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Hermann Velden hatte durch Uebernahme seiner Samariter-Aufgabe eine Thätigkeit sich aufgebürdet, die ihn kaum zu Athem kommen ließ. Wenn er auch gern seine Kräfte ihr widmete, so hatte er doch in letzter Zeit nur mit unruhigem Sinne ihr obgelegen, da der Gedanke an den Freund ihn nicht verließ. Zuweilen kam seine Sorge ihm übertrieben vor; es schien ja kaum denkbar, daß harmlose, unschuldige Menschen, die sich vom politischen Treiben fern hielten, gefährdet sein könnten. Ueberdieß wußte er, daß alle möglichen Schritte für Rother in's Werk gesetzt waren. Seine Mutter berichtete ihm getreulich über den Eifer, den Helene in dieser Hinsicht entwickelte. Aber aus den letzten Briefen schien ein sorgenvoller Ton zu klingen, und er war froh, daß der Haupttheil seiner Aufgabe gelöst war, und nun Aussicht zu baldiger Rückkehr in die Heimath sich bot, die er seit dem Herbst nicht mehr gesehen hatte. Die Rückkehr war ihm doppelt lieb, da sein früherer Chef, mit dem er in freundschaftlichem Verkehr geblieben war, schon vor einiger Zeit angefragt hatte, ob er nicht geneigt sei, die Karriere im Staatsdienste wieder aufzunehmen.
Diese Anfrage hatte ihn freudig berührt. Nachdem er lange Jahre seinen Studien obgelegen hatte, wäre es hart gewesen, auf jeden Lohn dafür zu verzichten. Auch hatte die Neugestaltung Deutschlands in Folge des Krieges seine lebhafte Theilnahme erweckt. Der glorreiche Kampf schien so schöne Früchte zu tragen; ein idealer Hauch ging durch das deutsche Volk, neue Hoffnungen waren auf allen Seiten erwacht. Wohl konnte ein aufmerksamer Beobachter schon jetzt Zeichen wahrnehmen, die auf einen bevorstehenden Kampf der Geister hindeuteten, und Hermann hätte nicht seines Landes Kind sein müssen, um allzu sanguinisch zu sein; aber den tüchtigen Mann reizen eben solche Zeiten, seine Kräfte einzusetzen für das, was er als das Gute, Rechte und Wahre erkennt.
Hermann wußte zwar, daß seine Mutter eine erneute Abwesenheit vom Hause ungern sehen würde; aber noch unmöglicher als früher dünkte es ihm jetzt, in Helenens Nähe zu bleiben und ihr doch nur als Freund gegenüber zu stehen. Jener Augenblick, wo sie im Sturm der Erregung in seinen Armen geruht, und das ungestörte Zusammensein, wie die Reise es gebracht, waren ihm unvergeßlich. Es war aber ein trügerisches Glück gewesen, das nur dazu gedient, schlummernde Gefühle stürmisch zu wecken, alte Wunden wieder aufzureißen! Als Kinder hatten sie traulich verkehrt; jetzt standen sie beide in der Blüthe des Lebens, und die Gleichheit der Anschauungen, die Harmonie ihres Fühlens und Denkens war ihnen voll und ganz zum Bewußtsein gekommen. Helene hatte gerade durch die aufrichtige Bewunderung, mit der sie zu Hermann hinaufschaute, den gefährlichsten Zauber ausgeübt. Doch je mehr er dieses empfand, um so mehr lehnte er sich dagegen auf, um so starrer hielt er an dem Gedanken fest, ihr Herz gehöre einem andern; zudem war sie jetzt eine reiche Erbin geworden, und das ließ seinem Stolze jede Annäherung unmöglich erscheinen.
All' dieses beschäftigte seine Gedanken auf das eifrigste, während er der Heimath zufuhr. Auf einer Zwischen-Station hörte er sich plötzlich angeredet und erkannte, trotz des militärischen Kleides, sofort Holdern, der sich ihm als Reisegefährte anbot. Es muthete Hermann eigen an, diesem Manne zuerst zu begegnen, als er der Heimath sich näherte. Holdern begrüßte ihn indessen auf das lebhafteste und zeigte sich außergewöhnlich freundlich und mittheilsam. Er habe für einige Zeit Urlaub genommen, da seine Gesundheit wie seine Geschäfte es dringend nothwendig machten, sagte er, und ging dann gleich auf die Pariser Ereignisse und auf Rother über. Er erzählte, wie Helene Asten ihn von dessen Anwesenheit in Paris in Kenntniß gesetzt und ihn gebeten habe, sich für ihn zu verwenden. Natürlich habe er dem Wunsche der Comtesse so viel als möglich Rechnung zu tragen gesucht, obschon er für Rother am wenigsten gefürchtet, da dessen schöne Freundin Daniella ja in Paris das Scepter führe. Velden wurde durch diese Bemerkung mehr geärgert als beruhigt, besonders da Holdern dieselbe mit seinem gewöhnlichen spöttischen Lächeln begleitete. Holdern fuhr indessen ruhig fort: er habe sich sofort an den americanischen Gesandten gewandt und ihm Rother empfohlen; der Gesandte habe ihm auch geantwortet, daß er sich Rother's ganz besonders annehmen werde. Außerdem habe er eine sehr energische Note von Seiten des deutschen Armee-Commando's an die Pariser Regierung zu Gunsten der in Paris sich aufhaltenden Deutschen erwirkt, was die Herren Communisten wohl zur Vorsicht mahnen werde. Er gedenke den Abend noch auf Schloß Asten einzukehren und freue sich, der Comtesse alle diese Schritte mittheilen zu können.
Wie beruhigend auch diese Nachrichten im allgemeinen lauteten, so fühlte Hermann sich doch nicht befriedigt. Holdern hatte all' zu oft und ganz im alten Tone eines dazu Berechtigten den Namen Helenens genannt und es als selbstverständlich hingestellt, daß sein erster Besuch ihr gelten müsse. Velden, der bis dahin im Zweifel gewesen war, ob er nicht in Asten vorsprechen solle, ehe er seinen Weg nach Burghof fortsetze, gab jetzt jeden Gedanken daran auf. Wozu sollte er sich nochmals überzeugen, daß ihr Herz Holdern gehöre, daß ihm selbst nur die kalte Rolle des Freundes beschieden sei? Seine Mutter war durch ihre lebhaften Wünsche für ihn irre geleitet worden, meinte er, als sie geglaubt, in Asten habe ein Wechsel zu seinen Gunsten stattgefunden, und er habe Recht mit der Ansicht, daß Helene nicht unbeständig gewesen.
Diese Gedanken machten Hermann nicht eben zugänglicher für Holdern's Unterhaltung. Aber daß dieser, den er einst so ganz anders gekannt, den eifrigsten Patriotismus entwickelte und allen Ernstes eine politische Laufbahn für sich in Aussicht nahm, hätte ihm fast ein Lächeln abgelockt. Die Interessen des neuen Reiches schienen ihm nicht besonders gesichert, wenn viele Männer von Holdern's Schlage sich ihm zuwandten; schmerzlich gedachte er, wie mühevoll sein eigener Weg zu einem Ziele gewesen, dem Holdern mit kühnem Vertrauen ohne weiteres zustrebte. Das Leben war Hermann nie leicht geworden, und fast traurig wurde er, als das alte Bornstadt vor ihm auftauchte, wo des Lebens erste Aufgaben an ihn herangetreten waren. Aber der Gedanke an das eigene Geschick schwand bald; denn Bornstadt war zu sehr mit den Erinnerungen an Rother verknüpft, um dessen Bild nicht in den Vordergrund treten zu lassen. Es hat ja stets etwas Wehmüthiges, eine Stätte wiederzusehen, wo wir lange mit dem Freunde glücklich waren, um so mehr, wenn wir um denselben in Sorge sind. Als Hermann jetzt den alten, mächtigen Dom aufsteigen sah, als der Duft der Linden ihm zuwehte, während der Zug den Wall der Stadt entlang fuhr, gedachte er der fernen Knabenzeit. Deutlich entsann er sich des Tages, wo Rother und er diesen Dom zum ersten Male angestaunt, und der Weg unter jenen Lindenbäumen mahnte ihn an alle die Stunden, die er mit seinem Freunde dort zugebracht: wie sie ihre kleinen Freuden und Leiden getheilt, ihre Zukunftspläne geschmiedet hatten, wie so oft Rother's helles Lied dort erklungen war. Es war ihm fast, als müßten die alten Linden das Haupt schütteln, daß er allein komme, daß der Freund nicht, wie früher, an seiner Seite sei.
Unwillkürlich beugte er sich hinaus, als der Zug in den bekannten Bahnhof einfuhr; er wähnte, das schöne Antlitz und der warme Blick Rother's müsse ihn begrüßen, wie so oft! Er überhörte beinahe Holdern's Abschiedsgruß, der ihn noch einmal fragte, ob er ihn nach Asten begleiten wolle. Hermann verneinte; er wolle nach Burghof fahren. Beim müßigen Hinausschauen erkannte er jetzt aber auf dem Perron die Gestalt und das weiße Haupt des alten Ebert aus Asten, der jemand zu erwarten schien. Er werde wohl gekommen sein, Holdern mit der Asten'schen Equipage abzuholen, dachte Velden bitter, und wieder ging ihm durch den Sinn, wie oft er freudig den Alten erkannt, wenn er ihn und Rother abholen sollte. Ebert schien ihn nicht zu erkennen; er trat an Holdern heran und machte ihm eine Meldung, welche diesen sichtlich überraschte. Betroffen trat der Baron einen Schritt zurück und wandte erschrocken seinen Blick auf Hermann.
Velden hatte so eben noch gedacht, Ebert sei nur da, um Holdern zu empfangen; aber es gibt Augenblicke, wo das Ahnungsvermögen unsere Fassungskraft merkwürdig beflügelt: Hermann wußte sogleich, daß die Botschaft ihn betreffe. Eine unermeßliche Angst erfaßte ihn – er sprang aus dem Coupé. Er sah, wie die beiden noch einige Worte wechselten, wie der Alte traurig den Kopf schüttelte und Holdern die Achseln zuckte. Dann kamen sie auf ihn zu. Die Stimme versagte ihm; aber es bedurfte kaum einer Frage: klar stand ihm das Unglück schon vor Augen. Wie aus weiter Ferne klang es an sein Ohr, als der Alte mit zitternder Stimme berichtete, die Herrschaften hätten heute Morgen ein Telegramm von dem französischen Grafen erhalten mit der schrecklichen Nachricht, daß der Herr Rother wirklich in Paris von den »schuftigen Hunden« erschossen worden sei. Der Herr Graf habe alles gethan, um ihn zu retten, aber er sei zu spät gekommen; er habe des Herrn Rother Leiche selbst gesehen, so daß kein Irrthum möglich sei. Der Herr Graf Asten sei gleich nach Burghof gefahren, um der gnädigen Frau von Velden die Trauer-Nachricht selbst zu überbringen, damit sie durch keinen andern davon erführe. Sie hätten alle zu Asten geglaubt, der junge Herr Baron wäre noch in Frankreich, und hätten gleich gedacht, was der wohl dazu sagen werde. Der alte Mann sah ganz ängstlich Hermann in das starre Gesicht und meinte, was es für ein Leid sei, daß so ein schöner, lieber junger Herr so elend habe um's Leben kommen müssen, und wie schrecklich es sei, daß diese Schurken sich nicht gescheut, sich an einem Diener des Herrn zu vergreifen. Zu Asten seien sie alle ganz außer sich über die Nachricht, die Comtesse am meisten, und sie habe gleich dem Herrn Baron schreiben wollen. Er sei hierher gesandt worden mit einem Telegramm an den französischen Herrn, er solle Herrn Rother nicht in Paris begraben lassen. Bei den Unmenschen, meinte der alte Ebert, die doch schlimmer seien, als jene Heiden, zu welchen der Herr Rother durchaus hingewollt habe, da solle er doch nicht ruhen.
Vergeblich war des alten Ebert Frage, ob er den Herrn Baron Velden nicht nach Burghof fahren solle; er bekam keine Antwort. Hermann hatte nach den ersten Worten des Alten nichts mehr gehört; er fühlte nur den dumpfen Schmerz, der mit übermächtigem Gewichte auf ihn niedergefallen war. Es war ein Schmerz, der keinen Ausdruck fand, auch nicht auf dem langen, einsamen Wege, – bis er am Abende sich zu Burghof von zwei Armen umschlungen fühlte, bis ein thränenfeuchtes Antlitz sich an das seine schmiegte, und eine zitternde Stimme flüsterte: »Hermann, wir sind um sehr vieles ärmer geworden; er war meinem Herzen ein Sohn und dir ein Bruder!«
Um sehr vieles ärmer geworden! Das war es gerade, was er so tief empfand, das war das Wort, nach dem er gerungen. Schon ein Kleinod seines Herzens hatte er verloren, und nun war ihm auch das andere entrissen, – nichts blieb ihm mehr, was dem Leben Schönheit und Reichthum gibt. Der starke Mann schluchzte wild auf in schneidendem Weh, so daß seine Mutter erschrak vor der Größe seines Schmerzes. Wie herb der Verlust ihr auch war, wie theuer auch Rother ihr stets gewesen, ein Kind ihrem Geiste und ihrem Herzen: es war doch immer nicht das Band der Natur, welches bei der Frau sich nie ganz ersetzen läßt, während beim Manne die freie Zuneigung oft mächtiger ist als die Verwandtschaft des Blutes. Das war auch bei Hermann's Liebe zu Rother der Fall; kein Bruder hätte seinem Herzen näher stehen können.
Um ihn zu beruhigen, theilte Frau von Velden ihm mit, wie Graf Asten ihr die Nachricht selbst gebracht, wie seine freundschaftliche Theilnahme ihr so wohl gethan, und fast mehr noch die hohe Anerkennung, die er Rother gezollt. Sie erzählte auch, Helene habe nichts unversucht gelassen, ihn zu retten; auch ihr habe sie treu in allen Sorgen und Mühen beigestanden. Graf Asten habe mit seinem warmen Gefühle sogleich die Anordnung getroffen, daß der liebe Verstorbene nicht in weiter Ferne, in fremder Erde ruhen solle; er habe schon ein Telegramm abgeschickt und wolle jemanden hinsenden, um die Leiche zu holen.
Hermann hatte bis dahin, in seinen Schmerz versunken, lautlos zugehört. Bei den letzten Worten erhob er energisch das Haupt. Kein anderer als er selbst solle den geliebten Freund holen, rief er; von niemand werde er es sich nehmen lassen, dem Bruder den letzten Liebesdienst zu erzeigen. Fast vorwurfsvoll frug er, wie die Mutter nur habe daran denken können, dieses andern zu überlassen. Gleich morgen werde er abreisen; denn natürlich müsse Rother bei ihnen in der Heimath ruhen, wo er auch seine Ruhestätte einst zu finden hoffe. Er wolle in Paris noch weiteres über seinen Tod zu erfahren suchen und den Ort sehen, wo er geendet.
Hermann sprach mit fast leidenschaftlicher Bitterkeit, und Frau von Velden sah ein, daß sie ihn ruhig gehen lassen müsse. Wenn es ihr auch schwer wurde, ihn sogleich wieder scheiden zu sehen, wenn sie auch in mütterlicher Sorge fürchtete, daß er sich in seinem erregten Zustande zu viel Mühen auferlegen werde, sie konnte seinem Willen nicht entgegentreten. Sie fragte ihn nur, ob es nicht besser sein würde, zuerst nach Asten zu gehen, um alles nähere zu erfahren und für die liebevolle Theilnahme zu danken. Aber Hermann hatte den Namen Asten schon zu viel von Holderes Lippen gehört; ungeduldig lehnte er den Vorschlag ab und meinte, er werde sich schon allein zurecht finden, jede Minute Aufschub sei verlorene Zeit; seine Mutter möge seinen Dank aussprechen, aber sagen, er wünsche in diesem Falle alles selbst zu thun; man werde es in Asten auch begreiflich finden, daß er jetzt nur einen Gedanken hege.
Helene fand es dennoch nicht so ganz begreiflich; sie hatte im Gegentheil erwartet, es werde ihm ein Bedürfniß sein, seinen Schmerz ihr auszusprechen. Hatten sie doch schon einmal gemeinsamen Schmerz getragen. Der alte Ebert hatte ihr zwar gesagt, der Herr Baron habe die traurige Mittheilung ziemlich gefaßt hingenommen. Aber Helene glaubte seine Empfindungen besser zu verstehen. Sie wußte, daß bei ihm die Wunde nach innen blutete, und glaubte die Art zu kennen, wie sie ihn trösten könne. So war es ihr keine kleine Enttäuschung, als anstatt seiner nur ein Brief von Frau von Velden kam, der die Anzeige seiner Abreise nach Paris enthielt.
Helene fand es unnatürlich, daß sie ihm so gar nichts sein solle in seinem Schmerz; sie machte deshalb von ihrem alten Freundschaftsrechte Gebrauch und schickte ihm einige Worte der innigsten Theilnahme unter de Bussy's Adresse. Sie schrieb ganz in der alten freundschaftlichen Weise, und doch hatte sie dabei das Gefühl, es gelinge ihr nicht, den richtigen Ton zu treffen.
Vielleicht hätte sie den Brief bereut, wenn sie gesehen, wie trotz der Bewegung, die Hermann zuerst ergriff, seine Züge sich verfinsterten und er ihn fast unmuthig zur Seite schob. Gerade diesen freundschaftlich geschwisterlichen Ton konnte er am wenigsten ertragen; mehr wie je stand es bei ihm fest, daß in ihren Gefühlen kein Wechsel eingetreten sei.
Außer Velden glaubte auch noch ein anderer mit großer Zuversicht an diese Unveränderlichkeit; sonst hätte Fritz Holdern wenig Ursache gehabt, so viel Sicherheit und Befriedigung an den Tag zu legen, wie er bei seiner Begegnung mit Velden gethan. Seit dem Tage, wo er Daniella hoch erhobenen Hauptes verlassen, gab ihm sein Glaube an Helenens Liebe die größte Beruhigung. Er war verwöhnt in der Liebe der Frauen und wußte, daß eben zartfühlende Naturen am dauerndsten gefesselt werden. Die Mittheilungen seiner Schwester hatten ihn in seinem Vertrauen stets bestärkt. Nur die letzten Briefe derselben sprachen einige Besorgnisse aus und empfahlen ihm auf das dringendste baldige Rückkehr; und wirklich hatte er dieselbe um deswillen beschleunigt. Sein Kriegsruhm schien ihm sehr geeignet, um etwaige Reminiscenzen an seinen frühern Aufenthalt in Paris in Vergessenheit zu bringen, und was seine Finanzen betraf, so hatte er geschickt genug operirt, um wenigstens einige Frist zu gewinnen. Seine Lage war aber doch so schwankend, daß es eine gebieterische Nothwendigkeit war, seinem Credit baldigst einen neuen Rückhalt zu geben. An jenem Tage indeß, wo die Todesnachricht Rother's eintraf, war er nicht nach Asten gegangen, er hatte das Gefühl, er werde stören, und war auch selbst durch die Nachricht erschüttert. Es mochte nicht allein die Erinnerung an Rother's liebenswürdige Persönlichkeit sein, was ihn dabei so unheimlich berührte. Die Schatten unserer Thaten haben oft etwas Beängstigendes.
Seine Schwester fand er ziemlich wie früher; doch schien ihre Krankheit wie ihre Unruhe sich gesteigert zu haben. Aengstlich drang sie darauf, er solle sich bei Helene Gewißheit verschaffen; er habe sie schon zu lange vernachlässigt. Helenens selber wegen machte sich Holdern nun freilich keine Sorgen. Eher befürchtete er, ihre jetzige Stellung als Erbin der Stammgüter könne den Grafen anspruchsvoller gemacht haben; aber er war sich seiner Macht über die Menschen zu sehr bewußt, um daraus Anlaß zu ernsthaften Besorgnissen zu entnehmen.
Graf Asten hatte früher eine Werbung Holderes erwartet; jetzt war er fast überrascht, als derselbe gleich bei seinem ersten Besuche, und noch ehe er Helene gesehen, ihn um die Hand der Tochter bat. Holdern war in vielen Beziehungen durchaus nicht der Schwiegersohn, den er sich wünschte, besonders da er in diesem jetzt seinen Nachfolger sehen mußte. So vieles war in Holdern's Anschauungen, besonders in seinen religiösen Ansichten, was ihm nicht zusagte; doch lag auch, so viel er wußte, gerade nichts vor, was eine Abweisung gerechtfertigt hätte. Helene hatte Holdern schon so manches Jahr geliebt und war, wie er meinte, seinetwegen allen andern Bewerbungen gegenüber unzugänglich geblieben. Bei großer gegenseitiger Neigung konnte ja auch der Einfluß einer frommen, klugen Frau wohlthätig auf ihn wirken. Es hatte seinem väterlichen Stolze wehe gethan, seine Tochter unter einer scheinbar unerwiderten Liebe leiden zu sehen, und in so fern wenigstens kam Holdern's Anfrage ihm nicht unwillkommen.
Die Sprache Holdern's war dabei offen und männlich. Er habe Helene schon bei dem ersten italienischen Aufenthalte lieb gewonnen und bereits damals gehofft, sie erwidere seine Neigung. Sein bisheriges Zögern erklärte er mit der Besorgniß, seine Verhältnisse würden dem Grafen ungenügend erschienen sein. Er habe deshalb nicht gewagt, seinen Wünschen früher Ausdruck zu geben, vielmehr oft und lange sein Haus gemieden. Nach Kräften habe er aber versucht, seine Verhältnisse zu bessern, und sei nicht ohne Erfolg darin gewesen. Der Krieg habe freilich eine Stockung und einen empfindlichen Rückschlag herbeigeführt, wie er offen bekennen wolle; aber er fühle, daß er jetzt Entscheidung haben müsse. Die Comtesse selbst habe er nicht eher wiedersehen wollen, bis er die Erlaubniß des Vaters besitze, ihr seine Wünsche auszusprechen.
Das alles klang so einfach und ehrenhaft, daß der Graf sich Vorwürfe machte, Holdern ungerecht beurtheilt zu haben. Da bei Helenens jetzigen Verhältnissen die Vermögensfrage wirklich als nebensächlich erschien, der Graf auch über den Wunsch seiner Tochter klar zu sein glaubte, so blieb ihm nichts übrig, als den Bittenden an seine Tochter zu verweisen mit der Versicherung, er werde ihrer Entscheidung nichts in den Weg legen. Er fand es auch natürlich, daß Holdern bat, nach der langen Abwesenheit selbst seine Sache führen zu dürfen.
Ein Seufzer kam nichtsdestoweniger über Graf Asten's Lippen, als Holdern nach lebhaftem Danke sich zu seiner Tochter begeben hatte. Weshalb mußte sie gerade diesem Manne ihr Herz schenken? Er dachte an einen andern, den er mit viel leichterm Herzen ihr zugesandt haben würde, der in seinem ganzen Fühlen und Denken ihr so viel näher stand, in dessen Hände er so gern sein Erbe gelegt hätte. Einen Augenblick war nach Hermann's aufopfernder That die Hoffnung in ihm neu erwacht, aber dessen kalte Zurückhaltung hatte dieselbe bald wieder erlöschen lassen. So versuchte denn Graf Asten nach Kräften sich mit dem Gedanken an Holdern als Schwiegersohn zu befreunden, während er wartend unter seinen alten Bäumen auf und ab schritt.
Er hätte seinen Gefühlen weniger Zwang aufzuerlegen brauchen. So wider Erwarten leicht Holdern das ihm bedenklichste Hinderniß überwunden und die Einwilligung des Vaters erlangt hatte, so wenig ermunternd war der Empfang, den er bei Helenen empfand.
Sie hatte seine Anmeldung anscheinend sehr ruhig hingenommen. Kein Blick beglückter Ueberraschung war es, der ihn begrüßte, und noch weniger jener zaghaft schüchterne Ausdruck, mit dem sie ehedem so oft zu ihm aufgeschaut. Und doch stand sie auf eben jenem Altan, wo sie so manchen heißen Kampf mit ihrer Liebe gekämpft, wo sie so oft in Leidenschaft seinen Namen geflüstert hatte! Ihr großes, braunes Auge sah ihm ruhig und fragend entgegen; er bemerkte keine Spur jener Bewegung, die sein Kommen sonst bei ihr hervorgerufen, und er fühlte seine frohe Zuversicht schwinden.
Unklarer, beklommener, als sein stolzes Selbstvertrauen es je für möglich gehalten, brachte er seine Erklärung vor. Helene ließ ihn kaum zu Ende kommen; dann antwortete sie ruhig: es thue ihr leid, daß sie diesem Momente nicht habe vorbeugen können, da sie eine Werbung gar nicht erwartet habe.
»Comtesse Helene!« rief Holdern in vorwurfsvollem Tone, »wie können Sie das sagen, da Sie doch seit so vielen Jahren wissen –«
»Wissen!« unterbrach ihn Helene fast traurig. »Warum betheuern wollen, was nicht ist und nicht war?«
»Helene!« rief Holdern wieder. »Sie haben mich glauben lassen, daß Sie nicht gleichgültig seien … Sie haben in mir Hoffnungen erweckt, auf die ich glaubte bauen zu können, auf die ich wirklich Jahre hindurch fest gebaut. Ich weiß, ich irrte nicht, als ich wähnte, Ihre Liebe errungen zu haben.«
Helene schwieg bei seinen anscheinend so leidenschaftlichen Worten einen Augenblick, als sei sie über die Antwort noch nicht ganz klar. Dann schaute sie mit dem gleichen ruhigen Blick wieder zu ihm auf: »Ich habe Sie auch geliebt,« sagte sie leise, und eine feine Röthe übergoß ihr Antlitz. »Ich habe Sie geliebt, und Gott weiß, daß es eine Liebe war, die Ihnen in jedes Schicksal gefolgt wäre, die für Ihr Glück alles hingegeben hätte! Wo der Irrthum, wo die Täuschung lag, das werden Sie am besten wissen. Aber das können Sie nicht leugnen, daß nicht hier Ihr Herz gefesselt war,« fügte sie bei, ihr Haupt stolzer erhebend. »Ich weiß alles, und ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus, obgleich ich kaum weiß, was Sie jetzt veranlaßt, um das Mädchen zu werben, für dessen Liebe Sie vielleicht einst nur ein Lächeln hatten. Sie hatten recht: unsere Anschauungen und Empfindungen waren zu verschieden, als daß unser Fühlen und Denken in Einklang hätte sein können. Und es war gut, daß die Erkenntniß kam!« setzte sie nachdenklich hinzu.
»Ich erkenne nur,« erwiderte Holdern mit seinem bittersten Sarkasmus, »daß man die Zeit meiner Abwesenheit gut benutzt hat, um mich in Ihren Augen herabzusetzen. Die vielen frommen Freunde werden das Ihrige gethan haben, und Comtesse Helene hat dabei wohl eingesehen, daß in Ihrer jetzigen Stellung ein Baron Holdern ihr überhaupt nicht mehr genügen kann.«
»Sie wissen, daß Sie da die Unwahrheit sagen,« antwortete Helene, einen Schritt zurücktretend. »Sie wissen, daß es kein Hinderniß für mich gegeben, daß kein Einfluß auf mich gewirkt hat, als die Erkenntniß, welch' großer Irrthum es war –, und die Liebe kann wechseln, Gott sei Dank, ein Herz kann eine Täuschung einsehen.«
»Dann ist es keine Liebe gewesen!« rief mit ausbrechender Heftigkeit Holdern, den Helenens Ruhe gerade jetzt, wo er sich so nahe am Ziele geglaubt, außer sich brachte.
»Das wollte Gott!« sagte Helene leise. »Aber ich will nichts leugnen und glaube, wir lassen am besten die Vergangenheit unberührt.«
»Ohne daß mir eine Rechtfertigung erlaubt wird, ohne daß man mir die Gründe anders als dunkel andeutet?« entgegnete er noch heftiger, da er seine letzte Hoffnung schwinden fühlte. »Wenn Sie von einem Wechsel der Gesinnung reden, dann habe ich ein Recht, zu fragen, wer und was ihn veranlaßt!« setzte er kühner hinzu.
»Muß ich Ihnen,« war Helenens ruhige Antwort, »erst den Namen nennen, der damals Ihre Gedanken und Wünsche so vollkommen ausfüllte, daß Sie sich einer Partei anschlossen, deren Tendenz allein uns für immer trennen würde? Muß ich Sie an jenes schreckliche Mahl erinnern, an dem Sie sich mit ihr beteiligten?«
»Ah, Sie meinen die schöne, dunkeläugige Daniella!« versetzte Holdern in beißendem Tone, – der Gedanke, daß Helene Eifersucht fühle, war ihm nicht unwillkommen. »Herr Rother scheint also zuletzt trotz seines liebenswürdigen Naturells nicht umhin gekonnt zu haben, nachzuforschen, und hat, ohne meine Gründe zu kennen, seine Entdeckungen hinterbracht. Sie wissen, ich bin gerade kein frommer Mann, – das läßt mich kaum höher von seinem Berufe denken.«
»Verleumden Sie einen Todten nicht!« sprach Helene unwillig. »Er war der Freund meiner Jugend, und eine Warnung wäre seine Pflicht gewesen. Aber der Zufall erschließt uns oft, was wir nicht zu wissen suchten; und hätte noch ein Zweifel obgewaltet,« – Helene trat an ihren Schreibtisch und entnahm ihm ein Stück Papier, welches sie schweigend Holdern hinreichte. Es war der Brief Danielles an ihren Großvater, den Jetta der Adresse wegen ihr überlassen. »Sie wollten Beweise haben,« bemerkte sie ruhig.
Holdern zuckte zusammen, als er die Handschrift sah; aber ein kaltes Lächeln umspielte gleich darauf seinen Mund. »Schöne, gefeierte Damen haben oft seltsame Illusionen,« antwortete er. »Ich hatte wichtige Gründe, in das Treiben jener Menschen einen Einblick zu thun, und für Fräulein Daniella schien, trotz aller ihrer Freiheits-Anschauungen, eine Freiherrn-Krone wohl sehr annehmbar – das gereizte Gefühl einer enttäuschten Dame ist kein Beweis. Ich gab Fräulein Daniella damals den Rath, aus Paris sich zu entfernen: sie hat mir aber nicht gefolgt,« fügte er kalt hinzu, den Brief zurückgebend.
»Also auch mit ihr war es nur ein nichtiges Spiel – also auch dort nicht einmal der Zug des Herzens! Dem schönen, geistvollen Mädchen gegenüber hätte ich Ihre Neigung begreiflich gefunden … O mein Gott, das ist grauenhaft!« sagte Helene, und bedeckte mit beiden Händen das Gesicht, als könne sie seinen Anblick nicht mehr ertragen. Es war ihr entsetzlich, in dem, der ihr einst ein hohes Ideal gewesen, nichts als das verzerrte Bild der Lüge zu erkennen.
Wenn je etwas Holdern erschüttert hatte, so war es der tiefe Abscheu, den er jetzt in dem Herzen las, das einst so voll und ganz ihm angehört hatte. Er vergaß das Fehlschlagen seiner Berechnungen mit all' den traurigen Folgen, die sich daran knüpfen mußten; in seinem Herzen loderte die Flamme der Leidenschaft auf, wie er die schöne Gestalt, schlank und weiß wie eine Lilie, vor sich sah – nie war sie ihm begehrenswerther erschienen.
»Helene!« rief er noch einmal, und dieses Mal mit dem Tone wirklicher Leidenschaft, »mögen Sie sagen, was Sie wollen: Ihre Liebe kann nicht untergegangen sein!«
Aber Helene trat wieder einen Schritt zurück; ihre Hände sanken herab, ihr Antlitz war etwas bleicher, aber ungetrübt. »Ich denke, wir lassen das Gespräch fallen,« sagte sie sanft und traurig. »Was ich damals erfuhr, Baron Holdern, ist nie über meine Lippen gekommen und wird nie über meine Lippen gehen. Sie werden bemerkt haben, daß selbst mein Vater nichts davon weiß. Lassen Sie den Wechsel meiner Empfindungen als eine Laune gelten. Gott verzeihe Ihnen, daß Sie einen edeln Geist auf jene Bahnen lenkten, wo er so traurig unterging.«
Helene sprach vollkommen ruhig, und Holdern sah ein, daß alles zu Ende sei. »Ich sehe, Ihre Ungnade ist unabänderlich,« sagte er, in seinen alten Ton zurückfallend. Er verbeugte sich vor ihr und verließ das Zimmer mit dem Anschein vollkommener Fassung, den er äußerlich wenigstens zu behaupten wußte.
Aber ein dumpfes, hoffnungsloses Gefühl erfaßte ihn, als er hinausschritt durch des Hauses stolze Hallen, in denen er sich eben schon fast als Herr gefühlt. Bei Graf Asten ließ er sich entschuldigen; er hatte nicht die Kraft, nach dieser Niederlage ihm entgegenzutreten. Ohne seinen Wagen abzuwarten, schlug er zu Fuß den Weg nach seiner Heimath ein. Die Leute im Dorfe waren erstaunt, den dunkeln Baron, wie sie ihn nannten, an einem so heißen Tage daherwandern zu sehen.
Helene empfand, als Holdern sie verlassen, nicht, wie einst Daniella, ein Gefühl der Vereinsamung, sondern der Befreiung. »Dann war es keine Liebe,« hatte er gesagt, und sie hätte jetzt selbst am liebsten nur einen bösen Traum darin gesehen, aus dem sie endlich vollständig erwacht, – ein Traum, der ihr doch unendlich viel gekostet. Denn immer wieder trat in ihren Gedanken neben Holdern's Gestalt die Erscheinung Velden's, von dem sie um Holdern's willen sich abgewandt … Würde er nun immer von ihr abgewandt bleiben, wie sein Benehmen in letzter Zeit es vermuthen ließ?
Wie so oft im Sturme hochgehender Gefühle der Mensch sich der geringfügigsten Kleinigkeiten erinnert, so fielen auch ihr jetzt die Worte ein, die ihre Schwester einst voll Zorn ihr gesagt, daß sie entweder einmal einen sehr dummen Streich machen oder ganz einsam bleiben werde wie Tante Christiane. Damals hatte sie die zornige Kleine lächelnd angehört, – die Einsamkeit hatte ihr gar nicht schwer gedünkt. Jetzt war das anders, und tief seufzte sie auf: »Einsam bleiben, wie Tante Christiane!« Nur ein hoher, heiliger Beruf, eine tiefe, unvergeßliche Neigung oder ein eisiger Egoismus kann ein junges weibliches Herz mit solchen Gedanken vertraut machen.
Niemand war mehr erstaunt über die Wendung der Dinge, als Graf Asten, der vergeblich unter den alten Linden das Paar erwartete, nachdem er sich entschlossen hatte, im Glück seiner Tochter alle seine Bedenken untergehen zu lassen. Als die Meldung von Baron Holdern's plötzlicher Abreise ihm gebracht wurde, wußte er kaum, was er davon denken solle, und suchte in seiner Aufregung, wie einst unter ähnlichen Verhältnissen, Tante Christianens Zimmer auf, um ihr die Thatsache zu melden, daß Helene wider alles Erwarten auch diesen Freier abgewiesen habe. Alle seine ehemaligen Befürchtungen wurden wach: Klosterberuf, unglückliche Neigung für Rother, alles ging ihm von neuem durch den Kopf.
Tante Christiane hatte indessen im Laufe der Jahre weder ihre eigene Ruhe noch das Talent verloren, andere zu beruhigen. Wie damals lächelte sie. Zwar wußte sie auch jetzt nicht, was Helene bestimmt haben konnte; aber welches auch die Gründe sein mochten, Tante Christiane hielt es für ein Glück, daß Holdern keine Erhörung gefunden. Es sei ja möglich, daß Helenens Liebe eine Wandlung erlitten; sie habe Helene seit ihrer Rückkehr aus Frankreich um vieles ruhiger und klarer gefunden, und vielleicht habe dieselbe ihre etwas romantische Jugendneigung überwunden. Tante Christiane war auch gar nicht besorgt, daß es der Erbin von Asten ferner an Bewerbern fehlen werde. Im schlimmsten Falle – wenn der Graf den Klosterberuf als solchen ansehen wolle –, meinte sie lächelnd, blühten in Werthernhaus ja schon zwei kräftige Sprößlinge, von denen der eine dem Großpapa so ähnlich sehe, daß er vielleicht bestimmt sei, einst dessen Platz einzunehmen. Dem Großpapa schien diese Betrachtung nicht ganz zu mißfallen; aber er schüttelte dennoch den Kopf und brummte etwas von »unverständlichen Weiberherzen«, indem er Tante Christianens Zimmer wie damals mit ungeduldigen Schritten durchmaß.
Er wurde durch Helene selbst unterbrochen, welche in großer Bewegung eintrat. Dem verabschiedeten Bewerber galt dieselbe aber schon nicht mehr; sie war ganz erfüllt von einem Briefe, den sie so eben von Frau von Velden erhalten hatte. Auch den ersten Brief Hermann's aus Paris hatte diese, die innige Theilnahme der Freunde an diesen Nachrichten kennend, ihnen sofort gesandt. Hermann zeigte der Mutter seine Ankunft in Frankreichs Hauptstadt an und erzählte, welch' schrecklichen Zustand der Verwirrung er dort gefunden, wie es ihm aber durch de Bussy's treue Bemühungen gelungen sei, alles rasch und leicht zu ordnen; schon in den nächsten Tagen gedenke er die geliebten Ueberreste in die Heimath zu überführen. Er theilte dann noch vieles mit, was er über Rother's letzte Lebenszeit und sein schreckliches Ende gehört hatte. Der Geistliche, bei welchem Rother sich für seinen Beruf vorbereitet, hatte ihm erzählt, mit welcher Liebe er sich seiner hohen Aufgabe hingegeben. Ueber die Leiden der Gefangenschaft war wenig bekannt geworden, da Rother's Gefährten alle den Tod mit ihm getheilt. Der Führer, der das Todesurtheil habe ausführen lassen, sei anscheinend ein Oberst Josephson gewesen, ein Mitglied der extremsten Partei, welcher auch bei der Zerstörung von Paris eine Hauptrolle gespielt. Man habe ihn unter den Gefangenen nicht ermittelt, und er scheine in dem furchtbaren Gemetzel, das der Einnahme folgte, seinen Tod gefunden zu haben.
Hermann erzählte ferner, man habe neben Rother's Leiche ein ohnmächtiges Weib gefunden, das ein Freilassungs-Decret für ihn noch in der Hand hielt, und habe in ihm Daniella erkannt, obschon sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt gewesen. Der americanische Gesandte habe sie recognoscirt; derselbe habe auch mitgetheilt, wie sie zu ihm gekommen sei, seinen Schutz für Rother in Anspruch zu nehmen, und erzählt, wie sie fast übermenschliche Anstrengungen gemacht, ihn zu retten. Unter Daniella's Papieren, die alle beschlagnahmt worden, habe man ein wohlversiegeltes Couvert gefunden, in welchem man besonders Wichtiges vermuthet; es habe aber nur eine Visitenkarte Rother's und einen halb verbrannten Brief desselben enthalten. Es habe ihm wohlgethan, aus diesen Ueberresten, die man ihm zur Anerkennung vorgelegt, noch zu sehen, wie hoch und ernst Rother das Verhältnis zu ihr aufgefaßt, und wie er sich bemüht, ihr die Erkenntniß zu erschließen. Sie habe augenscheinlich den Brief als theueres Andenken bewahrt. Daniella selbst sei noch immer unfähig zu irgend einer Aussage, anscheinend durch die Schrecken der Nacht aller Besinnung beraubt. Als man sie von der Leiche fortbringen wollte, sei sie in heftige Paroxismen verfallen, und jetzt murmele sie nur unverständliche Worte. Er habe sie selbst nicht aufgesucht; er habe sich nicht stark genug gefühlt, die zu sehen, die so viel Schuld an diesen schrecklichen Ereignissen trage. Es sei nämlich erwiesen, daß sie seit Jahren zu den Häuptern der Umsturzpartei gezählt und sowohl durch ihre Geldmittel wie auch in Wort und Schrift eifrig dafür gewirkt habe.
»Sonderbar,« schrieb Hermann, »wie die Bahnen dieser beiden Menschen seit jenen ersten Tagen, wo sie sich fanden, so oft sich durchschnitten. Gleich einem glänzenden Meteor schien sie für einen Augenblick ihn von seinem Wege abzulenken, aber sein Blick war zu fest auf den höchsten Stern gerichtet; sie vermochte nicht, ihn irre zu führen, und doch mußte sie so tragisch zu seinem Ende beitragen. Aber immerhin mag ihre letzte That sühnen, was sie gesündigt. Helenens Brief scheint sie darauf hingeführt zu haben, man fand denselben in ihrer Tasche; sie hat anscheinend ihr Leben eingesetzt für den, den sie liebte.«
Helenens Thränen perlten heiß die Wangen herab, als sie dies alles ihrem Vater und der Tante vorlas, welche beide mit tiefster Theilnahme lauschten. Doch stockte Helene, ehe sie zum Schlusse kam, – eine heiße Gluth bedeckte ihr Antlitz. Und doch hatte Hermann nur den Ausdruck des Schmerzes und der Trauer seinem Berichte noch beigefügt.
»Laß ihn ruhen, Mutter,« schloß der Brief, »wie bitter und schmerzlich auch das Scheiden von ihm ist; sein Leben war zwar kurz, aber reich und schön für hier und dort. Er hatte seinen Sinn auf das Höchste gestellt, und darum hat er nicht die Bitterkeit gefühlt, welche jedem, auch dem edelsten irdischen Traum beigemischt ist. Erspart geblieben ist ihm die Täuschung, das vergebliche Ringen, jener Schmerz, der fast noch bitterer ist, als der Schmerz um einen theuern Todten, gewöhnlich wenigstens unüberwindlicher.«
Helenens Augen hafteten lange auf diesen letzten Worten, und sonderbar, ihre Thränen versiechten plötzlich. Als sie nach einigen Augenblicken aufstand, hielt ihr Vater sie fest und blickte ihr forschend in's Antlitz. »Nun? Und auch den hast du fortgeschickt?« fragte er in einem Gemisch von Scherz und Ernst –, »auch den, von dem ich wirklich glaubte, daß er dein Herz besitze, wie auch er selbst zu glauben schien. Haben wir uns alle geirrt?«
»Nein, Papa, ich hatte geirrt,« sagte Helene ernst; »und es ist recht, einen Irrthum gut zu machen, ehe es zu spät ist. Nein, Papa,« fuhr sie fort, als sie sah, daß ihres Vaters Stirne sich runzelte, »ich habe Baron Holdern nicht unglücklich gemacht, er wird höchstens in seinen Berechnungen etwas gestört sein.«
Aber des Grafen Stirne hellte sich bei dieser Antwort nicht auf. Er meinte plötzlich zu verstehen, warum Helene Holdern abgewiesen. »Sei nicht zu empfindsam, Helene!« sagte er sehr ernst. »Mit hohen Gefühlen kommt man nicht immer durch im Leben, und der Mann kann und darf auch die materielle Seite in's Auge fassen. Holdern handelte ehrenhaft, indem er nicht früher kam, als seine Verhältnisse es ihm erlaubten. Er hat sich darüber männlich und offen gegen mich ausgesprochen,« setzte der Graf in etwas strafendem Tone hinzu.
»Hättest du Holdern so gern deinen Sohn genannt?« fragte Helene erstaunt.
»Nein!« sagte Asten nach kurzem Bedenken. »Ich habe mich im Gegentheil gewundert, daß er dein Herz gewann; aber ich wollte dein Glück. Hüte dich nur vor romantischen Träumen: kein Mann der Welt kann sie erfüllen. Das Leben ist kein Idyll, und die Menschen sind keine Ideale.«
»Nein, es ist kein Idyll,« erwiderte Helene leise, »und die einfach wahren und klaren Menschen sind am meisten werth, unsere Ideale zu sein. Man sieht das gewöhnlich erst ein, wenn man sich einmal getäuscht hat. Aber glaube mir, Vater, es war Gottes Fügung, daß es so kam. Lebte Rother noch, er könnte dir Aufschluß geben, … jetzt laß es lieber ruhen.«
Graf Asten errieth, daß ein tieferer Grund vorliege, als er bis jetzt geglaubt. »Und du hast keine andern Wünsche, die dich abhalten, deine Bewerber zu erhören? … Du willst dich mit deinem alten Vater begnügen?« setzte er hinzu, als Helene die erste Frage mit einem Kopfschütteln beantwortete und das Antlitz zärtlich an seiner Brust barg. »Du willst immer bei uns bleiben?« fragte er wieder, mit der Hand den braunen Scheitel zärtlich streichelnd.
Helenens treue Augen sahen innig zu dem Vater auf, aber keine rechte Antwort kam über ihre Lippen. »Ach, Papa, man könnte sich noch einmal irren!« sagte sie plötzlich halb lachend, halb weinend, und machte sich aus ihres Vaters Armen los. Sie eilte hinauf in ihr Zimmer, wo sie dann wie zur Antwort auf die Frage ihres Vaters gleich Velden's Brief hervorzog. Noch einmal las Helene die Stelle, wo Hermann von seinem unüberwindlichen Schmerze sprach, und preßte ihre Lippen auf diese Worte, als wisse sie, wie der unüberwindliche Schmerz doch noch zu heilen sei.