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Velden ritt in die stürmische Nacht hinein, von der Unbill des Wetters kaum etwas empfindend. Aus die Unruhe und Erregung der letzten Zeit war nun, da der Schlag gefallen, da keine Ungewißheit mehr möglich, dumpfe Ruhe gefolgt – jene Ruhe, die unsere Fähigkeiten lähmend umfängt und die selbst die Qual des Zweifels zurückwünschen läßt.
Menschen von großer Elasticität des Geistes kennen diesen Zustand kaum. Der Gedanke, der sich bei ihnen rastlos in den Schmerz versenkt, steigt auch wieder empor; bei ihnen macht selbst im Moment des größten Leidens ein Ankämpfen gegen den Schmerz sich geltend, aus dem das eine oder andere neue Gefühl ersteht. Auf Menschen von starkem Charakter, doch wenig productiver Ader legt sich aber das Weh mit der Wucht bleierner Schwere. Weil sie stark sind, sinken sie nicht zusammen; aber sie tragen eine Last mit sich, die ihr inneres Leben zerdrückt.
Die Liebe zu Helene war seit frühester Jugend die Achse geworden, um die Hermann's Hoffen und Streben sich bewegte. Unveränderlich, wie sein Sinn war, hatte er diese Liebe aus der Kindheit in seine Jugend herübergenommen; sie hatte sich gesteigert, wie seine innere Entwickelung fortgeschritten war – ein Wechsel wäre ihm undenkbar gewesen. Er würde nicht müde geworden sein, auf Helene zu harren, er würde kraftvoll gekämpft haben, sie zu erringen; er würde nichts unversucht gelassen haben, alle Hindernisse zu beseitigen, und hätte es eine Lebenszeit erfordert. Seine Hoffnungen aber so vollkommen zu vernichten, seiner Neigung so jeglichen Boden zu entziehen, das hieß ihm Zweck und Ziel des Lebens rauben. Kaum jemals hatte er sich gefragt, ob er in seinen Hoffnungen auf Helenens Liebe nicht zu kühn sei. Er hatte als Mann daran geglaubt, wie er von Kindheit an daran geglaubt hatte, trotz jener momentanen Verstimmung. Das Bitterste war ihm, daß er gerade um Holdern's willen sich zurückgewiesen sah. Wäre Helene durch Jemanden ihm entrissen worden, den er als höher stehend hätte anerkennen können, so wäre der Schmerz wohl nicht geringer gewesen, aber sein verständiger Sinn hätte sich zurecht gefunden. Doch Holdern, dieser Abenteurer, wie er ihn im tiefsten Innern längst genannt hatte, dem gegenüber er ohne Selbstüberhebung seinen eigenen Werth erkennen mußte – das war zu viel!
Velden's gerader, sittlicher Sinn hätte Holdern durchschaut, wäre dieser auch nicht als sein Nebenbuhler aufgetreten. Wäre Velden Helenens Bruder gewesen, so würde er kaum ertragen haben, daß derselbe den Blick zu ihr erhoben hätte. Er wußte, wie Holdern in Bezug auf das weibliche Geschlecht dachte, daß er nur ein Spielzeug des Augenblicks darin sah – und dem Manne, der keine sittliche Schranke anerkannte, wandte sie ihr reines Auge zu, den erwartete sie mit klopfendem Herzen, in dessen Hände wollte sie ihr Glück legen! Von ihm selbst, dem seine Liebe so hoch gegolten, der sie mit so heiliger Scheu gehütet, daß eine Welt voll Anfechtungen ihn kaum berührt haben würde; wandte sie sich ab! Hätte Velden nicht gewußt, daß eben Helenens vollständige Unbekanntheit mit der Welt sie so falsch urtheilen lasse, die Gestalt dieses Mannes hätte einen Schatten auf ihr Bild werfen können. Und unter den eingetretenen Umständen konnte und durfte er nicht einmal warnen!
Zu stolz zur Klage, zu stolz, den ganzen Schmerz in seiner Größe einzugestehen, zeigte er wenig von dem, was er empfand. Als er an jenem Abende heim kam und seine Mutter staunte, ihn trotz des unwirthlichen Wetters so spät zurückkehren zu sehen, schob sie sein bleiches Antlitz der Einwirkung von Sturm und Külte zu. Auch die folgenden Tage hindurch brachte sie sein angegriffenes Aussehen auf Rechnung einer Erkältung. Mütter haben meist einen schärfern Blick für körperliche Leiden, als für Seelenleiden.
Frau von Velden dachte an nichts weniger als an die wirkliche Ursache, die ihren Sohn bedrückte. Um ihn zu erheitern, zugleich auch in dem frohen Bewußtsein, dem erwachsenen Sohne so gute Rechnung ablegen zu könne«, machte sie ihn auf die Werthsteigerung seines künftigen Eigenthums aufmerksam. Von Jahr zu Jahr hatten unter ihrer stillen, einfachen Leitung die Einnahmen sich vermehrt, während die Lasten sich verminderten.
Leuchtenden Blickes bat sie ihn, einen Einblick in die letztjährigen Buchführungen zu thun. Bei den steigenden Preisen des Holzes waren noch immer verbesserte Einnahmen in Aussicht. Des alten Rother's Anordnungen, die Schonung der Waldung und die sorgfältigen Anpflanzungen hatten Früchte getragen. Auch im Hause hatten allmälig die Lücken sich gefüllt. Frau von Velden hatte nicht Ueberflüssiges angeschafft, aber die einst so öden Räume hatte ihr weiblicher Verschönerungssinn auch mit geringen Mitteln passend auszustatten gewußt. Die Kisten und Schränke waren ebenfalls nicht leer geblieben. Frau von Velden freute sich ihrer Schätze, wie nur der sich freuen kann, der sie in Mühe und Entbehrung gewonnen. Natürlich kamen auch harmlose Anspielungen auf die künftige Schwiegertochter dabei vor, wie Mütter erwachsener Söhne sie lieben; diese sollte »alles viel besser und schöner finden«. Die Mutter ahnte nicht, welchen Stich in's Herz sie ihrem Sohne damit versetzte.
Das Interesse, das Hermann bisher an seinem Eigen gefunden, war jetzt fast in Abneigung übergegangen. Der Gedanke, auf diesem Fleck leben zu sollen, um in nächster Zeit Helene an der Seite eines Andern zu sehen, war ihm unerträglich. Die Zeit seines Urlaubs wurde ihm schon zu lang. Nach Helenens Worten dachte er sich ihr Verhältniß zu Holdern viel gefestigter, als es war. Er scheute jetzt, Näheres zu hören, er fürchtete jede Verbindung mit Asten. Dennoch mochte er nur ungern ein kälteres Verhältniß zu der Familie zur Schau tragen. Für's erste genügte freilich der Grund, daß er sich nach der langen Trennung seiner Mutter widmen müsse. Für die Zukunft fand er Trost in der Aussicht, in einer entfernten Residenz seine Wirksamkeit zu finden, nachdem er aus dem Militairdienst entlassen sein würde.
Rother war an jenem Abend zu Asten geblieben. Er hatte seinen Großeltern einige Tage gewidmet und war dann zu seinen soldatischen Pflichten zurückgekehrt. Von seinen letzten Erlebnissen mit Daniella hatte er nicht einmal seiner Pflegemutter eine Mittheilung gemacht. Instinctmäßig fühlte er, daß Daniella's kühner Schritt vor dem Forum des mütterlichen Urtheils wenig Nachsicht erfahren würde. Die mündliche Darstellung mußte ihr ein niedriges Bild geben, und es widerstrebte seinem Zartgefühl, den geringsten Schatten auf das Mädchen zu werfen. Dennoch hätte er gern wissen mögen, wie ein weibliches Gemüth sein Benehmen auffassen würde. Er war im Zweifel, ob ihm etwas zu thun übrig bleibe, ob er versuchen müsse, Daniella zu versöhnen, um sie nicht ganz von dem Wege abwendig zu machen, auf dem er so innig gehofft, sie fortschreiten zu sehen. Er hätte mit Helene darüber Rath pflegen mögen. Die Jugend fühlt sich in solchen Fällen am meisten zur Jugend hingezogen – und nicht ganz mit Unrecht. Das jugendliche Herz versteht die feinen Schattirungen des Gefühls besser als das Alter, das zu erfahrungsreich ist, um jugendliche Empfindungen unparteiisch zu beurtheilen.
Helene suchte Rother aber möglichst auszuweichen. Ihm gegenüber fühlte sie sich unsicher Velden's wegen; sie wähnte, er werde für den Freund eintreten, mindestens ihre Gesinnung zu erforschen suchen. Carry Holdern's unablässige Gegenwart bot ihr das Mittel, jedes vertrauliche Gespräch zu vermeiden.
Fräulein von Holdern war noch immer in Asten, obwohl nicht Rother allein ihre Gegenwart wenig gefiel. Alle trugen dies freilich nicht so offenkundig zu Schau wie der kranke Herbert. Von dem Grafen an, der sein Mißbehagen durch eine bis auf's äußerste getriebene Höflichkeit zu verdecken suchte, bis zur Dienerschaft herab, die Fräulein von Holdern mißtrauisch betrachtete, war kaum Einer, dem ihre Persönlichkeit zusagte. Helenens Meinung über sie wäre schwer zu enträthseln gewesen. Der Weihrauch, mit dem Carry Holdern sie stets umgab, war eigentlich eher dazu angethan, sie abzustoßen, als anzuziehen. Aber in der Liebe Carry's zu ihrem Bruder lag die Anziehungskraft für Helene. Keiner überhaupt hätte recht zu sagen gewußt, was er an Fräulein von Holdern auszusetzen habe. Mit stets gleicher Liebenswürdigkeit kam sie jedem entgegen; ihre Conversation wußte geschickt alle Lücken auszufüllen, und im jetzigen Augenblick war ihre Anwesenheit wirklich von Nutzen für die Gesellschaft in Asten.
Tante Christiane war noch an ihr Zimmer gefesselt. Herbert, dessen anfänglich leicht scheinende Erkältung sich nicht verlieren wollte und einen schlimmem Charakter anzunehmen drohte, nahm Helene fast ganz in Anspruch.
Carry Holdern's Gegenwart im Salon oder bei den Spaziergängen gab dem Brautpaare den schicklichen Schutz. Von dieser nützlichen Aufgabe schien sie auch durchdrungen. Wenn sie des Morgens, in ihren türkischen Shawl gehüllt, das stets gleiche zuvorkommende Lächeln auf den Lippen, mit ihrem leisen Schritt die Treppe herabkam, hatte sie, wie sie sagte, ihre Arbeit schon vollendet. Diese bestand dann aus einer Anzahl jener eng beschriebenen, zierlich gefalteten Blättchen, auf denen wir unsern Gedanken in Wahrheit Flügel verleihen. Carry Holdern war jedenfalls in dieser Art sehr thätig; triumphirend zeigte sie meist das Ergebniß ihres nächtlichen Fleißes. Die große Brieftasche, welche des Morgens beim Frühstückstische zum Gebrauche Aller bereit lag, bekam täglich einen reichen Beitrag durch diese in den elegantesten Couverts verschlossenen Episteln. Hätte man hineinschauen können, sie hätten manches verrathen und von dem rastlosen Geiste erzählt, der in der zarten Gestalt der Schreiberin wohnte. Sie ließ nichts außer Acht, für den einen Zweck ihres Lebens neue Mittel und Wege zu suchen, neue Fäden anzuspinnen.
Einige Briefe trug Fräulein von Holdern selbst zum Dorfe hinab, um sie dort in den Briefkasten zu legen, als sei sie allzu besorgt für deren richtige Absendung. Mit dieser Aengstlichkeit behauptete Carry Holdern ihrer Alt-Jüngferlichkeit den Zoll abzutragen.
Die Briefe, die sie an Daniella schrieb, zählten zu denen, die nur durch ihre eigenen Hände gingen. Während sie Helene umschmeichelte, wollte sie Daniella nicht vernachlässigen. Sie berechnete dabei nicht ängstlich, was ihre Handlungsweise der Einen oder Andern kosten könne. Menschen, die weithin ausgesprochene Pläne zur Ausführung bringen wollen, pflegen rücksichtslos nur auf den Punkt zu sehen, den sie erreichen müssen. Carry verfolgte Daniella gegenüber ein ganz bestimmtes System.
»Der schöne Trovatore,« schrieb sie ihr in jener Zeit, »war hier und lebte im Lichte seiner Flamme. Er umschwebte sie fortwährend und vermochte die gefährliche Nähe nicht zu meiden. Sie aber hat ihren Entschluß gefaßt, ein Opfer gebracht den geheiligten Traditionen der Familie und des Landes, wie die jüngste Tochter es in ihrer Weise ebenfalls gebracht hat, indem sie ihr junges Leben dem altersgrauen rural squire hingab, der ihr Vater sein könnte, bloß, weil er ein wohl situirtes, wohl patentirtes Landeskind ist. Man opfert hier dem Stolz und dem Vorurtheil mit einem Heroismus, der einer bessern Sache würdig wäre.
»Unbegreiflich, warum der Himmel so viel bezaubernde Gaben an Ihren Trovatore verschwendete, wenn er ihn in diesen engen Cirkel bannen wollte! Gegen Vorurtheile kämpfen Götter selbst vergebens, – er wird seinem Schicksal nicht entgehen, so viel schöner auch das Ziel war, dem Sie ihn entgegenführen wollten. Unter den Augen seiner Angebeteten bleibt ihm nichts übrig, als Entsagung für Entsagung zu geben. Was wird daraus? heißt es im Kinderspiel, und die richtige Antwort hier heißt: une belle religieuse et un sobre curé de village. Der andere Jugendfreund scheint beim ersten Angriff mit voller Energie zurückgewiesen worden zu sein. Er trägt wahrscheinlich seinen Schmerz in seinen rauhen Bergen spazieren.
»Daniella, Sie Wesen der Kunst und des Geistes, freuen Sie sich nicht allein der Gaben, die Ihnen zugefallen; freuen Sie sich noch mehr der göttlichen Freiheit, die Ihnen wurde und Ihnen die Welt eröffnet. Wann werden Ihre Schwingen Sie in das Centrum des Weltlebens tragen? Das ist eben das Großartige an dieser Weltstadt, daß in ihrer Arena jeder siegen kann, jeder sich zur Geltung zu bringen vermag, der nur die Macht dazu in sich trägt. Sie werden als Gestirn glänzen, wie viel Sterne auch dort schon prangen!
»Mein Bruder hofft Sie jedenfalls noch zu sehen, ehe Sie die Flügel zum Fluge ausbreiten. Was für eine Zauberkraft müssen Sie haben, diesen kalten Mann mit neuem Lebens-Interesse zu erfüllen! Er hat tausend Pläne, seitdem er mit Ihrem energischen Geiste in Berührung kam.
»Daniella, die Atmosphäre der Freiheit, die Sie umgibt, muß es sein, was ihn neu belebt … Freiheit! … Wann wird die Welt aufathmen, befreit von dem Ballast veralteter Principien, der ihr anhängt? Man empfindet das erst, wenn man sieht, wie es hier vor Augen liegt, daß die schönsten Kräfte dadurch brach gelegt werden. Wesen, wie Sie, sind dazu geschaffen, gleich Meteoren solche enge Gesichtskreise zu durchbrechen. In Ihre Hände lege ich das Geschick meines Bruders. Sie vermögen alles: sie vermochten selbst, daß sich wieder jung und elastisch neben Ihnen fühlte
Ihre alte Freundin
Carry Holdern.«
Carry Holdern war stolz auf ihre stilistischen Uebungen. Sie legte die Worte nicht eben auf die Waagschale; sie betrachtete dieselben als zu kleine Münze, um ängstlich sie abzuzählen. Es kam ihr nur darauf an, eine Absicht zu erreichen.
Der kühne Plan der Weltausstellung, der an der Seinestadt aufgegangen war, zog die Augen der Welt ausschließlich auf sich, nachdem der Kriegsdonner verhallt war. Durch Neuheit und Großartigkeit sollten alle vorhergegangenen Ausstellungen in Schatten gestellt werden.
Fritz Holdern, kalt und gleichgültig, wie er schien, lebensmüde, wie er sich selbst dünkte, war doch für jeden neuen stachelnden Reiz empfänglich. Wenn sein düsteres Auge jetzt belebter sprühte, so war weder Helene noch Daniella die Ursache, wie sehr das dem Herzen der einen, der Eitelkeit der andern geschmeichelt haben würde; seine Gedanken hatten ganz andere Ziele, und das Spiel mit Frauen war ihm flüchtiges Beiwerk.
Holdern sah an nichts mehr hinauf; dennoch hatte an jenem Abend den weichen, braunen Augen gegenüber, die so unschuldsvoll und innig sich zu ihm wandten, etwas wie Rührung ihn angewandelt. Er hätte lächeln mögen über ihre Naivetät, ihren frommen Wahn; aber bei seinen wieder häufiger werdenden Besuchen war er doch diesem schüchtern liebenden Ausdruck gegenüber nicht gerade scrupulös mit jenen halben Worten, die Helene so mit stiller Freude erfüllten, von denen ihr Herz so lange zehrte. Er widmete ihr eine ehrfurchtsvolle Aufmerksamkeit, die ihm dabei noch besonders wohl kleidete und sie in ihrem Vertrauen bestärkte.
Herbert's Kräfte schienen dem heimischen Winter noch nicht gewachsen zu sein, und sein Zustand erweckte zu Asten bald neue Sorge. Die Aerzte sprachen jetzt von einem Aufenthalt im Süden für mehrere Jahre, bis die gefährliche Zeit der Entwickelung überstanden sei.
Graf Asten aber konnte unmöglich noch ein Mal in derselben Weise seine Zelte abbrechen, zumal da im Laufe des nächsten Frühjahres Henny's Hochzeit stattfinden sollte. Es galt daher, eine passende Begleitung für Herbert zu finden. Bei der Eigenheit des Kranken und der nöthigen Rücksicht auf die geistige Ausbildung des Fünfzehnjährigen war eine genügend zuverlässige Persönlichkeit nicht leicht zu treffen. In der letzten Zeit war der Knabe an sein Zimmer gefesselt, und Rother hatte in freundlicher Weise die Stunden, die sein Dienst ihm frei ließ, ihm gewidmet. Der Graf wußte, daß sein Sohn niemanden lieber zu seiner Begleitung haben würde, und daß anderseits er keinem andern ihn so ruhigen Herzens anvertrauen könne, als Rother, den er schätzte, wie ein eigenes Kind. Graf Asten wollte aber auch nicht egoistisch in des jungen Mannes Schicksal eingreifen. Er wußte nicht, was Rother nach beendeter Dienstzeit zu thun beabsichtigte; aber er erinnerte sich der lebhaften Sehnsucht, die er einst geäußert, den Süden kennen zu lernen. Wenn ihm als Künstler dies auch mit der Zeit möglich werden konnte, so war es bei seinen beschränkten Mitteln doch für den Augenblick unmöglich. Der Graf vermochte ihn aber so zu stellen, daß er für seine Ausbildung zugleich Sorge tragen konnte.
Rother war ungemein überrascht von dem Vorschlag des Grafen, der wie ein Lichtstrahl in sein unklares Sinnen fiel. Des Erfolges ungeachtet, den der junge Künstler bei seinem ersten öffentlichen Auftreten gehabt, war ihm die Virtuosen-Carrière doch verleidet. Längere Zeit hindurch hatte er um Daniella's willen sich viel mit ernsten Gegenständen beschäftigt, und das hatte ihn in einen andern Gedankenkreis hineingezogen.
Das Anerbieten des Grafen, das mit viel Zartgefühl und unter den großmüthigsten Bedingungen gestellt wurde, erfüllte ihn daher mit der aufrichtigsten Freude. Die Ungewißheit, die seit jenem Erlebniß mit Daniella ihn gepeinigt hatte, war damit geschwunden. Seine Anhänglichkeit für den Knaben kam dem Wunsche des Grafen entgegen; doch wollte er nicht fest zusagen, ohne mit seinem Freunde Velden Rücksprache genommen zu haben.
So wurde Hermann eines Tages aus seinem dumpf träumenden Zustande geweckt durch die schriftliche Bitte Rother's, ihn doch möglichst bald zu Bornstadt aufzusuchen, da er ihm eine wichtige Mittheilung zu machen habe.
Hermann's thörichtes Herz schlug hoch auf; trotz allem wähnte er einen Augenblick, Rother's Mittheilung könne sich nur auf Helene beziehen. Es war ihm sogar eine größere Enttäuschung, als er sich eingestehen wollte, zu erfahren, daß es sich bloß um eine persönliche Angelegenheit Rother's handelte. Diese Verstimmung ließ ihn wohl strenger urtheilen; er sah in dem Vorhaben nur eine Ablenkung von dem gewählten Berufe, ein ruheloses Haschen nach Neuem. »Du versplitterst dich,« sagte er bitter. »Dich fesselt nichts; du greifst nach jedem, was dich gerade lockt. In Wahrheit, du bist ein Schmetterling geworden, der um alles Glänzende flattert.« Unmuthig wandte er sich von dem Freunde ab, der in freudiger Erregung ihm seine Neuigkeit mitgetheilt hatte.
Rother fühlte sich von dem Vorwurfe getroffen. Einen Augenblick blieb er wie angewurzelt stehen und senkte den Kopf vor dem herben Tadel. Doch sofort erhob er ihn wieder. »Habe Geduld mit mir, Hermann,« sagte er innig und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wer nach einem Kleinod sucht, greift oft Fehl beim ersten Mal; er muß erst prüfen, ob er werthlose Scherben oder edles Gestein gefunden. Ich habe nicht deine ruhige Seele, nicht deinen klaren Blick, – auch nicht deinen ernst genügsamen Sinn. Was mich fesseln soll, muß meine ganze Seele ausfüllen. Ich habe gewähnt, es sei die Kunst, – vielleicht habe ich geirrt. Selbst das, was dir so hoch steht: die Liebe mit all' ihrer Schönheit, – ich glaube kaum, daß sie die Herrschaft über mein Herz erlangen könnte. Jetzt lockt mich die Welt mit ihren wechselvollen Bildern; laß mich auskosten, was sie bietet, nun es so leicht erreichbar mir wird. Die Zeit wird mir nicht verloren sein. Bin ich dann klar über meine Bestimmung, so werde ich dafür einstehen, – davon sei überzeugt.«
Hermann hörte seiner lebhaften Rede zu. Rother hatte den Pfeil zurückgeschnellt ohne es zu ahnen. »Ich habe nicht deine ruhige Seele, nicht deinen klaren Blick«: – war es denn ruhig in seiner Seele, war sein Blick klar gewesen? Hatte er sich nicht schlimmer täuschen lassen als irgend jemand. Jene Andeutung über die Liebe, welche Rother so eigenthümlich betont hatte, ließ ihn unwillkürlich aufsehen. Hatte derselbe auch Erfahrungen darin gemacht? Eine unwillkürliche Gedankenverbindung ließ ihn fragen, was denn Fräulein Daniella zu einem so völlig geänderten Lebensplan sagen würde.
Rother's Antlitz überzog sich augenblicklich mit so heller Röthe, daß Velden glauben mußte, einen sehr empfindlichen Punkt berührt zu haben.
»Ihr Geist, ihre Schönheit, alles, was du in ihr suchtest, …« begann Velden, um dem Freunde eine Brücke zu weiterer Mittheilung zu bauen.
»Sie ist in beiden schwer erreichbar,« antwortete Rother. »Das einzige, was ihr fehlt, ist dasjenige Licht, was den schärfsten Geist erst klar macht, was den größten Anlagen einzig Werth gibt.«
Velden glaubte ihn zu verstehen. »Zünd' es ihr an,« gab er zurück.
»Glaubst du, daß es sich jemals am menschlichen Geiste entzündet?« erwiderte Rother. Aber plötzlich schwieg er – auch seinem Freunde konnte er nicht mittheilen, was der Grund seines Erröthens gewesen.
Er trat zu seinem Instrumente und schlug jene Melodie an, die so wunderbar mit Daniella's Bild in seiner Erinnerung verknüpft war. Wie um die schroffen Uebergänge ihres Geistes zu zeichnen, verwebte er die einfache Weise in stürmische Phantasieen, die endlich, in sanfte Accorde aufgelöst, leise ausklangen, als wolle er den Gedanken ausdrücken: auch in ihr möge es sich einst so klären.
Velden lauschte, und wenn seinem unmusikalischen Ohre die Töne auch wenig verriethen, übten sie doch eine beruhigende Wirkung auf ihn. Zum ersten Mal erkannte er vielleicht die Macht der Kunst an. »Das ist schön, das ist wirklich schön,« sagte er wie hingerissen. »Du solltest das festhalten, es wäre schade, wenn diese Tonschöpfung nur so flüchtig vorüberginge! Du hast wirklich eine große Gabe, und es wäre Unrecht, wenn du dich von der Kunst wieder abwendetest,« setzte er in aufrichtiger Ueberzeugung hinzu.
»Wenn du das sagst,« lachte Rother, »muß ich es wohl glauben, und bin stolz darauf; denn dann habe ich wie Arion Steine erweicht. Uebrigens hast du recht, ich werde diese Composition einmal zu Papier bringen. Es ist schön, eine solche Gabe zu besitzen. Vielleicht war ich in letzter Zeit nur verstimmt und unklar, daß es mir nicht genügend dünkte; vielleicht wird die Reise meinem Streben neuen Impuls geben.«
»Wann reist ihr denn?« frug Hermann, sich jetzt zum Abschied erhebend.
»Hast du in Asten nichts darüber vernommen?« fragte Rother arglos zurück; auf des Freundes Antwort, daß er die ganze Zeit daheim gewesen, achtete er kaum. »Wir werden sobald als möglich reisen müssen,« fuhr er fort, »sobald ich nur der dienstlichen Bande entledigt bin. Der Graf hofft vermöge seiner Verbindungen dies bis zum März möglich zu machen. Ja, Hermann, dann geht es hinaus! Andere Lüfte athmen, das Schöne suchen, wo es zu Hause ist, den blauen Himmel sehen, wo er nicht homöopathisch uns zugemessen wird, wie hier! Wir müssen freilich unsere Pläne unter strengster Berücksichtigung der ärztlichen Befehle entwerfen; aber wir sind schon überzeugt, daß, nachdem wir Italien genügend durchzogen, noch eine Fahrt nach den Ionischen Inseln, nach Griechenland und vor allem ein Besuch beim alten Vater Nil der Gesundheit Herbert's zuträglich sein wird. Zwei Jahre des Wanderns stehen uns ja bevor.« Rother's Antlitz strahlte. »Wo die purpurne Woge das Ufer beschäumt – und von kommenden Sängern der Lorbeer träumt,« sang er ganz übermüthig. »Alter Freund, könntest du nur auch mit!« schloß er, dem Freunde lachenden Blickes in's Auge schauend.
Velden sah ihn fast melancholisch an; er vermochte eine solche Beweglichkeit der Empfindungen kaum zu begreifen. »Du bist ein glücklicher Mensch, Anton,« sagte er, ihm die Hand schüttelnd. »Dich könnte man beneiden,« setzte er hinzu, indem er hinausging.
Wirklich, er neidete ihm, wie er in seiner Kindheit gethan, die Fähigkeit, sich nicht niederdrücken zu lassen, sondern gleichsam spielend die Bürde des Lebens auf die andere Schulter zu werfen, wenn sie der einen zu schwer wurde. Er neidete ihm diese Reichhaltigkeit der Gaben, die stets so viele neue Lebensblüthen für ihn hervorzauberte. Mit ihm verglich er sich selbst, der alles mühevoll durcharbeiten mußte, wobei jede Frucht so langsam sich entwickelte, jeder Verlust so unersetzbar schien. Bei der Jugend ist das Gefühl acut – er fühlte sich bei seinen fünfundzwanzig Jahren alt und einsam.
Diese drückenden Gedanken prägten seinen Zügen ihren Ausdruck auf, als er an dem Abende neben seiner Mutter saß, ihr zu berichten von Rother's neuen Aussichten und Entschlüssen; etwas Müdes lag in seiner Stimme, etwas Trübes in seinen Worten. Der Mutter konnte das nicht entgehen.
»Hermann,« sagte sie, sich mütterlich an ihn schmiegend, »ist der Lebensberuf, den ich einst glaubte dir vorzeichnen zu müssen, dir widerwärtig, daß er dich so belastet? Dann glaube nicht, Hermann, daß deine Mutter eigenwillig darauf besteht. Du bist jetzt ein Mann; du hast das Recht, selbständig zu wählen. Kannst du nur in deiner Heimath glücklich sein, willst du nur hier deinen Berufskreis finden, so folge deinen Wünschen, mein Sohn.«
»Um Gotteswillen nicht!« rief Hermann so heftig, daß Frau von Velden erschrocken zu ihm aufsah. »Sprich nicht davon, Mutter, sprich kein Wort!«
Frau von Velden aber wollte sprechen. Plötzlich war ihr der Gedanke gekommen, seine kindliche Liebe möchte vielleicht einen schweren Kampf zu bestehen haben, es sei vielleicht ein Hinderniß für sein Lebensglück, daß die Herrschaft des Gutes in der Mutter Händen ruhe, und er wolle dies nur nicht aussprechen. »Wenn du glaubst, ich würde nicht gern und willig die Zügel niederlegen, die ich so lange Jahre habe führen müssen, so irrst du, mein Kind,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »Hand und Kopf sind bald müde. Laß mich, wie ein großer Staatsmann, im Zenith des Gelingens scheiden!« setzte sie scherzend hinzu. »Für dich habe ich geschafft, und wenn der Herr mich auch im frischen Arbeiten einen Lohn finden ließ, so wird doch der zweite und bessere in dem Bewußtsein bestehen, meines Kindes Glück gegründet zu haben. Ich werde stolz sein, bald einem lieben Töchterchen die Schlüssel zu übergeben, einer jugendlichern Kraft meinen Platz zu lassen.«
»Mutter,« sagte Hermann »du weißt nicht, wie weh du mir thust.« Für ein Mal siegte das Gefühl auch über die Kraft des Mannes, sein Haupt sank schwer auf den Tisch nieder.
»Hermann!« rief Frau von Velden mit jähem Errathen. »Hermann! es kann nur ein Irrthum sein, ein vorübergehendes Mißverständniß! Du hast vielleicht zu rasch dein Ziel erreichen wollen. Ihr beide seid noch zu jung; nicht alle Mädchen sind gleich Henny, deren Beispiel dich vielleicht verleitete.«
Hermann stand auf. »Nein, Mutter,« sagte er ernst, »ich habe nichts gewollt, als mit der Zeit durch treue Liebe sie erringen. Helenens gerader Sinn hat wohl verhüten wollen, daß mein Herz allzu kühnen Träumen nachhing; sie hat meine Liebe im Keime erstickt. Sie wußte nicht, wie tief sie schon Wurzel geschlagen! Ich habe ihr nichts vorzuwerfen, Mutter,« setzte er hinzu, als er sah, daß über Frau von Velden's Züge ein unmuthiger Ausdruck ging. »Helene liebt einen Andern, und das ist bei ihr keine flüchtige Laune. Ich habe mich in einem thörichten Traume gewiegt.«
Hermann schwieg und schritt im Zimmer auf und nieder. Am Fenster blieb er dann stehen und preßte die heiße Stirne an die kalte Scheibe. Er wußte selbst nicht, war ihm wohler oder weher nach dem Geständniß.
Ein Arm schob sich leise in den seinen, ein Kopf lehnte sich an seine Schulter: die Mutter war es; sie umfaßte ihn, wie sie ihn vielleicht nie umfaßt. Das stille Kind, der ernste Jüngling waren dem Mutterherzen nie so nahe gewesen, als jetzt dem Mann, der in seinem Schmerze sein ganzes Gefühlsleben verrieth. Kein Wort ging weiter über der Mutter Lippen.
In der schweigenden Theilnahme liegt oft etwas Süßeres und Erhabeneres als in dem gesprochenen Worte. Es gibt aber Stunden, die gewissermaßen für den Trost nicht geeignet sind, wo alles dazu beiträgt, die traurige Stimmung zu erhöhen.
Draußen pochte der Sturm an die Scheiben, und der Regen rieselte herab mit dem düstern, klagenden Tone, den er im Winter hat, wenn er nicht durch frische Blätter rauscht und keine Blüthen erquickt, sondern auf harte Erde und nackten Stein fällt; es liegt etwas Melancholisches und Hoffnungsloses in dem Klang. Frau von Velden wie ihr Sohn empfanden diesen Eindruck in dem Augenblick.
»Du hast Recht gehabt, Mutter,« sagte Hermann ernst, »daß der eigene beschränkte Besitz einen zu engen Horizont bietet für den Mann. Welches Glück für mich,« fuhr er düster fort, »daß mir ein anderer Wirkungskreis offen steht; es wäre, schrecklich, jetzt hier weilen zu müssen! Hier friedlich zu athmen, während vielleicht schon bald eine neue Wendung in Asten eintritt, wäre mir nicht möglich. Niemals, Mutter, werde ich als gleichgültiger Mensch in Helenens Nähe leben können, wenn sie einem Andern gehört,« unterbrach er fast erbittert die leise geflüsterte Einrede der Mutter, die von der Wirkung der Zeit sprach. »Ich weiß, daß nur ein Mal mir diese Blume geblüht hat, und nie eine Andere mir Helene ersetzen wird.«
»Nie?« wiederholte die Mutter erbleichend. »Nie, Hermann? Das wollen wir nicht hoffen,« setzte sie gepreßt hinzu; aber ein Ahnen, als sei vielleicht all' ihres Lebens Mühen umsonst gewesen, überkam sie, als sie in des Sohnes starre Gesichtszüge sah; sie kannte die Unveränderlichkeit seiner Gefühle.