, an dem er sein Monatsgeld auf der Bank nicht mehr abheben konnte.
Auch dies hatte Per geordnet. Er war zu A. Dams Prokuristen gegangen, und, indem er ihn daran erinnerte, daß Onkel Jonas und er ihm einst Geld geliehen hatten, überredete er ihn, einen bescheidenen Platz für Halle im Laboratorium offenzuhalten. – –
Während Adele berichtete, hatte sie ihn nicht angesehen. Sie saß vornübergebeugt, die Ellenbogen auf dem Tisch. Halle hatte sich ins Sofa zurückgelehnt. Im gegenüberliegenden Spiegel sah sie, daß seine Augen auf ihrem Profil ruhten; den Ausdruck seines Gesichtes aber konnte sie nicht erkennen.
Jetzt drehte sie sich um und begegnete seinem Blick.
Sie sah weder Kummer noch Sorge darin, nur eine so lebhafte Gespanntheit, daß sie sie wie einen heißen Strom in ihrem eigenen Herzen empfand. Seine schmalen Lippen bebten vor Erwartung, indem er sich zu ihr beugte. Sie mußte die Augen niederschlagen, und ihr Herz begann heftig zu klopfen.
Wo war der Knabe, den sie hatte trösten wollen? – Sie fühlte plötzlich, wie eine schmerzende Entbehrung in ihrem Herzen aufbrach und ein anderes jubelndes Gefühl statt dessen hereinstürmte. Es schwindelte sie, sie fühlte es bis in die Knie hinein, mit einer seligen Müdigkeit. Sie wagte sich nicht zu rühren, nicht zu sprechen, sonst hätte sie sich an die Brust des großen Mannes geworfen, der dort neben ihr saß und sie mit solch männlichem Herzen an sich zog.
Was war das? Er war ja ein ganz anderer geworden, und so schnell war die Veränderung gekommen, daß ihr ganz angst wurde, fast wünschte sie sich den Knaben zurück, den sie mütterlich um den Kopf fassen und auf die Stirn küssen wollte, wie sie es so oft in Gedanken und das eine Mal in der Wirklichkeit getan hatte, als er vor Kummer über den Tod der Mutter krank im Bette lag.
»Adele,« sagte er und beugte sich über sie, »woran denken Sie?«
»Ich?« Sie blickte zu ihm auf.
»Was wollen Sie jetzt beginnen?«
»Ich werde mir schon durchhelfen – wir wollen von Ihnen sprechen.«
»Adele,« bat er wieder, nahm ihre Hand – und verstummte plötzlich.
Sie zog ihre Hände zurück und beugte sich über den Tisch.
»Erzieherin will ich jedenfalls nicht mehr sein.« Sie rümpfte die Nase. »Ich kann zu meiner Tante nach Lyon fahren und dort bleiben, bis ich etwas Passendes gefunden habe. Vielleicht hat Onkel Jacques in Bordeaux eine Stellung für mich in seinem Gaswerk.«
Sie sah ihn nicht an, während sie sprach. Sie wußte ja, daß sie nicht abreisen würde; aber es reizte sie, ihre Macht zu gebrauchen.
Die Angst, sie zu verlieren, lag wie eine stumme Bitte in seinen Augen. Sie wandte sich mit leuchtenden Augen an ihn und sagte ausgelassen:
»Finde ich nichts anderes, kann ich eine Stellung als Haushälterin annehmen, Haushaltung habe ich bei meiner Tante gelernt.«
Kaum hatte sie die Worte gesagt, als sie ihre Wirkung fühlte. Aber es war zu spät.
»Adele!«
Er ergriff ihre Hand, sein Gesicht wurde blutrot.
Ihr Blick bat ihn, zu schweigen, aber es war zu spät. Ihre Hand, die in der seinen lag, sprach von dem Verlangen ihres Herzens.
»Wieviel Geld hast du?«
»Sechshundert Francs,« flüsterte sie.
»Und wieviel hast du für mich?«
»Zweihundert für die Reise und außerdem dreihundert.«
»Das sind zusammen elfhundert. Hundertundfünfzig verdiene ich im Monat bei Leroy –«
Er blickte erhobenen Kopfes in die strahlende Zukunftsperspektive –
»Und ich kann mehr verdienen, wenn ich will.«
»Halle!« Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber es war zu spät.
»Adele!«
Es war der Blick eines Mannes, der sich tief in den ihren senkte und sich sein Eigentum nahm.
Sie legte ihre Hände um seinen gesenkten Kopf. Seine Lippen zitterten den ihren entgegen –
Sie waren allein in der Welt.
Am nächsten Morgen holte Halle Adele im Hotel ab.
Sie gingen zusammen in den Garten der Tuilerien, wo die frisch umgegrabenen Blumenbeete in der Sonne leuchteten.
Sie standen auf der Terrasse hinter der Orangerie und blickten über den blendenden Spiegel der Place de la Concorde.
An dieser selben Stelle hatte Adele vor sechs Jahren gestanden, an der Seite eines anderen jungen Mannes, und über denselben weißen Platz geblickt, einem Frühling entgegen, der strahlend über den Triumphbogen heraufstieg. Das aber sagte sie nicht.
Sie blickte von der Seite auf Halles elastische Gestalt, den freimütig aufrechten Nacken, und sie lächelte über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war: der Knabe war vor ihren Augen zum Manne geworden.
Sie löste sich aus seinem Arm, der um ihre Taille lag, und wandte sich ihm zu, den Rücken der Balustrade zugekehrt. Sie blickte ihm in die Augen und sagte in ihrem bekannten, mütterlich besorgten Ton:
»Wohin soll es führen? – Fördert es dich in deiner Ausbildung, wenn du hier bleibst und mit mir lebst?«
Er dachte an den Keim, den er zur richtigen Seite gewandt hatte.
Er dachte an seine Bitte – und sieh, sie war erfüllt worden. Sie, die alles für ihn sein konnte, war gekommen.
»Das, wozu ich ausgebildet werden soll –«
Er hielt inne, denn plötzlich wurden alle Fasern in seinem Gemüt durch eine Klarheit gespannt. Ein blankes Lächeln leuchtete ihm aus den Augen, und das Blut schoß ihm zu Kopfe.
»Ich will reich sein,« brach es von seinen lachenden Lippen, seine weißen Zähne leuchteten, und sie fühlte an ihren Schultern, wie der Ausruf ihm bis in die Fingerspitzen hineinbebte –
»Ich will die Macht besitzen, die der Reichtum gewährt, das ist die Ausbildung, die ich brauche – um zu meinem Ziel zu gelangen.«
Sie umschlang ihn mit ihren Armen und zog ihn zu ihren Lippen herab, halb mitgerissen von seinem Flug, halb in Angst, daß er ihr genommen würde und sie von neuem ihr Glück hergeben müßte.
Sie nahmen den Autobus bei der Brücke und fuhren zum Boulevard Montparnasse. Adele führte an. Sie suchten ein Hôtel meublé auf der Sonnenseite und mieteten zwei kleine Zimmer. In dem einen war ein Kochofen, dessen Rohr in den Kamin ging, seinetwegen hatte Adele sich für diese Räume entschieden.
Sie kauften das notwendige Koch- und Eßgerät in einem Geschäft an der Ecke; sie wußte genau, was sie haben wollte.
»Man sollte fast meinen, es wäre nicht das erstemal,« neckte er sie.
»Das ist es auch nicht,« antwortete sie und beugte sich über eine Reihe Spritapparate, die der Größe nach aufgestellt waren.
Was meinte sie damit?
Er wollte fragen; der feste, weiße Nacken aber, der aus dem Pelzkragen leuchtete, sagte: Frage nicht!
Nein, er wollte nicht fragen, wollte nichts wissen. Eines Tages würde sie es ihm von selbst anvertrauen. Er wollte sie so von ganzer Seele lieben, daß jede Erinnerung an ein früheres Glück in ihrem Herzen welken müßte. Keine andere Liebe sollte es mit seiner aufnehmen können, geschweige eine Erinnerung, die nur eine Spiegelung war.
Im Laboratorium war Halle fleißiger als vorher. Herr Legrand bemerkte staunend, wie dieser Fremde, der ihm als Lehrling aufgezwungen worden war, plötzlich Interesse für seine Arbeit bekam und große Fortschritte machte; wenn dieser Däne genug gelernt hatte, würde er natürlich nach Hause reisen, um seine Kunst dort zu verwerten. Was aber hatte Herr Legrand davon? Nichts als Mühe und Zeitverschwendung. Was hatte Frankreich davon? Es verlor Kunden in Dänemark, weil man dort lernen würde, die Waren selbst herzustellen.
Plötzlich aber begann Monsieur Alfdann Nutzen zu tun; und er schien auch nicht die Absicht zu haben, so bald fortzureisen. Im Gegenteil, eines Tages erkundigte er sich, unter welchen Bedingungen er fest angestellt werden könnte. Legrand konnte ihm manche Arbeit anvertrauen und sich selbst entlasten.
Denn Legrand war seit zweiundzwanzig Jahren bei Leroy Frères und bedurfte der Entlastung. Nicht allein sein Verhältnis zu den Frauen, das so häufig der Veränderung bedurfte, zehrte an seinen Kräften und seinem Haarwuchs, sondern auch eine heimliche Leidenschaft, der Halle durch einen Zufall auf die Spur gekommen war.
Legrand war in seiner Jugend mehrmals in Tongking gewesen, um den Einkauf von Moschus zu organisieren, und bald hielt man ihn in Paris für die feinste Moschus-Nase. Auf diesen Reisen nach Tongking nun hatte Legrand, wie so viele andere Südfranzosen, an Opium Geschmack gewonnen. Seine Stellung hatte ihm Zutritt zu allen möglichen Fabrikaten verschafft, und die Neigung war mit den Jahren zu einem Laster geworden, das seine Konstitution untergrub.
Oft hatte Halle sich über Legrands Gereiztheit, die starken Schwingungen seines Gemütes geärgert. Tagelang tat er nichts im Laboratorium, saß nur schlaff zusammengesunken in seinem Stuhl, um sich schließlich in seinem Privatkontor einzuschließen. Seitdem Halle durch einen Zufall die Ursache entdeckt hatte, tat der Mann ihm leid. Er richtete sich nach ihm, nahm ihn dem Personal gegenüber in Schutz und erleichterte ihm die Arbeit nach Möglichkeit. Legrand beobachtete ihn zuerst mißtrauisch, als er aber sah, daß es ehrlich gemeint war, schloß er Halle in sein Herz. Halle wurde ihm unentbehrlich und besaß sein volles Vertrauen. Und eines Tages bot er ihm unaufgefordert eine Gehaltserhöhung an, um ihn zu halten.
Die Damen in der Emballageabteilung wechselten häufig; und als Halle eines Tages, nach Rücksprache mit Adele, Legrand bat, Adele dort einen ledigen Platz zu geben, war er gleich dazu bereit.
Halle wußte, daß es ein gefährlicher Posten für ein junges Mädchen von Adeles Äußerem sei, und gab darum Legrand mit Absicht zu verstehen, in welchem Verhältnis er zu Adele stand. Legrand lächelte und ermahnte ihn mit erhobenem Zeigefinger, Liebe nicht mit Arbeit zu vermengen.
Am nächsten Tage stellte sich Adele bei Legrand vor. Er fand sie hübsch und äußerte sich nachher, wie es seine Gewohnheit war, über ihre weiblichen Vorzüge. Halle machte ein bedenkliches Gesicht. Legrand, der von seiner eigenen Unwiderstehlichkeit überzeugt war, fand Halles Besorgnis ganz begreiflich, tröstete ihn aber damit, daß er ebensowenig auf seinem Gebiet jagen würde, wie Halle sich auf seines wagen dürfte; so gehörte es sich unter Kavalieren.
Halle sann und sann. Es war schwer, mit dem, was sie besaßen, auszukommen, noch schwerer, etwas zurückzulegen.
Eines Tages aber kam er triumphierend nach Hause und zeigte Adele einen Überschuß aus dem vergangenen Monat, von ganzen siebenunddreißig Francs. Er rechnete ihr vor, wieviel er am Schlusse des Jahres zurückgelegt haben könnte, wenn er jeden Monat siebenunddreißig Francs sparte – oder warum nicht fünfzig Francs? Die fehlenden dreizehn waren ja nicht der Rede wert. Das war Halles Theorie.
Adele, die wie alle Frauen des französischen Mittelstandes, von Geburt sparsam war, küßte ihn wegen seiner Begeisterung. Hatte er aber auch bedacht, daß mit Ende des Sommers neue Ausgaben bevorstanden, für Winterzeug und Kohlen? Hatte er bedacht, daß die Preise beständig stiegen? Die siebenunddreißig Francs waren ja sehr schön, zum Herbst aber würden sie vielleicht nicht mehr als fünfundzwanzig wert sein. Und eigentlich brauchten sie sie, um weniger günstige Monate damit aufzuwiegen, kurz und gut, als Überschuß waren sie kaum zu rechnen.
Sie hatte natürlich recht: gespart waren sie nicht. Und als Halle zum erstenmal sein erhöhtes Gehalt bekam, machte er noch eine Erfahrung: durch irgendeine mystische Beziehung stiegen die Ausgaben im selben Verhältnis wie die Einnahmen, ja, fast noch mehr, so daß der Monatsabschluß fast noch ungünstiger war als der vorhergehende. Der Weg zu Reichtum lag also nicht hier.
»Mein Gott, Halle,« sagte Adele, als ob es eine alte Weisheit sei, »keiner kann doch durch seine Arbeit allein reich werden, denn der Arbeitslohn ist im Grunde nie größer als die Arbeit. Wer besser arbeitet, verbraucht auch mehr; und tut er das nicht, wird er eines Tages merken, daß er um sein Leben betrogen sein wird. Darum hat es auch keinen Zweck, darüber zu grübeln, wie man sparen kann.«
»Aber hör' mal –«
»Man verliert sich an Kleinigkeiten und vergißt sich nach einer Chance umzusehen. Nur indem man eine Chance ergreift, kann man reich werden, wenn man sie verfolgt und Glück hat. Die Chance aber kommt nur zu dem, der sie sucht.«
Adele hatte immer recht. Und Halle sah sich nach der Chance um.
Eines Nachts lag er wach und hörte die Kirchenuhr schlagen. Er war des Denkens müde, warf sich hin und her und konnte keine Ruhe finden. Schließlich stand er auf und ging zu Adele hinein.
Bleiche Dämmerung sickerte durch die halbgeschlossenen Fensterläden. Er setzte sich auf ihren Bettrand und bewachte ihren Schlummer.
Die Oberlippe zitterte beim Atmen, sie war etwas hochgezogen, so daß er die Zähne sehen konnte. Die langen, dunklen Wimpern lagen auf der Wange. Es sah aus, als ob das weiße Gesicht auf dem dunklen Haar schwamm, das in schwerer Fülle auf dem Kopfkissen, der Brust und den nackten, runden Schultern lag.
Der Duft ihres gesunden, warmen Körpers stieg zu ihm auf, innig vermengt mit dem Parfüm, womit alles, worin sie sich kleidete, gesättigt war. Er erinnerte sich, daß dieser Duft das erste war, was ihm an ihr aufgefallen war, an jenem Tage, als er aus der Schule kam und sie in Tante Nettes Wohnstube sitzend fand. Und dieser Duft hatte ihn gerufen, als er sie im Garten des Luxembourg wiedersah.
Er hatte sie einmal nach der Zusammensetzung gefragt; sie aber kannte sie nicht. Sie bekam jedes Jahr eine Flasche von ihrer Tante zum Geburtstag, die das Parfüm nach einem Rezept herstellte, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Legrand war gleich am ersten Tage, als Adele ihm vorgestellt wurde, auf das Parfüm aufmerksam geworden und hatte Halle danach gefragt; Halle aber hatte eine ausweichende Antwort gegeben, er vermied instinktiv alles, was zu einer persönlichen Verbindung zwischen Legrand und Adele Veranlassung geben konnte.
Er konnte kaum unterscheiden, was Duft des Körpers und was Duft der Essenz war. Vielleicht hätte Legrand es gekonnt, der so viele Essenzen komponiert, die Pariserin erobert und ein wohlhabender Mann dadurch geworden war. Was würde Legrand darum geben, wenn er durch ein Extrakt eine so innige Vereinigung von Frauenaroma und Blumenduft finden könnte! Ein Vermögen würde es bedeuten! –
Da war ja die Chance! So nah lag sie, daß er fast darübergestolpert wäre.
Er konnte nicht warten.
»Adele,« rief er und beugte sich über sie.
»Adele!«
Sie schlug die Augen auf, groß, dunkel, erstaunt.
Er küßte sie – und sie war wach. Sie richtete sich auf, schüttelte das Haar zurück, hielt das Nachthemd über der nackten Brust zusammen und lächelte ihm zu.
»Was ist?«
»Ich hab's« – und er erzählte.
Ja, das war die Chance, das war der Weg zu Reichtum, wenn sie ihn zu greifen und auszunützen verstanden.
Sie wollten wegen des Rezeptes an ihre Tante schreiben. Hatte er erst das Rezept, dann würde es ihm schon glücken. Außer dem Rohstoff waren die Unkosten nicht groß. Nachmittags, wenn er allein im Laboratorium war, konnte er die Apparate gebrauchen. Sobald sie einen genügenden Vorrat hatten, wollten sie sich etablieren. Sie sollte für die Emballage und alles Praktische sorgen. Zuerst wollten sie unterderhand verkaufen, bis ihre Marke bekannt geworden war. Annoncen konnten sie sparen, indem sie selbst Reklame machten; nichts leichter als das, sie brauchten sich nur dort zu zeigen, wo viele Damen waren, und konnten, als ob sie sich zufällig getroffen hätten, von der neuen Marke sprechen, zum Beispiel nachmittags im Louvre, in den vornehmen Abteilungen. – Einen flotten Namen mußte man natürlich finden, verlockend und schlagend. Mit großen Buchstaben mußte er auf dem Prospekt stehen, auch ihr Name und ihre Adresse, so daß jede, die gern unter den Auserwählten sein wollte – welche Dame wollte das nicht? –, ihn im Vorbeigehen lesen konnte. Sie konnten den Prospekt auf dem Boulevard verlieren, in Cafés und Konditoreien vergessen, in Omnibussen liegenlassen, in Eisenbahnabteilen auf den Sitzen ausbreiten, wenn sie allein waren, ach, es gab hundert Wege.
Halle starrte mit großen Augen vor sich hin, während er dichtete und ausgestaltete, reich wurde, plötzlich aber hörte er ein Geräusch auf dem Kopfkissen und drehte den Kopf um –
Adele weinte.
»Aber Adele!«
Sie wehrte seinen Händen und wollte nicht sagen, weshalb sie weinte.
Er drang in sie, legte den Arm um ihre Taille und drehte ihr Gesicht zu sich herum, um sie zum Sprechen zu bewegen.
Sie sah ihn an, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen:
»Du hast es also nicht verstanden,« sie zögerte noch immer, dann aber fuhr sie mit steigender Heftigkeit fort, »daß dies Parfüm ein Teil von mir ist, wie es auch ein Teil meiner Mutter und deren Mutter war, – mir gehört es –«
»Ja, aber –«
»Und du, der du mich liebst, willst es auf Gassen und Straßen ausstreuen, an Damen und Dirnen, wie es gerade trifft, des lumpigen Geldes wegen – etwas, was ich bin, ich allein. Fi donc!«
Halle versuchte ihre Hände zu nehmen, aber sie entzog sie ihm.
»Adele, ich verstehe dich nicht –«
»Nein, du verstehst mich nicht.«
»Hör' mich an!« Er nahm ihre Hand, gegen ihren Willen, und hielt sie fest – ach, es tat ihrem Herzen wohl, daß er sie so fest hielt – »Hast du nicht selbst gesagt, du würdest alles tun, um reich zu werden? Habe ich nicht von dir gelernt, daß es nur das eine gibt: die Chance zu suchen und festzuhalten?«
»Ich spreche jetzt nicht von Geschäft,« sie hob stolz den Kopf, »ich spreche von Liebe.«
Und sie fügte hinzu, als ob sie ihm damit den eigentlichen Grund preisgab:
»Wer eine Frau liebt, kann nicht solchen manque de délicatesse beweisen, jedenfalls kein Franzose.«
Einen Augenblick kämpfte sie mit ihrem Stolz, während sie ihn betrachtete. Es war nicht wie vor sechs Jahren – aber sie liebte ihn, er war so jung und stark, sie konnte ihn nicht mehr entbehren. Und sie schloß ihn schweigend in ihre Arme.
Eines Tages kam Legrand in einem Auto angefahren, was großes Aufsehen in der Emballage erweckte, wo man seine Sparsamkeit kannte.
Er kam hereingestürmt, schlug die Tür hinter sich zu, rannte auf seinen Schreibtisch zu und warf Hut und Aktenmappe auf den Tisch.
»Erledigt!« sagte er.
Halle sah ihn erstaunt an.
Todmüde, blaß, mit Schweißtropfen auf der Stirn – und was war das: das Haar, sonst schwarz und blank und zierlich frisiert, war heute silbergrau. Was mußte der kleine eitle Mann durchgemacht haben, wenn er sich so vernachlässigte.
Es ging Halle zu Herzen, wie er dort saß und mit seinen kleinen erloschenen, tiefliegenden Augen vor sich hinstarrte.
»Was fehlt Ihnen, Herr Legrand?« fragte er teilnahmsvoll.
»Ich bin erledigt. Es ist kein Moschus mehr in meinem Schrank.«
Nichts weiter, dachte Halle und atmete erleichtert auf.
»Begreifen Sie, was das heißt, Mensch, keinen Moschus mehr! Wie in aller Welt sollen wir › La Merveilleuse‹ und › Reine Claude‹ und wie das Zeug alles heißt, was die Leute haben wollen, ohne Moschus herstellen? Wir können den Laden ebensogut gleich schließen.«
»Sie sagen kaufen!« Halle hatte kein Wort gesagt. »Glauben Sie vielleicht, daß ich nicht schon alles versucht habe? An ganz Paris und halb Europa habe ich während des letzten Monats geschrieben. Aber nicht ein Gramm ist aufzutreiben, jedenfalls nicht von dem echten! Ich bin von einem zum anderen gerannt, ich, der berühmte Legrand, habe mich herabgelassen zu bitten – oh, wie die anderen triumphieren!«
Er raste, ergriff einen Aschenbecher und schleuderte ihn zur Erde. Er bekam Luft und fuhr fort:
»Mayer & Fils haben alles, was es an echtem Moschus auf dem Markt gab, aufgekauft. Diese durchtriebenen Schurken haben vorausgesehen, daß der Import wegen des Aufruhrs in Südchina ins Stocken geraten würde, wie auch der sibirische Schund vom Markte verschwand, als Rußland Bankrott machte. Sie haben einen Mann im Ministerium gehabt, der sie auf dem laufenden gehalten hat. Sie waren klüger als ich. Ja, ja, klüger!« brüllte er und starrte Halle an, während er mit der Faust auf den Tisch schlug, daß Reagenzgläser und Schalen klirrten.
»Jetzt haben sie uns geschlagen, und es ist meine eigene Schuld. Ich trage die Verantwortung für die Rohstoffe. Das ist Pierre Legrand zum erstenmal in seiner zweiundzwanzigjährigen Praxis passiert.«
Er sank in einen Stuhl und schwieg einige Minuten. Halle hütete sich, ihn zu stören.
Darauf tat er einen tiefen Atemzug und fuhr ruhig und müde fort:
»Alle größeren Agenturen antworteten ablehnend, ›es wird Herrn Legrand ja bekannt sein, daß in dem letzten halben Jahr gar nichts eingeführt worden ist‹. Das kommt davon, wenn man auf lange Zeit versorgt war. Man wird bequem, vergißt aufzupassen. Wenn ich bedenke, wie ich früher nur zu telephonieren brauchte, und bevor vierundzwanzig Stunden um waren, hatten wir die feinste Ware im Hause. Man sollte glauben, daß Mayer & Fils ihre Spione in der Fabrik gehabt haben, sie haben ausgerechnet, daß ich auf dem trocknen sitze, oder die Agenten haben es ausgeplaudert, daß ich soundso lange nicht gekauft habe; Mayer kann natürlich leicht ausrechnen, wann wir am Ende sind, weil er ja genau weiß, wieviel wir produzieren. – Ich war bei Leuten, die ich sonst nicht mit einer Feuerzange anrühren würde. Sie erfaßten die Lage denn auch gleich. Sie könnten die Ware verschaffen, aber sie sei teuer. Ich war also heute da, um zu sehen, was sie hatten. Sie hätten sehen sollen, was man mir anzubieten wagte, mir, Legrand, dem ersten Moschusexperten in Frankreich. Beutel voll, sage ich Ihnen, von getrocknetem Blut, Harz, kleinen Steinen, Seifenlauge, all diesem verfälschten Dreck, der schon vor dem Kriege ausrangiert war. Und hochmütig waren sie, neckten mich mit Mayer, fragten mich, was wir jetzt anfangen wollten?
»Gestern hatte ich einen Zusammenstoß mit der Direktion. Das eine Wort gab das andere. ›Gut, Herr Legrand, Sie können jeden Augenblick von Ihrem Kontrakt gelöst werden! Aber ohne Moschus, das wissen Sie ja selbst, können wir unsere Marken nicht herstellen.‹«
Er fuhr in die Höhe und rannte im Zimmer auf und ab.
»Ach, daß man verbraucht ist, zugrunde gerichtet von Frauenzimmern und –«
Er hielt inne und sandte Halle einen hastigen Blick.
»Ach, Halfdann, wenn ich Ihre Jugend hätte!« Die beiden kleinen Augen erloschen, wurden zu zwei nassen Klecksen unter den buschigen Brauen.
»Was würden Sie dann tun?« fragte Halle leise.
»Das will ich Ihnen sagen, ich würde Mayer & Fils einen Strich durch die Rechnung machen. Ich würde nach Indien fahren, von Süden über Assam in den betreffenden Distrikt – dort bin ich schon früher gewesen. Ich würde den Aufruhr und die chinesischen Juden in Kanton, die Aufkäufer in Tongking und Hanoi und Bhamo umgehen, würde die Jäger selbst aufsuchen, ihnen für die beste Ware Preise bieten, von denen sie nie geträumt haben, und sie verpflichten, nur an mich zu verkaufen.«
Er begann wieder auf und ab zu gehen, sich an seinen Worten berauschend, mehr mit sich selbst, als mit Halle redend.
Er hatte mit erhobenen Händen gestikuliert, als ob er die Herren vor sich habe. Plötzlich aber ließ er die Arme sinken und fiel in seinem Stuhl zusammen.
»Ist sie sehr teuer?« Halle sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Teuer, was?« Legrand sah ihn verständnislos an.
»Die Reise, meine ich.«
»Für ein sicheres Geschäft ist immer Geld da, oh, es wäre ein Geschäft, das seine hundert Prozent einbringen würde! Das Geld habe ich und würde mich nicht bedenken, es daranzuwenden, wenn ich den Mut, die Kraft und die Jugend hätte« – und er seufzte so tief, daß der Kopf ihm auf die Brust sank.
»Wenn nun aber die Jugend Ihnen folgen würde?«
Legrand blickte verständnislos in die hellen Augen.
»Haben Sie das Geld, dann habe ich die Jugend, Mut und Kraft. Nehmen Sie die Herren der Direktion beim Wort, machen Sie sich frei und lassen Sie uns die Reise zusammen machen, Sie mit Ihrer Erfahrung und Ihrem Geld, ich mit Jugend, Kraft und Zukunftshoffnung. Sie sollen sehen, es wird schon gehen, Herr Legrand, ich habe Glück.«
Halles Augen drangen in Herrn Legrand, mit einem Blick so fest und hell und stark wie Stahl. Die kleinen Augen zwinkerten, unsicher, nachgiebig –.
»Sie werden sehen, die Herren bereuen es noch, daß sie Sie haben gehen lassen!«
Und er schwang sich unter der Macht der großen Chance zu einer Beredsamkeit auf, die er sich selbst nie zugetraut hätte.
»Haben Sie anderen nicht lange genug gedient, Herr Legrand, warum wollen Sie sich mit Prozenten begnügen? Sie, mit Ihren Rezepten und Erfahrungen? Warum wollen Sie nicht selbst reich werden, anstatt für andere zu verdienen, die Ihnen, wenn Sie alt geworden sind, den Laufpaß geben werden, mit einer schäbigen Pension? Ach, Herr Legrand, Sie haben keine Zeit zu verlieren, wenn Sie das erreichen sollen, wozu Sie die Fähigkeiten besitzen. Nehmen Sie mein Angebot an. Ich sage Ihnen aufrichtig: ich will vorwärts, ich will reich werden; aber ich bin ehrlich und will mich mit dem begnügen, was Sie mir anständigerweise geben wollen, bis ich so weit bin, daß ich Ihnen mehr geben kann als nur Jugend und Kraft. Dies soll meine Chance sein, Herr Legrand, verhelfen Sie mir dazu, und ich werde es Ihnen nie vergessen.«
Herr Legrand war aufgestanden, seine Augen leuchteten, seine Hände zitterten, um seinen Mund spielte ein Lächeln, das gleichzeitig Lachen und Weinen auszudrücken schien. Darauf legte er seine Hände um Halles blonden Kopf und drückte einen Kuß auf seine Backe, die heiß vor Aufregung war.
»Ach, wenn Sie doch mein Sohn wären!« sagte er gerührt. »Hätte ich anders gelebt, würde ich vielleicht einen haben. Sie haben mein Herz ganz gewonnen, und ich will Sie wie einen Sohn halten. Aber Sie dürfen mich nicht enttäuschen.«
Halle konnte nicht sprechen, so groß war seine Freude über den Sieg, die Rührung über die herzlichen Worte des Alten. Er ergriff nur Legrands Hand und drückte sie energisch.
Bevor eine Stunde um war, hatten sie ihren Plan in den Hauptzügen festgelegt. Halle machte nur eine Bedingung: Adele sollte mit.
Legrand nahm seinen Abschied und reiste nach einer kleinen Stadt an der Riviera – um sich zu erholen. Leroy Frères sahen es vollkommen ein, er bedurfte der Erholung, denn er war nicht mehr derselbe, der er früher gewesen.
Drei Wochen später trafen Halle und Adele ihn in Genua, von wo sie alle drei Anfang November mit einem englischen Dampfer nach Kalkutta abreisten.
Von Kalkutta fuhren sie mit der Eisenbahn nach Dhubri in Ost-Bengalen. Dort gingen sie an Bord des Flußdampfers und gelangten nach viertägiger Reise auf dem breiten, bedächtig fließenden Brahmaputra zur Endstation des Dampfers, nach Dibrughar, der Hauptstadt des Distriktes Lakhimpur, wo die tibetanischen Mischrassen wohnen.
Legrand hatte die Hitze in Kalkutta nicht vertragen können, und darum war die kleine Gesellschaft so schnell wie möglich nach Norden weitergereist.
Die Regenzeit war gerade vorüber, das Wasser des Flusses war klar wie Meerwasser, die Ufer strahlten in Grün, das überall sprießte.
Nach ihrer Ankunft wollte Legrand sich keine Ruhe gönnen, sondern gleich bei der Behörde Besuch machen. Er hatte Empfehlungsschreiben von dem französischen Konsul in Kalkutta an den »Deputy-Kommissionär« und den Obersten »der leichten Kavallerie von Assam«, dessen Hauptquartier in der kleinen Stadt war.
In der Nacht phantasierte er, so daß Halle, der bei ihm schlief, Adele rufen mußte.
Sie schickten nach dem Regimentsarzt, der sowohl die Krankheit, als auch das Laster, dem der Patient verfallen war, erkannte. Er sah, daß der Patient von etwas gequält wurde, und Halle erklärte ihm die Lage.
»Ich werde Ihnen Sergeant Davies schicken,« sagte der Arzt. »Das ist der Mann, den er gebrauchen kann, er ist selbst Jäger und hat eine Eingeborene aus den Bergen zur Frau; sie ist vom Stamme Abor, und ihr Geschlecht wohnt noch in den Bergen, wo die Hirsche leben.«
Einige Tage später kam der Sergeant mit dem Bruder seiner Frau – einem jungen Tibetaner, mit schiefen Augenspalten zwischen geschwollenen Lidern; er trug eine weiße Windjacke mit weiten Ärmeln, war selbst Jäger und wohnte in Marniu, hoch oben auf dem Berghang.
Legrand erklärte, was er wollte, und der Sergeant war Dolmetscher.
Nicht um den assamitischen, sondern um den richtigen Tibetbock handelte es sich. Ausgewachsene Tiere, über drei Jahre alt – prägte Legrand dem Jäger ein. Und was es kosten würde?
Der Preis, den der Jäger schließlich nannte, war so niedrig, daß Legrand Mühe hatte, sein Erstaunen zu verbergen. Selbst wenn er nur mit fünfzig Prozent reinen Moschus per Sack rechnete, würde die Ware mit dem Preis, den der Jäger genannt hatte, für ein Fünftel des Preises, den die Agenten zuletzt genommen hatten, verkauft werden können.
Das war in Wahrheit eine große Chance. Seine Augen leuchteten wie im Fieber, während er es Halle auseinandersetzte.
Legrand aber wollte erst eine Probe sehen. Würde die Probe, die sie brachten, nach Wunsch ausfallen, wollte er dem Jäger noch einhalbmal mehr geben, als er verlangt hatte, wenn er sich verpflichtete, allen Moschus, den er gewinnen konnte, an Legrand zu verkaufen. Dem Sergeant, der ständig hier in Garnison lag, bot er zehn Prozent dafür, daß er die Ware in Empfang nahm und mit den Jägern abrechnete.
Legrand war im siebenten Himmel. Dies war Reichtum, dies war Macht, dies war Genugtuung. Er lag fieberglühend mit tiefen Augenhöhlen km Bette und malte Halle und Adele die Zukunft aus.
Legrand wollte den Handel mit Moschus monopolisieren, zuerst in Frankreich, später in ganz Europa. Man würde nicht mehr von Leroy sprechen, sondern von Legrand. Oder vielleicht doch von Leroy, aber auf andere Weise, die Pariser würden den Namen, an den sie gewohnt waren, vielleicht nicht gern aufgeben; sie würden ihn »Le roi« nennen, »le roi de musc« – ha, ha, den Moschuskönig. »Wir mobilisieren die Damen. Jede Schauspielerin in Paris, jede Kokotte soll unser Agent sein. Wir geben ihnen gratis Parfüm und vertreiben unsere Prospekte in Cafés und Theatern, in der Untergrundbahn, in den Straßenbahnwagen und Autobussen, bis ganz Paris nach Legrand & Co. duftet.«
Adele trocknete ihm den Schweiß von der Stirn und strich ihm das Haar aus den Schläfen.
Er nickte Halle zu, der am Fußende des Bettes stand und sich wunderte, wie schwach er plötzlich geworden war.
»– Ihr sollt mich beerben« – flüsterte er –, »alles sollt ihr bekommen, ich will es schriftlich machen. Und wenn ihr einen Sohn bekommt« – er sprach so leise, daß sie ihn kaum verstehen konnten –, »soll er Pierre Louis nach mir genannt werden – weil ich selbst keinen Sohn habe.«
Halle nickte, und Adele schloß zur Bekräftigung die Augen.
»Le roi de musc!« lächelte er, drehte den Kopf zur Seite und schlief ein.
Halle konnte nicht schlafen, alle seine Knochen schmerzten von dem langen Ritt in die Berge. Unter dem Zelt war es ganz dunkel, und es herrschte solch absolute Stille, daß sie allein genügte, ihn wachzuhalten.
Er mußte und wollte aber schlafen, denn bereits um vier Uhr würde der Jäger kommen und ihn wecken, damit sie vor Sonnenaufgang zu der Stelle gelangten, wo die Schlingen ausgelegt waren; wenn der erste Morgen hinter den Gipfeln im Osten graute, kamen die Tiere aus ihrem nächtlichen Versteck, um das frische Gras auf den Kuppen zu fressen.
Er fuhr in die Höhe, als jemand ihn berührte, griff um sich und stieß gegen die Zeltwand. Er starrte in die Dunkelheit und ahnte nicht, wo in der Welt er sich befand.
»Ib!« rief er.
Da hörte er eine fremde, knarrende Stimme und Worte, die er nicht verstand; eine Hand faßte seinen Arm.
»Wer da?«
Er beugte sich zurück, stieß mit dem Nacken gegen die Zeltwand, und endlich wurde es ihm klar, wo er sich befand.
Ein Zipfel des Zeltes wurde im selben Augenblick zurückgeschlagen, und das bleiche Mondlicht streifte das seltsam verzerrte Gesicht des Tibetaners, der in der Hucke saß und den Zipfel hielt, damit Halle sehen könne.
Halle hatte in seinen Kleidern geschlafen, jetzt kroch er schlaftrunken aus dem Zelt.
Sie bestiegen die Pferde. Die Ponys gingen im Schritt über einen schmalen Pfad zwischen der Felswand und einer Reihe junger Bäume. Der Jäger ritt voran.
Die tiefe Stille, die einförmig schaukelnde Bewegung – – Halle schlief ein.
Ihm träumte, er säße im Boot auf der Fahrt über den Belt; sie waren in das seichte Wasser neben der Landzunge gelangt – und plötzlich war der Scheinwerfer über ihnen.
Er fuhr in die Höhe – es war der Mond, der ihm gerade ins Gesicht schien.
Wir kentern –!
Er griff durch die Luft und war im selben Augenblick wach. Die Hände hatte er in die Mähne des Pferdes gewühlt und war drauf und dran herunterzufallen.
Das Pferd schnaufte, es ging steil bergauf. Sie schienen schon hoch hinaufgekommen zu sein, denn es war erheblich kalt. Ein Stück vor ihm ritt der Jäger, die Büchse über der Schulter, die Füße in gleicher Höhe mit dem Sattelgurt.
Plötzlich machte der Pfad vorn eine Biegung, und der Jäger war verschwunden.
Auch Halles Pferd erreichte die Biegung –
Halle rang nach Atem und griff durch die Luft – es war, als ob der Bergabhang plötzlich unter ihm verschwand, als schwebe er frei im Raum, nur den schmalen Pferderücken unter sich.
Nichts als der freie Himmel über ihm und um ihn herum, nicht ein Punkt, an dem er sich halten konnte, alles wich zurück.
Ein kalter Luftzug von der gewaltigen Wölbung um ihn her strich ihm über die Stirn.
Sein Blick folgte der Wölbung nach abwärts, wo ihr Licht sich in die Dunkelheit der Erde verlor. Er konnte keine Umrisse, keine Berge unterscheiden; es war, als ob das Licht zurückwiche und ihn mit sich zöge. Und auch die Dunkelheit zog – der Abgrund saugte ihn an sich, Tiefe unter Tiefe.
Wenn das Pferd stolpert, wenn ich schwindlig werde –
Er fühlte nur das Pferd unter sich, nicht den Berg, der ihn trug. Er war seltsam wach, frei von aller Schwere, das Gemüt freudebeschwingt, über sich selbst hinausgehoben.
Wie lange dauerte es – wer kann es wissen! Warum verweilte das Pferd – wer kann es sagen?
Hatte nur ein Grasbündel das weiche Maul des Pferdes gestreift, so daß es verweilte, bevor es weiterging –?
Das Pferd setzte sich wieder in Bewegung. Halle faßte die Zügel.
Nein, nein, nicht zur Seite! Vorwärts, hinauf zum Licht –
Das Pferd aber beachtete ihn nicht. Es bog um die spitze Ecke und trabte bedächtig auf die große Chance zu.
Sie erreichten ein grasbewachsenes Plateau, das rund und weiß im Mondlicht dalag, wie das Dach eines ungeheuren Turmes.
Jenseits des schmalen Talstriches erhob sich eine ähnliche Kuppe; auch sie trug einen Birkenhain, der fast bis zur Höhe ging, dann aber einem Rasenteppich Platz machte. Und dahinter wieder eine Kuppe, mit vereinzelten Bäumen, und noch eine; mehr konnte er nicht unterscheiden, die Reihe verlor sich in der Dunkelheit, die den fernen Horizont abschloß. Am Himmelsrand, wo die Dunkelheit begann, sah er einige weiße Wolken; und plötzlich begriff er, daß es der ewige Schnee des Himalaya sei.
Am Himmel wurde ein Kampf ausgefochten: der Mond mußte Schritt für Schritt das Feld räumen, er zog seinen fahlen Schleier von Wald und Tal zurück. Schein und Farben spielten auf den Gipfeln, bahnten sich einen Weg über die Täler, und eine Morgenbrise strich sachte über die Kuppen –
Was war das? Ein Duft – scharf, durchdringend – Halle blickte sich um.
Da reckte der Jäger sich im Sattel, spähte einen Augenblick und wandte sich dann an Halle, um ihm etwas zu zeigen.
Der Jäger sprang vom Pferde, lief, einen blassen Schatten vor sich –
Halle suchte mit seinem Fernglas – und sieh –
Auf der Kuppe drüben standen zwei graubraune Tiere und grasten. Sie warfen die Köpfe, während sie die spärlichen Halme von dem harten Boden zupften. Sie glichen zwei Damhirschen, die sich von der Herde entfernt hatten, aber sie hatten größere Ohren, und die Hinterbeine waren kräftiger und länger.
Jetzt hob das eine den Kopf und spitzte die Ohren – das Geräusch der Menschen hatte es erreicht – ein Satz, und sie waren im Birkenhain verschwunden.
Der Tibetaner ruft sein Pferd, es kommt langsam heran. Halles Pferd führt er am Zügel zu dem Hain zurück, den sie soeben durchritten haben, und bedeutet Halle, daß er absteigen soll. Darauf bindet er die Pferde an zwei nebeneinanderstehende Bäume, damit sie sich im Notfall gegenseitig verteidigen können, und eilt über den Pfad zur Kuppe hinauf. Halle kann ihm nur mit Mühe folgen.
Die Dämmerung weicht mehr und mehr. Sie stehen mit dem Rücken gegen den Berg und blicken über das Tal, das von Birken weiß und schwarz gesprenkelt ist, so weit das Auge reicht. Tief unter ihnen rieselt es von einem Bächlein zwischen Steinen.
Der Jäger zeigt auf einen Felsvorsprung, der den Abgrund schneidet. Er zeigt auf den Waldrand drüben, wo die jungen Birken sich um einen Platz in der Sonne drängen. Und Halle versteht, daß der Jäger dort zwischen den Bäumen seine Schlingen gelegt hat. Er weiß, daß die Tiere ihrem Lagerplatz treu bleiben, weil sie den Weg genau kennen müssen, um fliehen zu können, wenn Leopard oder Tiger Fährte von ihnen bekommen und vom Tal heraufschleichen –
Sieh – dort drüben zwischen den Bäumen: ein brauner Kopf, der sich hoch aufrichtet – ein Sprung! – und der Hirsch ist gefangen.
Er reckt seinen Kopf hin und her, er windet seinen braunen. Körper, so daß der Bug im Lichte leuchtet; aber er kann nicht auf die Beine kommen, die Schlingen halten ihn fest; er liegt wie ein Kalb auf der Erde, das dem Messer des Schlächters preisgegeben ist.
Halle folgt den Spuren des Jägers. Sie umgehen noch einen Talgrund, durchschreiten noch einen Wald und stehen wieder an einer Stelle, wo der Abgrund sich öffnet, Schlucht hinter Schlucht.
Die Dunkelheit dort unten hat jetzt Farbe bekommen. Man sieht grüne Wälder, wo weiße Morgenwolken festhängen; und sieh, hoch oben unterm Himmel, der perlmutterfarbig ist, vom Kampf des hervorbrechenden Lichtes, so hoch oben, daß die Morgenröte seine Schwingen berührt, schwebt ein Geier, den kahlen Kopf suchend zur Erde gereckt.
Dort unten ist ein friedliches Tier gestrauchelt, darum kreist er auf seinen mächtigen Flügeln, damit Leopard oder Tiger, wenn sie zu ihrem Morgentrank am Bache kommen, wissen, wo die Beute gefallen ist. Der beschwingte Vogel und die schleichende Katze sind Bundesgenossen; aber auch das aufrechtgehende Raubtier, das schlimmste von allen, zeigt dem Vogel den Weg.
Halle ruft leise und zeigt zum Himmel hinauf –
Der Jäger dreht sich um, bedeutet ihm, daß er schweigen soll, und rennt, daß Halle ihm kaum zu folgen vermag, über kahle Bergpfade, durch kniehohes Eichengestrüpp, zwischen verstreute Stämme. Endlich haben sie den Saum des Birkenhaines erreicht, wo das Tier in den Tod sprang.
Der Jäger macht halt. Er dreht sich um und macht Halle ein Zeichen, nimmt die Büchse von der Schulter, legt die Hand auf den Hahn und schleicht vorwärts –
Der Schuß wird von Fels zu Fels weitergegeben; der Jäger steht spähend zwischen den Stämmen; darauf winkt er und geht weiter.
Noch ein Schuß. Halle beneidet ihn um seine Büchse. Die Jagdlust prickelt ihm im Blut, sein Herz klopft heftig, und er folgt dem Jäger.
Dort, im Lauf getroffen – eine Blutspur im Grase zeigt seine Bahn –, liegt ein junger Leopard, die weißen Pfoten von sich gestreckt, die Zunge blutrot in dem aufgerissenen Rachen, als ob er noch im Tode versucht habe, die Wunde zu lecken, aus der das Blut rinnt.
Im selben Augenblick trägt der Wind ihm einen betäubenden Geruch zu, den er vom Laboratorium her kennt, aber zehnmal stärker – Moschus, mit einem Tiergeruch vermischt, so durchdringend, daß ihm übel wird, während er sich dem Jäger nähert, der vor dem erlegten Hirsch hockt.
Das erste, was er sah, war die Wunde, die die Kralle des Leoparden in den Hals des Hirsches geschlagen hatte. Das Blut sickerte ins Gras und färbte die gelben Blumen rot.
Der Tibetaner sah mit einem frohen Grinsen auf. Er griff um einen Auswuchs am Bug und zeigte Halle, wie groß er war und wie das Öl gelb und dick heraussickerte, wenn er drückte.
Halle trat zurück, so betäubend war der Geruch. Der Jäger nahm sein Messer heraus, wischte das Blatt mit seinem Rock ab, griff vorsichtig um den Beutel und schätzte mit den Augen, wo er ihn am besten abschneiden konnte.
Halle wollte nicht Zeuge dieses Aktes sein, er ging um den Jäger herum, den Kopf des Tieres zu betrachten.
Als das Messer die Haut berührte, ging ein Zittern durch den Körper des Tieres. Es richtete seinen Blick auf Halle, dunkel und blank. Entsetzen stand darin, und in dem offenen Maul zuckte eine Zungenspitze zwischen den Zähnen, als ob sich ein Schrei vergeblich aus seiner Kehle lösen wollte.
Dieser Blick traf Halle ins Herz. Er packte den Tibetaner bei der Schulter und zeigte ihm, daß das Tier noch lebte.
Der Jäger aber verstand ihn nicht; als er schließlich begriffen hatte, schüttelte er abwehrend den Kopf und löste den Sack mit einem einzigen Schnitt. Dann erst jagte er die blutige Klinge dem Tier zwischen Hals und Brust.
Meinte er, daß der Moschus dem lebendigen Tiere genommen werden sollte –?
Halle wandte sich ab, bis ins Innerste getroffen; der gebrochene Blick des Tieres blieb in seiner Seele haften. Da hörte er ein Geräusch über seinem Kopfe und blickte in die Höhe. Es war der Geier, der ungeduldig mit den großen Flügeln schlug. Er wartete darauf, daß der Jäger sich mit dem Sack entfernen und das Aas liegenlassen würde. Wenn die Katze und das aufrechtgehende Tiere sich ihren Anteil genommen hatten, gehörte ihm der Rest.
Die anderen nehmen sich nur ihre Nahrung, dachte Halle. Wir Menschen aber –?
Wie viele Hunderte unschuldiger Tiere mußten nicht ihre brechenden Augen zur Edelsteinwölbung erheben, bevor der Mensch zu Reichtum gelangt war!
Der Tibetaner hatte sich erhoben. Er betrachtete Halle mit enttäuschter Miene: der pflichtgetreue Diener reichte ihm die gute Beute, und der Herr würdigte sie keines Blickes!
Halle bot seine ganze Selbstbeherrschung auf und verhärtete sein Herz. Er nahm das blutige Ding in die Hand, wendete und drehte es. Ein dicker, gelber Tropfen floß über seine Finger. Er nickte und gab den Sack zurück.
Der Geruch verursachte ihm Übelkeit, daß er schlucken mußte, bis das Blut die Adern seiner Schläfen spannte und das Wasser ihm aus den Augen rann.
Während der Tibetaner sein Messer reinigte und seinen Mantel umlegte, kniete Halle in dem taufeuchten Gras nieder und wischte sich den Öltropfen vom Finger.
Er dachte an seine Mutter und wünschte, er könnte sich vor ihr verstecken. Er dachte an Ibs Worte. Und er fragte in seiner Angst, ob nicht das Wohl der Menschen wichtiger sei als der Schmerz der Tiere, so daß er später, wenn die Chance ihm Reichtum und Macht gebracht hatte, das Unrecht durch das Gute, das er tun wollte, hundertfach wieder gutmachen konnte!
Laß es nicht zu lange dauern, bat er, laß es geschehen, bevor mein Herz sich verhärtet!
Dann eilte er davon; der Geruch klebte an seiner Hand. Vielleicht wurde er ihn nie wieder los.