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30

Gaston de Bussy hatte sich auf sehr unliebsame Weise wieder nach Deutschland versetzt gesehen und zwar gerade in die Gegend, die er einst aufgesucht, jetzt aber am liebsten gemieden hätte. Ungeachtet des freundlichen Entgegenkommens zeigte er sich den frühern Freunden wenig zugänglich. Ob es allein das patriotische Gefühl der Abneigung gegen die Sieger war, welches ihn so hartnäckig allen Bitten und Einladungen von Seiten des Grafen Asten widerstehen ließ, oder ob Erinnerungen anderer Art ihm einen Besuch auf dem Schlosse peinlich machten, war fraglich. Jedenfalls vermochte weder Asten noch Werthern ihn aus seiner Abgeschlossenheit in Bornstadt hervorzulocken. Besser gelang es Hermann Velden, der, bevor er seine neue Laufbahn antrat, nichts unversucht lassen wollte, etwas über Rother zu erfahren, und zu diesem Ende den jungen Franzosen aufsuchte. De Bussy hatte, wie gesagt, vor seinem Eintritt in die Armee, welcher nach den ersten Schlachten erfolgt war, Rother noch ziemlich oft in Paris gesehen. De Bussy gab Velden wenig Hoffnung, daß er während der Belagerung von Rother Nachrichten erhalten könne, er meinte sogar, ein Versuch zu einer Mittheilung könne demselben nur Schwierigkeiten bereiten.

Velden aber war es schon wohlthuend, mit jemand zu reden, der Rother so kürzlich noch gesehen hatte und über dessen Entschlüsse näheres wußte. De Bussy sagte, da der Ausbruch des Krieges den Eintritt in den Ordensstand verzögert, habe Rother die h. Weihen in aller Stille jetzt schon empfangen, eine Nachricht, die Velden auf das höchste interessirte.

De Bussy plauderte gern mit Velden; er fühlte sich bei ihm freier als bei Asten und Werthern, denen gegenüber er ein drückendes Gefühl, das durch die Erinnerung an jene Episode zu Werthernhaus hervorgerufen wurde, nicht überwinden konnte. Hermann, der das Schicksal der Werbung de Bussy's um Helene durch Rother kannte, empfand schon um deswillen einige Sympathie für ihn. Ein glücklicher Nebenbuhler erregt des Mannes Abneigung, ein unglücklicher ist seines Mitleids sicher. Ein gewisser esprit de corps läßt ihn dann jenes »warum?« aufwerfen, welches fast den Charakter des Vorwurfs trägt. Auch Velden fragte sich, warum nicht Helene diesen de Bussy jenem andern zehn Mal vorgezogen habe. Dieses gemeinschaftliche Interesse und das Unglück, welches den jungen Franzosen getroffen hatte, wie auch dessen freundschaftliches Verhältniß zu Rother ließ Velden sich herzlicher geben, als er es sonst Fremden gegenüber zu thun pflegte. Er nahm auf diese Weise de Bussy sogleich für sich ein, um so leichter, als die beiden jungen Männer in ihren Anschauungen vielfach übereinstimmten.

Da Hermann also für den Freund und Bruder zunächst nichts thun konnte, zögerte er nicht, sich so bald als möglich auf seinen neuen Posten zu begeben. Als geschäftskundige Persönlichkeit wurde er bald mit Arbeiten überhäuft und mit den schwierigern Aufgaben betraut. Zu seinem Bedauern wurde er jedoch in den südlichern Gegenden, auf dem Schauplatze der letzten Kämpfe, beschäftigt. Seine Sorge um den Freund wurde darum nicht geringer, und Velden's Unruhe bekundete sich durch stets erneuerte Anfragen bei seiner Mutter, ob noch immer nicht zu ermöglichen sei etwas über Rother zu erfahren. Er hatte hierin eine eifrige Bundesgenossin an Helene. Wie sehr zu Asten auch alle dem fernen Freunde zugethan waren, so gab doch niemand dort eine lebhaftere Theilnahme für ihn kund, als sie. War die Ursache davon, daß sie eben selbst den ganzen Druck der Verlassenheit in fremdem Lande empfunden, oder war die gemeinschaftliche Sorge wieder ein Aufleben jenes frühern Verhältnisses zu Velden, dessen Sorgen und Freuden stets die ihren gewesen?

Helene war durch Hermann's verändertes Benehmen seit der Rückkehr fast traurig gestimmt worden. Es lag etwas Herbes in der Art, wie er jeden Dank abwies, wie er stets betonte, er sei das alles ihrem Vater schuldig gewesen; und kränkend war es ihr, daß er kaum die Stunde erwarten konnte, die ihn wieder abberufen würde. Ja, es hatte ihr sogar der Gedanke hier und da sich aufgedrängt, ob Hermann denn wirklich jene frühere Neigung, an die kein Blick, kein Wort mehr erinnerte, so vollkommen überwunden habe.

Nur in der Sorge um Rother fand Helene noch einen Anknüpfungspunkt mit ihm, und ihre lebhafte Theilnahme an dem Schicksal des Freundes schien Hermann wohl zu thun. Auch nach seiner Abreise setzte sie ihn durch seine Mutter von allen Schritten in Kenntniß, welche sie that, um über Rother Aufklärung zu erhalten. Durch ihre lebhafte Correspondenz mit Frau von Velden erhielt sie auch Nachrichten über Hermann selbst. Sie empfand doch eine gewisse Unruhe, ihn inmitten so vieler Kranken zu wissen.

Aber bei allem guten Willen vermochte Helene eine Bitte Hermann's nicht zu erfüllen. Ihm war der Gedanke gekommen, die geeignetste Persönlichkeit, um über Rother etwas in Erfahrung zu bringen, werde Holdern sein, dem bei seinen Beziehungen zu den verschiedensten Pariser Kreisen manche Wege offen stehen mußten. Wie wenig er auch Holdern liebte, so glaubte er in diesem Falle jede Rücksicht schweigen lassen zu sollen. Helene würde gewiß nicht anstehen, schrieb er seiner Mutter. Holdern diese Bitte mitzutheilen; dieser selbst werde entzückt sein, ihr einen Dienst zu erweisen, dachte er weiter, wenn er den Gedanken auch nicht so schroff zu Papier brachte.

Frau v. Velden hatte diesen Brief direct an Helene geschickt, welche dadurch sehr beunruhigt wurde. Sie war wenig geneigt, mit Holdern in Verkehr zu treten, aber es war schwer, eine ablehnende Antwort zu motiviren. Da ihr Verhältniß zu Holdern niemals ein ausgesprochenes gewesen war, so hatte sie weder ihrem Vater noch sonst jemand von dem in dieser Hinsicht eingetretenen Wechsel und den Gründen desselben Mittheilung gemacht. Es schien ihr unedel, ihn in den Augen anderer herabzusetzen; war doch der Irrthum ihre eigene Schuld gewesen.

Auch der Verkehr mit Carry hatte keine wesentliche Aenderung erlitten, wenn auch Helenens Briefe an sie um vieles kälter und sparsamer ausfielen. Carry mochte das merken; denn sie steigerte ihre Zärtlichkeit. Gleich nach Helenens Rückkehr aus Frankreich hatte sie ihrer Theilnahme an dem Tode Herbert's auf das lebhafteste Ausdruck gegeben und tief bedauert, nicht selbst kommen zu können, da ihr Leiden ihr jede Reise unmöglich mache. Sie hatte wiederholt betont, nur die Bescheidenheit hindere sie, Helene zu bitten, sie möge ihr, der armen Kranken, einen Tag schenken. Bei allem Mitleid hatte jedoch Helene sich dazu nicht entschließen können. Mit ihrem Bruder schien Carry wieder völlig ausgesöhnt; ihre Briefe waren voll von ihm. In den schwungvollsten Worten hob sie hervor, wie er, aus dem unglücklichen Frankreich zurückgekehrt, nichts sehnlicher gewünscht habe, als den heldenmüthigen Kämpfern des Vaterlandes sich anzuschließen. Er habe zwar kaum hoffen können, dieses noch zu erreichen, und seine Kräfte deshalb den Krankenpflegern zur Verfügung gestellt. Der oberste Kriegsherr aber habe ihm den Eintritt in das glorreiche Heer vergönnt, so daß er hoffen könne, aus der Ueberfülle der Lorbeeren sich auch noch einen bescheidenen Zweig zu erobern. Helenen ließen die Lorbeeren Holdern's sehr kühl, und über seinen patriotischen Eifer vermochte sie nur zu lächeln; seine Gedanken über Patriotismus und Vaterland kannte sie allzu gut – war denn bei ihm alles nur hohler Schein?

So stand die Sache, als jener Brief Velden's ankam, Helene gewann es nicht über sich, an Holdern zu schreiben; doch wollte sie auch nichts für Rother unversucht lassen und griff zu dem Auskunftsmittel, endlich Carry's Bitten um einen Besuch nachzugeben; durch Carry hoffte sie dann Holdern die Angelegenheit übermitteln zu können. Was sie persönlich betraf, war ihr Holdern nichts mehr. Sie war selbst erstaunt, mit welcher Ruhe sie Carry entgegenzutreten vermochte; und doch ruhten auch dies Mal Carry's Augen forschend auf ihr, auch dies Mal lenkte sie das Gespräch auf den Bruder, um in schwärmerischen Ausdrücken in seinem Lobe sich zu ergehen. Aber fern und fast vergessen war die Zeit, wo Helene bei Nennung desselben gezittert, wo alles, was auf ihn sich bezog, sie erschüttert hatte. Als sie Holdernheim verließ, nahm sie kaum eine andere Empfindung mit, als die des Mitleids für Carry's Leiden, deren abgezehrte Züge einen traurigen Eindruck machten.

Carry war durch den Besuch mehr beunruhigt als befriedigt, eine gewisse Veränderung in Helenens Wesen war ihr nicht entgangen, obschon Helene sich bemüht hatte, der schwer Leidenden möglichst wie früher zu begegnen. Als sie ihrem Bruder die Bitte bezüglich Rother's an's Herz legte, empfahl sie ihm auf's dringendste, dieselbe um Helenens willen zu erfüllen, und ermahnte ihn, letztere bald wieder aufzusuchen, sie nicht länger zu vernachlässigen. Seit Herbert's Tode wünschte sie die Vermählung ihres Bruders mit der reichen Erbin mehr wie je.

Die Bemühungen für Rother wurden durch die Uebergabe von Paris und die Aufhebung der Belagerung überholt. Fast in derselben Zeit war auch dessen Brief in de Bussy's Hände gelangt, welcher sich beeilte, Frau von Velden das Schreiben persönlich zu überreichen. Zu seiner Ueberraschung traf er in Burghof Helene, welche auf die erste Nachricht von dem Ende der Belagerung dorthin geeilt war. Der Brief Rother's half indessen über die gegenseitige Verlegenheit hinweg. Helene war auch de Bussy gegenüber eine andere. Zwar lag nichts Hoffnungserweckendes in ihrem Benehmen, wie Frau von Velden zu ihrer Freude bemerkte; aber auch nicht mehr jene eisige Ablehnung, welche sie früher gezeigt hatte. Sie fühlte, daß sie de Bussy eine Genugthuung schuldig sei; zwei Mal hatte er mit seinen Warnungen recht gehabt, und obendrein mußte sie ihm für seine Discretion Dank wissen. Helenens Benehmen gegen de Bussy war daher von jener herzlichen, aber ruhigen Freundlichkeit, welche die Verstimmung besänftigt und der Leidenschaft noch weniger Vorschub leistet, als Kälte und starre Zurückweisung. Auch war de Bussy von dem Gedanken an eine deutsche Liebe durch die Ereignisse der Zeit etwas zurückgekommen, und so verlief der stille Nachmittag in Burghof, wo Frau von Velden's feines, mütterliches Wesen den jungen Franzosen besonders ansprach, zu allseitiger Befriedigung. Das Schreiben Rother's erregte große Freude, und de Bussy mußte vieles von seinem letzten Zusammensein mit ihm erzählen: von den Hindernissen, die sich seinem Eintritt in den Orden entgegengestellt, von der hohen Begeisterung, die er für seinen Beruf hege, von den eifrigen Studien, denen er sich hingebe, und wie er gewiß einst Großes leisten werde. Mit jenem feinen Tacte aber, der den Franzosen selten eine Höflichkeit vernachlässigen läßt, ging er dann von dem Pflegesohn auf den Sohn des Hauses über, dessen Bekanntschaft zu machen ihn hoch erfreut habe; durch Rother habe er schon viel von Hermann gehört und alles bestätigt gefunden. Nicht genug wußte er Hermann's ritterliche Erscheinung hervorzuheben, seine ehrenfeste, männliche Gesinnung, seine einfache und doch so hohe Auffassung des Lebens. In warmen Worten beglückwünschte er Frau von Velden, daß sie zwei solche Männer erzogen habe.

Frau von Velden's Augen glänzten hell dem jungen Manne entgegen: sie war stolz und glücklich über das Lob, das er ihren beiden Kindern, wie sie Anton und Hermann so gern nannte, ertheilte. Sie hätte aber doch nicht Mutter sein müssen, wenn nicht das Lob, welches dem eigenen Kinde galt, ihr am lieblichsten geklungen hätte. Zudem war Rother stets so viel gelobt worden, Hermann so selten. De Bussy ahnte nicht, daß noch eine andere mit großem Wohlgefallen auf das Lob Velden's lauschte. Es war für Helene eine Bestätigung dessen, was sie selbst empfunden; aber sie war erstaunt, daß ein Fremder ihn gleich so voll und ganz erkannt hatte. Manche Charaktere entwickeln sich so langsam, daß gerade bei den Nächststehenden die Erkenntniß ihres Werthes sich erst spät, dann aber auch nicht selten plötzlich Bahn bricht.

De Bussy sprach um so freier, weil er Helene anderweitig gefesselt glaubte. Was ihn selbst anging, so sollte dieser Besuch zugleich sein Abschiedsbesuch sein. Gleich nach der Freilassung der Gefangenen wollte er nach Frankreich zurückkehren, um in die neu sich gestaltende Armee wieder einzutreten. Wenn er mit dem Ausdruck seiner politischen Hoffnungen und Wünsche auch sehr zurückhaltend war, so verhehlte er doch seine Ansicht nicht, daß für den Augenblick nichts nothwendiger sei, als durch das Zusammenhalten aller conservativen Elemente gegen die zerstörenden Elemente ein Gegengewicht zu schaffen. Er entwarf ein dunkeles Bild von der fast satanischen Wuth gegen alles Göttliche, gegen den Glauben, die Kirche und ihre Diener, den dieser Geist der Verneinung erzeuge; selbst die radicalsten politischen Ansichten wirkten nicht so zerstörend, als dieser wüthende Haß gegen die Religion, der sich zuletzt wie ein Fluch gegen alle sittliche Ordnung, gegen alle bestehenden Zustände wende, und mit einem kleinen patriotischen Seitenhieb klagte er gerade die deutsche Philosophie an, daß sie einen großen Theil Schuld trage an der Verbreitung dieser Principien, auch Deutschland werde deren Früchte noch ernten. Daß die Religion ein Zügel selbst für die erregtesten Gemüther sei, habe Helene ja noch kürzlich erfahren. Alle Privatnachrichten, die er aus Paris erhalte, seien sehr beunruhigender Natur; man könne nur hoffen, daß das große Unglück des Landes die extremen Parteien einigermaßen im Schach halten werde.

Das alles klang wenig tröstlich für die kommende Zeit, und Frau von Velden wie Helene wünschten lebhaft, Rother möge so bald als möglich Paris verlassen, obschon nach seinem letzten Briefe wenig Aussicht dazu war. Sie baten dringend, de Bussy möge seinen Einfluß bei ihm geltend machen, und er versprach, sein Bestes zu thun. Man schied mit herzlichen Wünschen für die Zukunft und in aufrichtigem Wohlwollen: de Bussy mit einer melancholischen Freude, den braunen Augen noch einmal begegnet zu sein. Sein Herz war aber zu voll von dem Unglück und dem Zwiespalt seines Vaterlands, um einem Traume jetzt nachhängen zu können.

Schon die nächsten Tage rechtfertigten vollauf die düstern Ahnungen, welche er über die Entwickelung der Geschicke seines Vaterlandes gehegt hatte. Es war ein grausenerregendes Bild, dieses Land, welches, kaum von unermeßlichem Unglücke heimgesucht, nun plötzlich auch noch die eigene Hand mörderisch gegen sich selbst richtete. Noch stand der Feind vor den Thoren, und schon hatte Paris die Fahne der Empörung gegen die gesetzgebende Versammlung erhoben. Es stritt angeblich für sein gutes Recht, für seine communalen Freiheiten; doch daß der Grund tiefer lag, zeigte sich nur zu bald. Aehnliche Aufstände flammten in einigen andern großen Städten des Landes auf, und überall trat bei diesen neu errichteten Communen der gleiche unheimliche Geist zu Tage. Man hatte den günstigen Moment richtig erfaßt, aber die so plötzlich sich demaskirende Gefahr öffnete auch den andern Parteien die Augen und rief sie zur Besinnung. Dieser aller Ordnung und Sitte spottenden Freiheit gegenüber ermannte man sich und schloß sich fest an einander.

Helene verfolgte die Ereignisse mit dem gespanntesten Interesse, und täglich wuchs ihre Besorgniß für Rother. Mit jedem Tage mehrten sich die Nachrichten über die Beschlagnahme von Pariser Kirchen durch die Männer der Revolution, täglich kamen Schilderungen der wüsten Scenen, die sich dabei abspielten. De Bussy hatte Wort gehalten und mehrfach an Frau von Velden berichtet. Er gehörte der Armee an, die sich um Paris zusammenzog; doch war es ihm unmöglich gewesen, etwas über Rother in Erfahrung zu bringen. Der Verkehr mit der Stadt sei gänzlich abgeschnitten, schrieb er, doch wolle er versuchen, durch einen zuverlässigen Agenten einige Zeilen an Rother zu senden.

Eines Abends entschlüpfte Helene bei der Lectüre der Zeitung ein Schrei des Entsetzens; sie las außer der Nachricht von der Gefangennahme des Erzbischofes und der ihm nahestehenden Geistlichen eines jener entsetzlichen Decrete, welches die Beschlagnahme einiger Kirchen und die Verhaftung von Priestern anordnete; besonders wurde jene Genossenschaft der Ignorantins genannt, welche Helene stets in Erinnerung geblieben aus Anlaß jenes denkwürdigen Besuches, den sie mit Daniella und Rother einst dort abgestattet. Rother hatte später ihr erklärt, jener Tag gerade habe seinen Entschluß für das Ordensleben entschieden. In seinem letzten Briefe hatte Rother mitgetheilt, er habe sich den Ignorantins für diese Zeit angeschlossen, weil er gefunden habe, daß er vereint mit ihnen besser wirken könne. Zur Beruhigung für Frau von Velden hatte er noch beigefügt, daß diese Genossenschaft wegen der ausgezeichneten Dienste, die sie während der Belagerung geleistet, auch von der augenblicklichen Regierung sehr geschätzt würde und sich den Dank aller Parteien erworben habe.

Das Decret, das jetzt vor Helenens Augen lag, sah zwar wenig nach nationalem Danke aus. »In Erwägung, daß die Priester Banditen, und die Kirchen Mördergruben sind,« begann jenes Schriftstück der Freiheits-Aera, welches die Verhaftung eben dieser Ignorantins und aller Priester, welche in Gemeinschaft mit ihnen wirkten, sowie die Schließung ihrer Kirche verordnete. Bei solche wilder Sprache war Helenens Schrecken nur zu gerechtfertigt. Der Graf und Tante Christiane waren kaum minder erschrocken, doch hielt der Graf den Erlaß mehr für einen Schreckschuß; wahrscheinlich wolle die Pariser Regierung den Versaillern gegenüber in den wehrlosen Opfern gewissermaßen Geiseln in die Hand bekommen. Auch meinte er, es sei mehr auf das Kirchen-Vermögen als auf die Persönlichkeiten abgesehen. Immerhin war genügender Grund zur Beunruhigung vorhanden; bei Helene mischte sich in die Sorge um Rother sogleich der Gedanke, welchen Eindruck die Gefahr des Freundes auf Hermann ausüben könne. Sie sann unaufhörlich auf ein Mittel, um Rother zu schützen, und ein Brief Carry Holdern's kam ihr dabei zu Hülfe. Diese theilte ihr die Antwort ihres Bruders mit; derselbe sei voll Bereitwilligkeit, alles für Helenens Freund zu thun, dem sie in so beneidenswerther Weise ihre Sorge zuwende. Durch seine militairische Stellung festgehalten, könne er sich leider ihr nicht so zur Verfügung stellen, wie er wünsche. Sie könne übrigens wegen Rother ganz ruhig sein, da ja ihre einstige, viel bewunderte Freundin, Rother's Verehrerin von Kindheit an, die junge Dame aus der Domgasse, jetzt in Paris eine höchst einflußreiche Stimme besitze. Falls Herr Rother noch in Paris sei, würde er sicher bei ihrer unveränderten Neigung zu ihm eine Beschützerin und Gönnerin in ihr gefunden haben. Carry Holdern konnte nicht umhin, den Ausdruck ihrer Verwunderung beizufügen, wie Fräulein Daniella solch' wahnsinnige Wege habe einschlagen können: Fräulein Daniella, von der sie einst alle so bezaubert gewesen, und von der Herr Rother sich so viel versprochen.

Aber Helene beachtete dieses kaum, da der Gedanke, daß Daniella vielleicht zu helfen vermöge, sie plötzlich erfüllte. Daniella! Welchen Irrungen sie auch verfallen sein mochte, den Freund ihrer Kindheit und Jugend würde sie immerhin zu retten suchen. Sie wußte wahrscheinlich gar nicht, daß derselbe sich noch in Paris befand. Helene sann nur über die Möglichkeit nach, so rasch wie möglich ihr die Nachricht zukommen zu lassen.

Die Erinnerung an Rother's Beziehungen zu Daniella rief ihr die alte Domgasse in's Gedächtniß, wo die Wege der beiden zum ersten Mal sich gekreuzt, und der Gedanke tauchte in ihr auf, dort Näheres über sie zu erfahren. Noch an demselben Tage eilte sie nach Bornstadt.

Das alte Haus in der Domgasse war wenig verändert; aber die Geisteskräfte des alten Veitel hatten in den letzten Jahren bedeutend abgenommen. Trotz des warmen Maitages saß er, als Helene eintrat, an dem Kachelofen, vor dem Daniella früher so oft gekauert. Jetta sprang hinter ihrem Spinnrade auf und hätte beinahe die Eintretende mit ihrem »Jesus, Maria, Joseph! die Daniella!« begrüßt. Erstaunt stand sie dann vor der hohen Gestalt der fremden Dame, deren milder Gesichtsausdruck so ganz das Gegentheil von Daniella's energischen Zügen war. Aber Jetta's Herz wallte hoch auf, als Helene sich als ein Astener Kind zu erkennen gab, das gekommen sei, zu fragen, ob Herr Veitel nichts von Fräulein Hirsch wüßte, oder derselben einen Brief zu übermitteln vermöchte; es handele sich um Herrn Rother, den Jetta ja auch gut gekannt.

»Einen Brief an die Daniella – und wegen des Anton Rother – und die Comtesse, die sich selbst her bemüht! Jesus, Maria, Joseph!« Die Alte zerrte an dem Tische, um den Weg zum Sopha frei zu machen, und raunte dem alten Veitel zu, daß die schöne junge Dame eine Comtesse Asten sei, die komme, um sich nach Daniella zu erkundigen. Veitel vermochte das nicht mehr ganz zu fassen, nickte nur mit dem Kopfe, und meinte, wie einstens: er kenne die Asten gut; sie seien feine, vornehme Leut', und der Herr Graf könne es gut machen; die Daniella aber sei auch eine vornehme Dame geworden und habe Millionen geerbt, Millionen!

Helene sah sich in dem dunkeln Zimmer um und fühlte sich eigenthümlich berührt bei dem Gedanken, daß Daniella in dieser Umgebung so lange Zeit geweilt habe. Alles, was Rother einst über das seltsame Kind und die mit ihm verlebten Abende ihr erzählt, tauchte wieder in ihr auf, während sie der Alten über den Grund ihres Kommens berichtete.

Jetta schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Hatte sie sich nicht immer geängstigt, daß der Rother zu den Heiden wolle, und nun sollte ihm ein Unglück zustoßen in einer christlichen Stadt! Und die Daniella, die so hoch gestiegen sei, daß sie gar etwas zu sagen habe in dem großen Paris! Sie war ihr Lebtag ein hoffärtig Ding gewesen, aber klug, klug! Und immer hatte sie gekonnt, was sie gewollt. Für den Rother aber würde sie gewiß alles thun. Hatte sie nicht an ihm gehangen von Kindheit an? Du lieber Gott! Sie, die Jetta hatte doch eine Zeit lang gedacht, er könne Daniella auf andere Wege führen, wenn sie stundenlang mit dem Rother hier zusammensaß, über gelehrte Dinge sprach oder Musik machte, daß einem das Herz überging. Und schön war sie dabei gewesen, schön und auch gut; nur daß sie von der christlichen Demuth niemals hatte etwas wissen wollen. Aber für sie, die Alten, habe sie immer viel übrig gehabt und sie nie vergessen, auch neulich ihnen wieder einmal geschrieben, daß sie die Kriegszeit gut überstanden. Aber von Rother spreche sie schon lange nicht mehr in ihren Briefen, und als sie das letzte Mal hier gewesen, habe sie ordentlich spöttisch gelächelt, als sie gehört, daß er nun doch ein Priester geworden. Sie, die Jetta, habe im Stillen oft gedacht, daß ihr der Hochmuth auch dabei im Wege gestanden, und dann meine sie immer, der andere, der Baron, habe auch das seine gethan, um die Daniella auf eine andere Bahn zu bringen. Der sei damals, im Kriegsjahre, so oft in's Haus gekommen, wie er auch in Berlin viel bei ihr gewesen sei. Er sei schuld gewesen, daß sie dann nach Paris gegangen. Nachmals habe sie oft gedacht, es würde etwas geben zwischen den Zweien, besonders, da die Daniella so grausam reich geworden; denn da sei der Baron fast gar nicht mehr von Paris fortgegangen. Aber die Daniella sei doch klüger gewesen und habe auch wohl nichts für ihn übrig gehabt; denn gerade dies letzte Mal habe sie geschrieben, daß es aus mit ihm sei, daß sie ihn nicht gewollt, wie die Comtesse lesen könne in dem Briefe. Die redselige Alte hatte denselben mittlerweile aus dem Schreine hervorgesucht. Sie hätte ihn noch nicht beantwortet, fuhr sie fort, obschon die Daniella es gewünscht und auch ihre Adresse mitgeschickt habe; aber der Veitel könne jetzt nicht mehr schreiben, und ihr würde es sauer. Der »Er«, den die Daniella nenne, sei der Baron, der früher oft Grüße von ihr gebracht und solche mitgenommen hätte, fügte sie erklärend hinzu, als Helene fragend ihre Blicke auf einer Stelle des Briefes haften ließ. »Aber es freut mich, daß es aus ist. Er sah nicht gut genug aus, daß ihn ein brav' Mädchen hätte nehmen können, wenn er auch ein ansehnlicher Mann war.«

Die Alte ahnte nicht, wie nahe ihr Geplauder ihre Zuhörerin berührte. Helene wurde von einem wunderbaren Gefühl ergriffen, als Jetta's Worte und der Brief wieder klares Zeugniß ablegten für den Irrthum, in welchem sie sich so lange gewiegt. Selbst als sie schon der Domgasse den Rücken gewandt im Besitze jener Adresse, von der sie so vieles für Rother hoffte, vermochte sie den Eindruck nicht zu überwinden. Sie zögerte nicht, an Daniella zu schreiben, fand es aber trotz der angegebenen Adresse gerathener, den Brief an de Bussy zu schicken. Eine Abschrift sandte sie mit plötzlichem Entschluß an Carry Holdern. Sie hoffte, ihr Bruder, der ja einst in Paris Fräulein Hirsch so nahe gestanden und mit den jetzt dort herrschenden Kreisen so viel in Verbindung gewesen, werde vielleicht Gelegenheit finden, den Brief an seine Adresse zu befördern. Helene erwartete kaum, daß derselbe auf diesem Wege sein Ziel erreichen würde; aber sie wollte den Beweis liefern, daß sie nicht völlig blind sei.

Als sie nach all' den Mühen des Tages am Abend hinaustrat auf den Balcon, um ihre heiße Stirne in der weichen Maienluft zu kühlen, da trat die Erinnerung an Holdern noch einmal mächtig vor ihre Seele. Wie oft hatte sie eben hier gestanden und sehnsüchtig hinausgeschaut in der Richtung, wohin ihr Herz sie zog. Entsann sie sich jenes ersten Abends, als sie, von der italienischen Reise heimgekehrt, ihrer Liebe hier zum erstenmale voll und ganz bewußt geworden, und sich zürnend abgewandt, als Hermann's Schritte sie aufgeschreckt aus ihrem seligen Traume? Im bittern Gefühl der Beschämung und Enttäuschung beugte sie ihr Haupt. Ja, es war wieder Frühlingslust – ihr Frühlingstraum aber war dahin, verweht und zerstört, wie so manche Maienblüthe, über die ein eisiger Hauch zieht. Doch wie ein Gruß aus weiter Ferne klangen Rother's Worte plötzlich in ihrem Herzen wieder: nicht zu hadern mit der Demüthigung, welche uns die eigene Schwäche zeigt. Hatte er nicht gesagt, daß das menschliche Herz mit seinem Lieben nur ein irdisch Ding sei, der Täuschung und dem Wechsel unterworfen? Sie hatte sich so viel in diesen Tagen mit den Gefahren, die Rother drohten, beschäftigt, daß sie sich unheimlich berührt fühlte, seine Worte so in sich widerhallen zu hören; ihr schien fast, als könne es ein letzter Gruß sein, den er ihr sende! … Und dann dachte sie wieder einer andern Liebe, die aber vielleicht ebenfalls vergangen war wie ein Maientraum. Hatte sie dieselbe nicht abgewiesen, zurückgestoßen? Wie hell stand jetzt Velden's einfacher, markiger Charakter neben Holdern's düsterm, unheimlichem Wesen! Sie sah ihn vor sich, wie er neben ihr gestanden, ein ganzer Mann, der wohl eines Weibes Schutz und Hort zu sein vermag, aber auch stark und stolz genug, einen Traum zu verbannen. Und wie klein mußte sie in ihrer Verblendung seinen Augen erschienen sein! Helene hätte selbst kaum sagen können, warum die Thränen so warm aus ihren Augen perlten. Dem verlorenen Traume, der nur ein großer Irrthum gewesen, galten sie nicht, – sie hatten nichts Bitteres mehr. Sie glichen mehr einem Frühlingsregen, dem Wärme und Sonne folgt.


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