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Allen Berichten zufolge sah es schlimm genug in der großen Seine-Stadt aus, die sich jetzt in der eisernen Umarmung des feindlichen Heeres befand, und die demgemäß mehr wie je aller Blicke und Gedanken auf sich zog.
Der gemüthliche deutsche Philister hatte eine dunkele Vorstellung von einer ausgehungerten belagerten Stadt, in welche der erste Kanonenschuß Tod und Verderben schleudern würde, und nahm alltäglich ungeduldig die Zeitung zur Hand, um die Nachricht zu erspähen, daß die deutschen Truppen ihren triumphirenden Einzug in die stolze französische Hauptstadt gehalten. Aber nicht allein der gemüthliche Philister blieb mit seiner Vorstellungskraft hinter der Wahrheit zurück. Wenige vermochten wohl in jener Zeit ein klares Bild von der Lage der Dinge sich zu machen. Die Vorstellung einer belagerten Stadt war kaum mehr anwendbar auf die weite Fläche der Riesen-Metropole, deren Gürtel von Festungen und Wällen den belagernden Feind noch lange in gemessener Entfernung hielt, so daß die Wirkung der von den Belagerern geschleuderten Geschosse im Innern der Stadt kaum verspürt wurde. Die Zeit, die verging, bis der eiserne Ring geschlossen war, welcher eine Million Menschen umklammerte, war von den Parisern wohl benutzt worden. Die ungeheuere Ausdehnung der Stadt bot Raum zur Aufspeicherung unermeßlicher Massen von Vorräthen, welche das bleiche Gespenst des Hungers fern halten sollten. Seit dem Tage, an welchem den Parisern über ihre Lage die Augen geöffnet waren, hatten sie eine Energie entwickelt, wie sie die Franzosen in Stunden der Gefahr nicht selten ausgezeichnet hat. Die Losung des Widerstandes bis zum Aeußersten durchlief ganz Frankreich, und mit unerhörter Anstrengung all seiner Kräfte suchte das Volk den siegreichen Feind aufzuhalten. War dies eine überflüssige Kraftanstrengung? Wäre es weiser gewesen, Blut und Leben zu sparen und mit dem Gegner zu verhandeln? Ein Volk, welches in solchen Augenblicken nüchtern erwägt, muß schon ein gut Theil seines Selbstbewußtseins verloren haben. Die Entschlossenheit des Widerstandes war aber dabei mit der fast komischen Eitelkeit verquickt, welche glaubte, ganz Frankreich, ja ganz Europa werde für die stolze Königin der Städte in die Schranken treten; auch der Sieger werde sie nicht antasten dürfen. Bei dem leichten Sinn der Franzosen war so selbst in jener ernsten Zeit das Pariser Leben äußerlich wenig geändert. Als schon des Feindes donnernde Grüße laut herüber dröhnten, wogte auf den Straßen und den Boulevards wie sonst eine heitere, müßige, schwatzende Menge, nur etwas bunter anzuschauen in Folge des kriegerischen Anstriches, den sie angenommen hatte. Trotz des blutigen Ernstes der Lage war es den Parisern sogar kaum möglich, dieselbe anders als im Lichte eines neuen Amusements aufzufassen. Im ersten Moment hatte freilich das Schicklichkeitsgefühl überwogen, so daß die Theater und Vergnügungsorte geschlossen wurden. Aber dem Pariser ist das Vergnügen, die Zerstreuung so nothwendig wie das tägliche Brod. Man war daher dem allgemeinen Wunsche nachgekommen und hatte jene Locale wieder eröffnet. Freilich wurden sie nun zu patriotischen Kundgebungen benutzt, in denen aber allmälig immer deutlicher ein anderer Geist zu Tage trat.
So heiter demgemäß die Oberfläche im allgemeinen blieb, gab es doch ernste, tiefblickende Geister genug, die sorgenvoll nicht allein das Leid betrachteten, welches langsam immer mehr um sich griff, sondern auch ein anderes Unheil Gestalt gewinnen sahen, welches gefährlicher war, als der Feind vor den Thoren. Dr. Josephson's Gesinnungsgenossen hatten die Zeit auf das beste ausgenutzt. Wenn es jemals eine Epoche gab, welche die Gemüther revolutionairen Bestrebungen zugänglich machte, so war es diese. Die fortwährende Aufregung, die stete active Theilnahme am politischen Leben, die meist im Gefolge des Unglückes einherziehende Unzufriedenheit, welche alles Bestehende für eben dieses Unglück verantwortlich machen will, bahnte den revolutionairen Principien jetzt den Weg. Die alles anzweifelnde Wissenschaft wie die schrankenlose Genußsucht hatten den Boden dafür lange vorbereitet. Noch lastete der Druck des Augenblickes auf diesen Elementen und hielt sie im Zaume; aber im Gewande des Patriotismus wagten sich die grundstürzenden Tendenzen immer ungescheuter an's Licht.
Daniella erfüllte ihr Wort, ganz ihrer Mission leben zu wollen. Ein natürliches Heimathsgefühl ließ sie allerdings an den patriotischen Kundgebungen gegen die Deutschen sich nicht betheiligen; aber es lag in ihrer Aufgabe, den Einfluß ihrer Partei auf allen Gebieten wirksam zu zeigen. Ihr Thätigkeitsdrang und der Ehrgeiz, der sie jetzt ganz erfüllte, trieben sie dazu. Außerordentliches zu leisten. Die humanitairen Bestrebungen für die Kranken und Verwundeten, für die momentan am meisten betroffenen niedern Schichten der Bevölkerung eröffneten ein ungeheueres Arbeitsfeld. Sie hatte nicht umsonst mit so vielen Männern der Wissenschaft verkehrt; die neuesten Systeme, die neuesten Organisationen waren ihr bekannt. Auch reizte sie der Gedanke, zu beweisen, wie die Humanität die christliche Liebe vollkommen zu ersetzen, ja zu überstrahlen vermöge. Die patriotischen » soeurs laïques«, die hinzuströmten, um wunden Kriegern ihre Dienste anzubieten, sollten beweisen, wie es zur Selbstaufopferung des religiösen Fanatismus nicht bedürfe, wie vielmehr die reine Menschenliebe genüge. Als Stütze und Mittelpunkt der großartigsten Schöpfungen dieser Art zählte sie bald zu den Koryphäen des Tages, da sie ihre eigenen Kräfte so wenig schonte, wie ihre finanziellen Mittel.
Bei der gewaltigen Thätigkeit, die sie jetzt in Anspruch nahm, hatte sie freilich keine Zeit, alten Träumen nachzuhangen, alte Erinnerungen zu pflegen; sonst hätte sie bei den häufigen Besuchen, die sie den Spitälern angedeihen ließ, vielleicht die schlanke Gestalt eines jungen Mannes bemerkt, welcher gleich ihr jene Säle durchschritt, zwar nicht mit dem Herrscherblick genialer Oberleitung das Ganze überschauend, aber um so eifriger den einzelnen Leidenden sich widmend. Sie hätte auch sehen können, wie mancher der deutschen Verwundeten mit besonderer Freude diesen Mann begrüßte. Dieselbe Gestalt erschien stets unter den langen, düstern Colonnen, welche den ausrückenden Truppen sich anschlossen, um die schrecklichen Folgen des Kampfes zu lindern.
Daniella erkannte sie wohl nicht wieder, diese bescheidenen Ordensbrüder, welche so unermüdlich bei den blutigen Ausfällen oder bei den täglich sich erneuernden Vorposten-Plänkeleien ihres Samariterdienstes walteten. Es war dieselbe Genossenschaft, die sie einst mit dem Hohenwaldau'schen Kreise besucht, und deren demüthige Aufopferung auf sie damals solchen Eindruck gemacht hatte. Aber Daniella hatte keine Zeit für Erinnerungen und betrachtete sie nur als einen Theil ihres großen patriotischen Pflege-Instituts, bei welchem diese Brüder still und ohne Aussehen die schwierige Rolle der Krankenträger auf den Gefechtsfeldern übernommen hatten. Auch da waren neue Systeme aufgetaucht, und vielfach hatte der Patriotismus seine Hülfe angeboten; aber selbst die heftigsten Gegner von allem, was nur an das Kirchliche streifte, konnten nicht leugnen, daß von allen Hülfskräften die jener religiösen Genossenschaft als die wohlgeordnetsten und ausdauerndsten sich erwiesen.
Frau von Velden's Vermuthung hatte sich bestätigt: die Wege Rother's und Danielles sollten sich hier wieder kreuzen. Beide fanden sich auf denselben Schauplatz versetzt – nur ganz entgegengesetzte Richtungen vertretend.
Rother's Wunsch, sich für die Wirksamkeit in den auswärtigen Missionen auszubilden, war nahe daran, in Erfüllung zu gehen, als der plötzliche Ausbruch des Krieges ihm abermals ein Hinderniß bereitete. Es blieb ihm nichts übrig, als in seiner abwartenden Stellung bei dem Pfarrer zu bleiben, bis der Sturm vorübergezogen sein würde. Einen Augenblick hatte die Kriegsfanfare auch sein junges Herz erregt; das deutsche Blut war hoch aufgewallt, und es hatte ihn mächtig gezogen, in's Vaterland zurück zu eilen, wo Kampf und Gefahr drohten. Aber er hatte sich schon einer andern Fahne verpflichtet, und seine Kämpfe sollte er fortan auf anderm Felde suchen. Um jedoch nicht müßig zu bleiben in solcher Zeit, schloß er sich jener Genossenschaft an, die sich der Hülfeleistung bei den kämpfenden Truppen hauptsächlich widmete. Es war ihm ein wohlthuender Gedanke, auf diese Weise etwas für sein Vaterland thun zu können. Mancher deutsche Krieger, der schwer getroffen dahinsank, und den er mit starkem Arme aus dem Kugelregen trug, blickte erstaunt auf, wenn er sich in seiner Muttersprache anreden hörte. Mancher Verwundete und Sterbende wurde ruhiger, wenn das sympathische Antlitz des jungen Mannes sich über ihn beugte, und ihm Trostworte zugesprochen wurden in den heimischen Lauten, die in Feindesland doppelt erquickend klangen.
Rother's Thätigkeit in dieser Zeit war zwar unscheinbarer als die Daniella's, doch war er kaum weniger beschäftigt als sie. Wenn aber Daniella in ihrer hastigen Rastlosigkeit auch Rother nicht bemerkte, wenn die Stimme des Herzens, die so lange gesprochen, jetzt in ihr schwieg, so hörte und sah Rother um so mehr von ihr. Wie er stets gethan, mußte er die Kühnheit ihres Geistes, die Macht der Energie bewundern, mit der sie das Haupt so vieler geworden. Er mußte die schöpferische Thätigkeit anstaunen, die sie auf so vielen Gebieten zu entwickeln verstand, die Aufopferung, mit der sie sich dem allgemeinen Wohle hingab. Aber um so bitterer schien sie den Krieg gegen alles Kirchliche in Wort, in Schrift und in der That fortzusetzen. Ein Schmerz durchzuckte Rother stets von neuem, daß es ihm nicht gelungen sei, ihr die Erkenntniß zu eröffnen. Aber auf dem Wege, wo sie sich jetzt befand, war wohl kaum daran zu denken. Sie schien um so blinder geworden, weil das Licht der Erkenntniß ihr geleuchtet und sie sich davon abgewandt hatte. Er hatte dieses Licht damals in ihrem Blicke gesehen; wodurch war es wieder ausgelöscht worden? Es mußte ein heftiger Sturm gewesen sein, wie nur die Leidenschaft in des Menschen Herzen ihn erweckt, ein eisiger Hauch, wie er nur auszugehen vermag vom Stolze, der gleichsam eine starre Rinde um die Seele legt.
Wenn Holdern damals einen Einfluß geübt, warum sah man ihn jetzt nicht mehr an ihrer Seite? so fragte sich Rother, kaum weniger erstaunt als Helene. Er versuchte indessen nicht mehr, sich Daniella zu nähern. Er wußte, daß dies jetzt nutzlos sein würde. Unbegreiflich war ihm nur, daß ihr klarer Geist nicht sah, welch' verderblichen Samen sie ausstreute!
Und doch fing diese Saat bereits an, ihre Früchte zu zeigen. Schon im Laufe des Winters war einige Male die Flamme des Aufruhrs aufgelodert, mit dem stolzen Schilde der Vaterlandsliebe sich deckend. Die Gegenwart des Feindes vor den Thoren hatte jedoch die Unordnung in Schranken gehalten. Kaum war aber endlich die Entscheidung gefallen und der Bann der Belagerung gehoben, so zeigte sich, daß zu viel Elemente der Gährung vorhanden waren, als daß ein gesundes Leben sich hätte Bahn brechen können.
Fast noch drückender als jene Tage, da des Feindes Hand die französische Hauptstadt in der Gewalt hielt, waren die folgenden Wochen. Die helle Lenzsonne mit ihrem milden Strahle, der jetzt wie versöhnend auf all' das Leid sich senkte und selbst aus den Trümmern, die der Krieg geschaffen, frisches Grün und Blüthen weckte, vermochte keine Gewalt über die unruhigen, verfinsterten Menschengemüther zu gewinnen. Nachdem der eiserne Riegel sich gelöst, hatte eine Menge der Bewohner die Stätte verlassen, wo sie so unfreiwillig festgebannt gewesen. Sie hatten die Empfindung des Aufathmens nach langer Beengung, vielleicht auch eine Ahnung, daß die drückende Atmosphäre in der Stadt noch lange nicht weichen werde.
Rother hatte diese Empfindung getheilt. Er war ja die ganze Zeit hindurch von all' seinen Lieben daheim abgeschnitten gewesen, und wenn auch seine Thätigkeit ihm nicht gestattet hatte, dem Gedanken an sie nachzuhängen, so erwachte doch jetzt in ihm das Bedürfniß, ihnen ein Lebenszeichen zu senden, wie auch von ihnen Nachrichten zu erlangen. Am liebsten würde er selbst hingeeilt sein; aber sein Entschluß stand fest, sobald es eben möglich, seinem Berufe sich zu widmen, so daß er Frankreich jetzt am wenigsten verlassen durfte.
Obwohl der Verkehr wieder frei gegeben war, mußte er als Deutscher doch noch vorsichtig sein. Er entschloß sich, den Brief durch seinen geistlichen Obern nach Bornstadt an den Grafen de Bussy schicken zu lassen, den er dort in Gefangenschaft wußte. Der Graf hatte ihn vor seinem Eintritte in die Armee wiederholt aufgesucht, so daß er dessen Regiment kannte. Bei seinem täglichen Verkehr mit Verwundeten und Gefangenen aber hatte er erfahren, daß letzterer in Bornstadt internirt sei. Es konnte und durfte nur ein flüchtiger Gruß sein, den er seiner Pflegemutter und seinen Freunden sandte, und eben so kurz erwähnte er, wie er die ereignißvolle Zeit zugebracht, indem er bat, wo möglich auf gleichem Wege irgend welche Nachricht ihm zu senden. Das Glück, sein Ziel nun erreicht zu haben, sprach er innig aus und theilte Helene besonders mit, daß er für die Verwundeten gerade mit der Genossenschaft gewirkt habe, welche sie damals in Gesellschaft Daniella's aufgesucht hätten. Von Daniella und ihrer Thätigkeit, wie auch von dem Ansehen, welches sie in der Partei des Umsturzes errungen, sprach er nur im Vorübergehen.
Daniella empfand nicht minder die natürliche Sehnsucht nach einem Aufathmen in ruhiger, freier Luft nach all' dem dumpfen, schreckenerregenden Getriebe. Aber auch für sie war in seltsamer Gleichheit mit Rother's Geschick der Moment des Aufathmens noch nicht gekommen. Auch ihr Beruf verlangte sie noch.
Dr. Josephson's funkelnde Augen fragten nicht umsonst, ob sie jetzt matt zurückweichen werde, wo die Krisis für ihre Partei hereinbrechen müsse, wo es gelte, den Kampf auszufechten, der dieselbe an die Spitze Frankreichs bringen sollte, um von dort aus sich über die Welt zu verbreiten. Jetzt Paris verlassen, wo man die Stadt in ihren heiligsten Rechten kränken, wo man ihr, nachdem sie die Dornenkrone des Patriotismus so heroisch ertragen, die langjährige Herrscherkrone entreißen wolle!
Daniella mußte sich geschmeichelt fühlen, zu sehen, welchen Werth man auf ihre Thatkraft legte, welchen Einfluß sie erlangt. Trotz allen weltumfassenden Gedanken erwachte aber auch in ihr der Wunsch, irgend jemand die Nachricht zu geben, daß die Gefahr überstanden sei. Hatte die stolze Empfindung des Aufsichberuhens, die sie mit solcher Genugthuung erfüllt, sie so einsam gelassen, daß es niemanden gab, der in dieser gefahrvollen Zeit für sie bangte, sich nach ihr sehnte? Sie dachte an jenes stille Zimmer in der engen Gasse, wo sie zuerst ihre Träume geträumt, wo man ihr vielleicht die einzige uneigennützige, ungetrübte Liebe entgegengetragen. Würde ihr Großvater nicht an sie gedacht, würde die alte Jetta nicht um sie gesorgt haben, wenn sie gewußt hätten, daß ihr Liebling in der belagerten Stadt sich befand? Sie wähnte Jetta's altes, braunes Gesicht zu sehen, wie sie ängstlich dreinschaute, wenn sie von dem Kriegsgreuel hörte, und wie sie eifrig für den frühern Schützling betete, wenn sie der Gefahren dachte, die ihn umgeben mußten. Daniella warf also in jenen Tagen einige Zeilen auf das Papier, die nach Bornstadt von ihr Nachricht brachten und den Wunsch, etwas von ihrem Großvater zu hören. Sie gab eine Adresse an, unter der sie die Antwort wünschte.
Ueber die flüchtige Gefühlsregung hin wogten aber gleich wieder die drängenden Ereignisse jener wilden Tage.
Es war Mitte März geworden. Daniella saß in ihrem Gemache und beachtete nichts weniger als die goldenen Strahlen, welche die Sonne freundlich hereinsandte. Ihre Feder flog unablässig über das Papier, und ihr Kopf hob sich nur von Zeit zu Zeit, um in die Ferne zu lauschen oder um Botschaften entgegenzunehmen und zu entziffern, deren eine die andere drängte. Das Gemach, worin Daniella sich befand, erinnerte in seiner geschäftsmäßigen Ausstattung wenig mehr an ihre frühern graciösen Boudoirs. Es trug heute das Gepräge, als sei alles für eine Abreise bereit; eine Menge von Papieren lagen in Bündel sorgfältig geordnet, als harrten sie nur des Augenblickes, um alsbald bei Seite geschafft zu werden. Ein Koffer stand gepackt. Daniella selbst trug einen dunkeln Reiseanzug, welchen Hut und Mantel leicht vervollständigen konnten.
Was Daniella in hastigen Zügen auf das Papier warf, waren Proclamationen und Aufrufe an das Volk von hinreißender Beredtsamkeit, wie sie ihrer geschickten Feder oft entströmten. Die Botschaften, welche sie erhielt, schienen sie anfangs zu befriedigen; aber allmälig, wie die Stunden verrannen, zeigte sie sich beunruhigt. Sie sah müde und abgespannt aus; denn Nächte hindurch hatte sie in letzter Zeit gearbeitet unter härterm Frohndienste, als die bitterste Armuth ihn auferlegen, als der strengste Zwang ihn erheischen könnte.
Und wofür bürdete sie sich diese Last auf, welche den Glanz ihrer Augen trübte, ihr die Jugend nahm und sie in athemloser Spannung hielt? Durchzuckten diese Frage ihren Geist, als sie jetzt das dunkele Haar von der heißen Stirne strich, als sie einen Moment die Feder fortschleuderte, wie ermüdet von der unablässigen Arbeit? Galt all' diese Mühe den Plänen der Weltbeglückung, dem Abwerfen eines alten Joches und abergläubischer Theorieen, damit das Volk auflebe in einem neuen Lichte – eine Phrase, die sie selbst der Welt so oft wiederholt hatte? War denn die Welt bisher so finster gewesen? Hatte das alte Joch so schwer gedrückt? Hatten die abergläubischen Theorieen so sehr die Geister verdunkelt? Ein Bild trat vor ihre Augen, ein Bild, so licht und lebensvoll, wie kein zweites ihr gelächelt.
Ihr Nachdenken wurde unterbrochen durch ein aus der Ferne herüberrollendes Getöse, an das in letzter Zeit die Pariser Ohren freilich gar wohl gewöhnt waren. Waren aber nicht diese donnernden Grüße des Feindes eben erst verhallt? Woher schon wieder der unheimliche Klang? Daniella wußte, was das zu bedeuten hatte. Sie war aufgesprungen und lauschte gespannt. Einer der Boten, welche ihr Nachrichten zu überbringen hatten, stürmte die Treppe herauf und riß unceremoniöser als die frühern die Thüre zu Daniella's Gemach auf. Es war ein halbwüchsiger Bursche, dem ein rother Fetzen um die Schultern und das Haar wirr um das blasse Gesicht hing. Er überreichte Daniella einen Zettel von Dr. Josephson. Des Burschen Worte überholten aber dies Mal die geschriebene Mittheilung. »Es geht alles gut, Bürgerin!« rief er, seine knabenhafte Gestalt mit Selbstbewußtsein emporreckend. »Der Bürger L'Huillier hat seine Aufgabe erfüllt! Vive la République! Die rothe Fahne weht auf dem Stadthause, und unsere Leute sind die Herren dort, anstatt der Vaterlands-Verräther, die uns an die Preußen verkauften, und anstatt der Pfaffenknechte die dort ihre Herrschaft aufschlagen wollten.« Des Burschen schwarze Augen funkelten wild, als er mit der dem Franzosen eigenen Geläufigkeit diese Worte hervorstieß. »Der Bürger Josephson sagte, Ihr möchtet in kurzem Euch auf das Stadthaus begeben, wo das National-Comité sich constituiren wird. Er würde Euch nur noch eine Botschaft senden.«
Daniella's Augen leuchteten auf; etwas von der Begeisterung, welche der Erfolg mit sich bringt, erfaßte sie: man hat nicht umsonst monatelang für eine Sache gewirkt. Sie fühlte ihr Herz stolzer schlagen: zum großen Theil war das ihr Werk. Ihre Hand faßte nach einer rothen Schärpe, welche neben ihr lag, und sie schlang dieselbe gleich einem Ehrenbande um ihre schlanke Gestalt. Wie eine Flamme leuchtete dieselbe auf dem dunkeln Gewande und schien ihre Gluth auch auf Daniella's bleiches Antlitz zu gießen.
Der Bursche betrachtete sie mit sichtlichem Wohlgefallen. »Die Bürgerin thut wohl daran, sich mit der rothen Farbe zu schmücken, die bald die Welt regieren wird,« sagte er keck. »Die erste Fahne auf dem Stadthause heute war freilich nur ein Unterrock, den eine Bürgerin hergeben mußte, und aus dem wir das Futter rissen; aber sie leuchtete darum nicht minder. Es wird fortan nur gleiche Rechte geben,« fuhr er mit einem frechen Lächeln fort, »nun die alten Vorurtheile abgethan find. Es lebe die Bürgerin!« setzte er hinzu, ein Glas ergreifend und hoch emporhebend, welches Daniella ihm gefüllt überreichte.
»Es lebe die Republik!« gab Daniella zurück. » Dr. Josephson theilt mir mit, Ihr solltet zu meiner Verfügung stehen. Ihr werdet die Proclamationen und den Aufruf an das Volk sofort in die Druckerei zu bringen haben,« sagte sie, die Papiere ihm überreichend. »Paris muß wissen, was das Volk für seine Rechte gethan, Frankreich muß erfahren, daß seine Hauptstadt glorreich sich zu erheben weiß. Die Welt wird auf euch sehen und euch einst danken, daß ihr unverzagt die Fahne der Freiheit erhoben,« fuhr sie fort, den Ton anschlagend, den der Augenblick erheischte, indem sie die Papiere ordnete und sich bereit machte, zu dem Stadthause sich zu begeben. Aber ehe sie noch damit geendet hatte, kam abermals Botschaft. Dies Mal zuckte Daniella unwillkürlich zusammen. Ein Weib trat ein, welches sich mit einer militairischen Uniform ausstaffirt hatte; ein Käppi schmückte den Kopf, ein Säbel hing an der Seite und in den Händen trug sie ein Gewehr. War sie eine Illustration der »gleichen Rechte,« die der Bursche so eben verkündet? Das Weib gab sich Mühe, eine Art militairischer Honneurs zu machen. Der Bürger Josephson sandte sie mit der Nachricht, daß alles beendet sei, und daß die Sieger die Bürgerin Daniella mit Sehnsucht erwarteten.
»Es hat heiße Arbeit gegeben,« fuhr die Berichterstatterin fort; »die Feinde des Rechtes und der Freiheit haben daran glauben müssen. Das Volk ist groß in seinem Zorne; die Verräther Thomas und Lecomte, die es niederschmettern wollten, haben den Lohn erhalten. Das Volk übte selbst Gerechtigkeit und hat sie erschießen lassen. Mögen so alle Verräther enden, bis die glorreiche rothe Republik gesiegt hat!«
Daniella, obschon an den ungezügelten Ton der Clubs und an viele Uebergriffe in der letzten Zeit gewöhnt, empfand ein Grausen bei dieser wilden Rede. Sie wußte, was es hieß, das Volk habe die Gerechtigkeit selbst in die Hand genommen. Nicht bloß mit Blut – mit Mord hatte der erste Siegesact begonnen. Unwillkürlich tönten ihr die Worte Dr. Josephson's in den Ohren, welche er bei jenem Mahle gesprochen: »In Blut muß die Welt sich neu gestalten.«
Kaum war ein Jahr verflossen, seit jene schauerigen Worte gesprochen wurden, und schon begannen sie Wahrheit zu werden. Aber muß nicht jede große Sache in Kampf und Sturm geboren werden? War das nicht bloß ein Uebergang, durch den man zum Siege gelangte? Mit dem Siege aber mußte jenes Reich der Vernunft und Erkenntniß beginnen, in welchem die sittliche Kraft und die Menschenwürde alle Ausschreitungen in Schranken halten.
Ungeachtet des kalten Schauers, der Daniella erfaßte, als sie die ersten Spuren der Zerstörung sah, glaubte sie ein stolzes Siegesgefühl zu empfinden, als gleich darauf Dr. Josephson sie dort einführte, wo die Herrschaft ihrer Principien begonnen.