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Monate waren vergangen seit jenem Junitage, wo Helene und Hermann am Grabe Rothens sich gefunden hatten, wo in das Herz der Liebenden und aller, die ihnen nahe standen, die Freude ihren Einzug gehalten. Niemand konnte zufriedener sein, als Graf Asten, der diese Wendung kaum mehr erhofft hatte. Hermann hatte ihm stets wie ein Sohn nahe gestanden, und der Graf sah in ihm den Vertreter der Anschauungen, die er von dem Christen, dem Aristokraten und dem Manne, der seinem Volk und Vaterland etwas sein will, forderte. Er freute sich, dem jungen Manne jetzt auch materiell eine Stellung anweisen zu können, die ihm bedeutenden Einfluß sicherte.
Man kam überein, Velden solle die ersten Jahre noch auf Burghof leben; der Graf kannte seine große Anhänglichkeit an die Heimath und wußte auch, daß es für Hermann ein wohlthuendes Gefühl sein würde, seine Frau in sein Heim zu führen. »Dem alten Stammsitz deiner Väter, deinem eigenen Fleck Erde, sollst du dich zuerst widmen,« sagte er; »später wirst du zu Asten noch Wurzel fassen können – ein Astener Kind bist du ja so wie so. Deine Mutter ist überdies lange genug einsam gewesen, und du kannst nie genug thun, um ihr den Abend ihres mühevollen Lebens zu verschönern. Weiß Gott, sie hat es verstanden, auf dem wilden Stamm ein edeles Reis zu ziehen,« setzte er bedeutsam hinzu. Hermann dankte froh und gerührt dem Grafen für seinen zartfühlenden Vorschlag.
Von dem mühevollen Leben, welches Graf Asten erwähnt hatte, zeigten Frau von Velden's Züge kaum eine Spur mehr, als sie an dem Abende, der ihres Sohnes Ehrentag voranging, froh die herzlichsten Glückwünsche entgegen nahm, die ihr von allen Seiten entgegengebracht wurden. Es ist eine schöne Gottesgabe, daß der Mensch, wenn ihm die Sonne des Glückes wieder scheint, vergessen kann, wie düster die vorhergehende Zeit war. In Frau von Velden's zarter Gestalt und der anmuthigen Eleganz, die sie auch in den bescheidensten Verhältnissen sich zu bewahren gewußt, lag immer noch etwas Jugendliches. Man konnte sie kaum für die Mutter des stattlichen Mannes halten, auf dem ihr Auge mit mütterlichem Stolze ruhte.
Der Stolz war gerechtfertigt. In seinem Aeußern, das zu voller Kraft sich entwickelt hatte, stand Hermann keinem seiner Vorfahren nach. Dabei zeigte sein Antlitz jenen Adel, den nur ein geistiges Leben zu geben vermag – jenen idealen Hauch, der aus dem Verständniß alles Edeln und Schönen hervorgeht. Frau von Velden hatte nicht umsonst ihr Kind für geistiges Streben zu gewinnen gesucht. Hermann Velden, der stille Knabe, der bescheidene Jüngling, der seine eigenen Geistesgaben stets mit Mißtrauen betrachtet hatte, fing an, ein Mann von Bedeutung zu werden. Freilich trug die veränderte Stellung, die er durch seine Heirath mit einer der reichsten Erbinnen des Landes gewann, dazu bei. Seine eigene Persönlichkeit aber hatte schon vorher aller Blicke auf sich gezogen. Schlicht und einfach hatte er jeden Platz, an den er gestellt worden, auszufüllen gewußt; ruhig und ernst war er den Weg gegangen, den Pflicht und Ehre ihm vorgezeichnet. Dadurch hatte er das Vertrauen errungen, welches die Welt stets denen am meisten entgegenträgt, die am wenigsten danach haschen.
Das Jahr der großen Ereignisse hatte neue Zustände geschaffen. Das politische wie das sociale Leben forderte ernste geistige Arbeit, wenn die Errungenschaften des Krieges zum Wohle des Landes gesichert werden sollten. Und schon zeigte sich auch, daß die Stürme nicht fehlen würden, daß der tiefe Zwiespalt unseres Volkes zu neuen Kämpfen führen mußte. Jede Partei suchte nach Männern. Auch in Hermann's Heimath wußte man die Lage zu würdigen; man erkannte, daß es mehr gelte, als gewöhnliche politische Differenzen.
Auf Asten war man zu einem Feste zusammengekommen. Von nah und fern hatten sich die Freunde des Hauses eingefunden; aber der Ernst der Zeit drängte sich selbst in die frohe Feier ein. Während die Jugend munter dem Tanze huldigte, tauschten die ältern Männern eifrig ihre Meinungen aus über die Entwickelung, die im Reiche sich vorbereitete, und über die Frage, welcher Mann die Landschaft vertreten sollte. Graf Asten trat froh und stolz an Frau von Velden heran und flüsterte ihr einige Worte zu. Sie sah, wie die ersten und angesehensten Männer Hermann umgaben und sich um ihn bemühten. Ihre Augen glänzten, als sie hörte, wie sein Name von Mund zu Mund ging, wie man ihn als den besten Mann bezeichnete, die Vertretung der Landschaft zu übernehmen. Er war so stark in Anspruch genommen, daß ihm kaum Zeit blieb, seiner Rolle als glücklicher Bräutigam zu genügen. Aber die schöne Braut schien nicht zu zürnen, daß man ihr so oft den Geliebten streitig machte. Sie hatte ja selbst gesagt, die Liebe sei nicht bloß ein süßes Idyll; was ihren thätigen Geist einst angeregt: das Wirken und Streben nicht bloß für den materiellen Gewinn oder für den engen Kreis der eigenen Häuslichkeit, das fand sie jetzt bei ihm. Jedes echte und rechte Weib legt aber die Ausführung dessen, was ihre Seele bewegt, freudig in die Hand des Mannes, den sie liebt. Helene sah ihre Prophezeiung, Hermann werde einst der Stolz der Familie werden, in Erfüllung gehen; sie sah ihr Ideal in ihm verwirklicht. Glück und Liebe belebten ihre Züge, und es war nicht Hermann allein, der sie schöner als jemals fand.
Vollkommen beruhigt war heute Henny Werthern, welche einst die Schwester unwiderruflich dem Loose einer einsam trauernden Jungfrau anheimgefallen glaubte. In Henny's Augen erschien das noch immer als ein höchst tragisches Geschick. Ihr eigenes Loos erfüllte so sehr ihre Hoffnungen, daß sie es für das beneidenswertheste halten mußte. Ihre Prophezeiungen sind nicht in Erfüllung gegangen: die gefürchtete Wandlung, der Schrecken ihrer Mädchenjahre, ist nicht eingetreten, selbst das rothe Näschen will sich noch immer nicht zeigen; ihr rosiges Gesicht hat nichts von seiner kindlichen Frische verloren. Der Altersunterschied zwischen ihr und ihrem Gatten ist vielleicht etwas auffallender geworden; denn der Silberschein auf Baron Werthern's Haupt fängt jetzt wirklich an, bedeutend hervorzutreten. Doch Henny bemerkt das nicht; die ritterliche Art, mit der er nach wie vor seiner kleinen Königin huldigt, und die zärtliche Sorge, mit welcher er sie umgibt, verleihen ihm etwas Jugendliches, das sie noch eben so stolz und glücklich macht, wie in jenen Tagen, als Baron Werthern sich zu ihr, dem Kinde, herabließ. Sollte eine Zeit kommen, wo er etwas weniger jugendlich sein Amt führt, dann wird der kleine, nunmehr vierjährige Bursche, der schon ganz respectabel neben seiner jugendlichen Mama aussieht, es sicher übernehmen; er hat viel von seines Vaters ritterlicher Haltung und sieht mit dem gleichen adorirenden Blick zu Henny auf.
Auch Baron Hohenwaldau ist unter den Gästen und, wie immer, entzückt von seiner schönen Nichte. Er begreift zwar nicht, warum Helene gerade diesem jungen Hünen, der für seinen Geschmack zu viel vom Landjunker hat, den Vorzug gab, und ruft durch seine Anspielung, daß sie um dessentwillen wohl so grausam gegen ihre französischen Anbeter gewesen, eine peinliche Röthe auf Helenens Wangen hervor, besonders da er dabei des armen de Bussy erwähnt. Doch leitet dieser Name glücklich von dem gefährlichen Thema ab. Man spricht von dem »Pfuhl der Verderbniß«, von dem »modernen Babel«, und preist den Baron glücklich, demselben entronnen zu sein; besonders die Damen sprechen dies sehr lebhaft aus. Hohenwaldau kann auch nicht leugnen, daß die gepriesene Königin der Städte wieder einmal ihre gleißnerische Maske abgeworfen und sich als wilde Megäre gezeigt habe; er kann aber doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die schöne Circe ihre Verehrer trotzdem zu bannen wisse, und daß jede Spur der Entstellung von ihrem lachenden Antlitz sofort schwinde, sobald nur der Sturm vorüber sei. Wie viel Sehnsucht er jetzt schon nach ihr empfindet, wagt er nicht zu gestehen.
So wogt und plaudert die Gesellschaft in den schönen Räumen zu Asten, und selbst Tante Christiane ist in den Festtrubel hineingezogen, wenngleich ihr der mühevollere Antheil der fleißigen Martha zufällt. Sie hat viel zu ordnen und zu schaffen heute, und sie freut sich herzlich, wenn Henny mit frauenhafter Würde sich ihr zur Hülfe anbietet, oder wenn Hermann selbst heute noch Zeit findet, mit Rath und That einzugreifen, wo praktischer Blick und eine kräftige Hand noth thut. Tante Christiane entspricht gar nicht den trüben Anschauungen Henny's von einer alten Jungfer; das fremde Glück findet hellen Widerschein in ihren Augen und erfüllt so ihr Herz, wie es eigenes Glück nur thun kann. In einer traulichen Stunde, am bekannten Fensterplatz in ihrem Zimmer hat Helene ihres Herzens Kämpfe ihr bekannt, und noch einmal ist dabei der Name Holdern über ihre Lippen gegangen.
Holdern, welcher einst in diesem Kreise so heimisch war, wird dort nicht mehr genannt: ein Flecken ruht auf seiner Ehre, der nicht zu tilgen ist. Schon wenige Tage nach Carry's Tod war der vollständige Ruin hereingebrochen und sein rasches Verschwinden nur zu erklärlich geworden. Alle Nachforschungen über seinen Aufenthalt blieben erfolglos. Holdernheim blieb zwar den Gläubigern, aber, wie Holdern seiner Schwester gestanden, kaum ein Drittel der Schulden war gedeckt. Viele seiner Standesgenossen und Bekannten erlitten Verluste, auch Graf Asten in Folge seiner Bürgschaft beim Hause Hirsch. Man würde Holdern dennoch verziehen und sein Unglück als Folge jener Periode betrachtet haben, wo mancher die Tragweite der kühnen, viel verheißenden Unternehmungen nicht zu berechnen wußte; aber man vergab ihm nicht die Art und Weise, wie er sich der Verantwortung entzogen, um so weniger, da sich fast nichts von den Gegenständen der kostspieligen Liebhabereien vorfand, auf die er so enorme Summen verschwendet. Die Dienerschaft sagte, daß in letzter Zeit vielfach beträchtliche Summen eingegangen seien; über den Verbleib derselben aber fand sich kein Ausweis. So blieb auf Holdern der Verdacht absichtlichen Betruges haften, der bei einem Manne von seiner Stellung doppelt streng verurtheilt wurde. Auch dunkele Gerüchte über sein politisches Treiben im Auslande wurden laut. Das Volk fand eine Art von Genugthuung in dem Gedanken, daß er doch eigentlich kein »Einheimischer« gewesen und immer als Fremder betrachtet worden sei. Als Holdernheim später zum öffentlichen Verkauf kam, gedachte Velden noch einmal jenes Tages, wo er selbst in der Versuchung gestanden hatte, sein Eigenthum mit seinen alten Rechten und Pflichten preiszugeben. Wenn er auch in Rechnung zog, wie viel die Verbitterung seines Herzens dazu beigetragen, so vergaß er doch nicht, wer ihn von diesem Schritte abgehalten. Er erinnerte sich an die kräftigen Worte, mit denen Rother ihn an seine Pflichten gemahnt, und sie widerhallten um so lauter in seinem Herzen, weil auch bei der neuen Aufgabe, die ihm geworden, sie seine Richtschnur werden sollten.
Rother schlummert schon seit Monaten unter den grünen Bäumen. Aber in der zahlreichen Gesellschaft, die sich auf Schloß Asten versammelt hat, ist kaum einer, der des schönen, hoffnungsvollen Jünglings nicht theilnehmend gedenkt. Sein froher Sinn, sein glänzendes Talent, der Ruhm, dem er entsagt, um seinem Berufe zu folgen, sein tragisches Ende – man weiß so viel von seinem jungen Leben zu erzählen, das so kurz gewesen ist und doch so reich. Aber man bricht ab, wenn der Held des Tages, der Bräutigam, sich naht; denn ein tiefer Schmerz verdunkelt seine Züge, so oft des Dahingeschiedenen erwähnt wird, und man weiß, daß er wegen der Trauer um den Freund seinen Glückstag bis heute verschoben hat.
Die Frau aber, die in dem kleinen Musik-Cabinet sitzt, in welchem Rother's Lieder so oft erklangen, denkt jetzt gerade an ihn mit zärtlicher Sehnsucht. Frau von Velden hat sich aus dem frohen Getümmel in die Einsamkeit zurückgezogen; hier erwartet sie ihren Sohn, der ihr noch einige Augenblicke widmen will. Denn morgen nach der Trauung wird das junge Paar das Weite suchen, um im Paradiese des Südes sein Glück zu genießen.
Frau von Velden muß lange warten, obgleich Hermann fest versprach, sie hier aufzusuchen; ihr suchender Blick hat das junge Paar endlich in einer Nische erspäht, wo es im Egoismus des Glückes und der Liebe alles übrige vergißt. Die Mutter sieht es und lächelt; sie will dem Sohne nicht die schönsten Augenblicke verkürzen. Dann aber seufzt sie wieder. Für sie sind diese Stunden die letzten, welche der Sohn, für den sie ein Leben hindurch gewirkt und gestrebt, vor langer Trennung ihr noch angehören kann. Es ist nun einmal der Weltlauf, daß das Recht der Mutter endlich vor einem andern zurücktreten muß; unwillkürlich denkt sie aber jenes jungen Mannes, dessen Herz sie für immer zu eigen behalten haben würde. Hermann wird bald durch tausend Pflichten gefesselt sein, das Leben wird mit verdoppelten Anforderungen an den arbeitsamen Mann herantreten, und nur der geringfügigste Theil seiner Zeit und seines Herzens wird der Mutter bleiben können. Jener Jüngling aber, der nur das Eine erwählt, würde ihr geistig näher geblieben sein, selbst wenn sein Beruf ihn weit hinwegführte; seinem Wirken hätte sie in Gedanken folgen können, denn das Seelenleben und die Leitung der Seelen gehört stets mit in das Gebiet der Frau. Sie denkt, wie gern sie in späterer Zeit, wenn die zunehmenden Jahre sie dem letzten Ziele näher gebracht, wenn die Welt mit ihrem Streit und Kampf verblaßt, wie gern sie dann ihn gehört haben würde, ihn, dessen reiches Gemüth ihr schon zur Erquickung wurde, als er noch ein Knabe war.
Eine Thräne tritt ihr in's Auge um den, der ihr fehlt, der ihr immer mehr fehlen wird. Da fühlt sie sich umschlungen: Helene und Hermann kommen, um die Versäumniß wieder gut zu machen. Helene will sich entfernen, um die letzten Augenblicke zwischen Mutter und Sohn nicht zu stören; aber Frau von Velden hält sie zurück; sie hat ja nie eine Tochter gehabt, und Helene läßt sie das neue Glück, eine solche zu besitzen, süß empfinden.
»Mutter, es ist alles gut,« sagte Hermann innig; »dein trockener, praktischer Sohn wird auf seine Weise nun auch für jene idealen Güter eintreten, von denen du einst sagtest, daß sie dem Leben erst den rechten Werth geben und uns über das niedrige Schaffen erheben. Ich danke dir heute, Mutter, daß du mir das Verständniß dafür erschlossen, daß du mich hinausgeführt hast aus dem engen Kreise, in welchem ich mich begnügen wollte. Unsere Zeit fordert mehr vom Manne, als nur für sein Eigen zu leben. Rother's klarer Blick erkannte frühzeitig, daß, wir auch hier uns würden zu schützen haben gegen die Saat die im Westen so unheilvolle Früchte trug. Er wollte sein Leben dem Kampfe widmen, den Damm bauen helfen gegen die wilde Fluth, der so viele den Weg öffnen helfen, ohne es zu ahnen. Ich bin glücklich, auch meine Kraft in diesem Kampfe einsetzen zu dürfen. Möchte ich so viel für meine Aufgabe leisten, wie du, Mutter, für die deinige geleistet hast!« sagte er, zärtlich der Mutter Hand ergreifend. »Du hast diese Aufgabe voll und ganz gelöst, dein Geist hat in Wahrheit unser Haus neu errichtet.«
»Der Herr hat geholfen, die eigene Kraft vermag nicht viel,« antwortete die Mutter, liebevoll seinen braunen Scheitel streichelnd. »Ich weiß, wie oft der Wille und die Erkenntniß irre gehen. Das Wort eines schlichten Mannes ist vor vielen Jahren meine Stütze geworden; er lehrte mich, das Glück zu suchen in dem Leben für einen hohen Gedanken, und Gott hat mein Bestreben tausendfältig gelohnt. Es ist mir ein rührender Trost, daß gerade sein Sohn nur für den höchsten Gedanken leben wollte.«
»Ja, glücklich, wer dieses Ziel erkennt,« sagte Helene; »aber, Mutter, als du, die so viel vollbracht hat, eben sagtest, wie wenig die eigene Kraft vermöge, mußte ich an das Schicksal des armen Mädchens denken, das nur an die eigene Kraft glauben wollte. Ich meine, ich sehe sie noch vor mir, wie ich sie damals bei Onkel Hohenwaldau sah. Sie war ein zauberhaftes Wesen, von ihren seltenen Gaben hat Rother nicht zu viel gesagt. Etwas Großes und Wahres lag in ihr; aber der Stolz hat es vernichtet. Noch höre ich ihre Frage: Was ist Schuld? Sie war so sicher, daß die menschliche Vernunft allein der genügende Wegweiser sei; und sie gerade mußte untergehen in dem vernunftlosesten, wahnsinnigsten Treiben, das jemals die Menschen entwürdigte. Hätte ein Strahl der Gnade ihr doch geleuchtet!«
»Sie ist ihr oft genug nahe getreten,« sagte Hermann; »es war Rothens innigster Wunsch, sie für den Glauben zu gewinnen, und einmal war sie auch bereit, ihm zu folgen. Du hörtest ja, was die alte Jetta davon erzählte.«
»Ja, um der irdischen Liebe willen, aber sie hätte nur einen Sieg erfochten über ihn, nicht über sich selbst,« gab Frau von Velden zurück. »Eine Natur wie die ihrige würde dann über die seinige die Herrschaft gewonnen haben, und beide wären verloren gewesen. Eine Zeit lang habe ich ihren Zauber für ihn gefürchtet, und nur durch die Gnade konnte er die Kraft finden, zu widerstehen. Hätte ihr Geist einen Funken wirklicher Erkenntniß in sich aufgenommen, er hätte nicht erlöschen können, als die irdische Hoffnung in Trümmer ging, und sie hätte dann nimmer diese Wege eingeschlagen.«
»Ich fürchte, dazu waren noch andere Einflüsse wirksam,« bemerkte Helene leise und traurig; »es ist mir nachher klarer geworden, warum sie so plötzlich wieder von der lichten Bahn ablenkte und mit uns allen brach.«
»Ja,« meinte Frau von Velden, »das ist ein Beispiel menschlicher Schwäche, daß sie trotz ihres scharfen Verstandes und unabhängigen Sinnes abhängig wurde – ein Spielball anderer, und daß sie nichts von dem erreichte, was sie wollte.«
»Und jetzt …, es ist zu trostlos; wenn nur ein Moment der Klarheit ihr noch kommen wollte!« sagte Helene.
»Für den Augenblick,« antwortete Frau von Velden, »ist ihre Geistesabwesenheit wohl eine gnädige Fügung des Himmels. Sie gehörte zu den am meisten compromittirten Mitgliedern der Partei, und ihr Geschick hätte ein entsetzliches sein können. Jetzt lebt sie unter den Flügeln der christlichen Liebe, von welcher du, Helene, einst für sie die Erkenntniß erwartetest. Unter dem Schutze jener Kirche, die sie früher verfolgte, hat sie ein Asyl gefunden. Schon um Rother's willen wollen wir ihrer im Gebete gedenken … Aber wir dürfen uns der Gesellschaft nicht länger entziehen,« sagte Frau von Velden aufstehend. »Wir werden bald die Ruhe suchen müssen; mein Töchterchen muß sich schonen, um morgen recht strahlend auszusehen.«
Helene nickte freundlich; das ernste Bild, das die Erinnerung an Daniella's Geschick heraufbeschworen hatte, verschwand schnell vor dem Scheine der Liebe und des Glückes.
Während so zu Asten inmitten des frohen Festes die Gedanken der frühern Freunde hinüberzogen zu ihr, die einst im stolzen Trotz von ihnen sich abgewandt, bot Daniella das traurigste Bild gescheiterter Kraft. Die gewaltige Aufregung jener Tage, die furchtbare Macht der Erkenntniß, die über sie hereingebrochen, hatten ihren überreizten Nerven den letzten Stoß gegeben. In Wahrheit war es eine mitleidige Fügung, durch welche sie der irdischen Gerechtigkeit entrückt wurde. Um des einen Funkens reiner Liebe willen, den ihr Herz gehegt, um der Sühne willen, die sie noch leisten wollte, hatte der Himmel ihr wohl einen Theil der schrecklichen Folgen ihres Thuns erspart. Wird der Mensch gestraft in dem, worin er gesündigt? Die Macht ihres Willens, die Klarheit ihres Geistes waren ihr Idol gewesen, – jetzt war sie ein willenloses Geschöpf, das jedem Winke der frommen Pflegerinnen folgte, den leeren Blick starr in das Weite gerichtet, Tag um Tag verträumend; denn ihr Geist war so verdunkelt, daß er nicht einen Eindruck klar mehr erfaßte. Von all' dem, was ihr Geist einst in sich aufgenommen, war ihr nur eine einzige Erinnerung geblieben. Sie sprach fast nie, beantwortete keine Frage; aber unablässig flüsterte sie leise jene Worte, die zuletzt ihr Ohr getroffen – jene Worte demüthiger Erkenntniß, gegen die ihre stolze Seele sich einst so gesträubt: » mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!« ging es wie eine fortwährende Selbstanklage, ein reuiges Bekenntniß über ihre Lippen.
War es nur ein ihr unbewußter Nachhall dessen, was sie zuletzt gehört, oder war es der letzte kümmerlich fortglimmende Funke der Erkenntniß in ihrer Geistesnacht? Wer vermag das Räthsel der Menschenseele zu lösen? Nur Er, der das Stammeln der Unmündigen versteht, dessen Auge in die geheimsten Tiefen dringt – und Gottes Barmherzigkeit ist über alles groß.