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17. Kapitel.

War es Traum oder Wirklichkeit? Er, einst ein regierender Fürst, er, der begeisterte Jünger Jean Jacques', er, den Robespierre noch gestern am Herzen gehalten hatte, saß, des Verrats angeklagt, im Gefängnis, konnte zu jeder Stunde vor das schreckliche Tribunal gerufen werden, um sein Todesurteil zu vernehmen, das vermutlich schon jetzt ausgefertigt war. War es Traum oder Wirklichkeit? Tagelang fragte er sich, wenn er nach einer schlaflosen Nacht aus dem unruhigen Halbschlummer früher Morgenstunde erwachte und mit schwerem Kopf sich erst besinnen mußte, wo er sich befand. Erlebte er dies alles leibhaftig oder war es nur ein Angsttraum, von dem er befreit erwachen und Théroigne lachend erzählen würde, was für tolles Zeug man doch träumen kann …

War die Welt, die ihn jetzt umgab, Traum oder Wirklichkeit? In andern Ländern mochten Gefängnisse Kammern des Schreckens sein, die von nichts anderem widerhallten als von Jammer und an deren Wänden Tränen rieselten. Die Welt dieses Gefängnisses aber war halb ein Höllenbreughel und halb ein Bild des zierlichen Watteau, und geweint und geklagt wurde hier nur wenig und insgeheim. Dafür aber flogen funkelnde Sarkasmen umher, kleine, lächelnde Frivolitäten, hochtönende Worte, wie aus einer Tragödie von Racine und daneben derbe Volksflüche, die aber Sarkasmen und Frivolitäten nur für Augenblicke zu übertönen vermochten. Ein buntes Menschengemisch war hier zusammengeführt worden: Aristokraten und eidverweigernde Geistliche, denen es lange gelungen war, sich von einem Schlupfwinkel zum andern zu retten und die man nun doch aus ihrem armseligen Versteck hervorgezerrt hatte, Juristen, Schriftsteller, Journalisten, die im dringenden Verdacht standen, der gerichteten Gironde nachzutrauern, Maratisten, die sich unehrerbietig über Robespierre geäußert hatten, und harmlose Leute aller Art, denen es nie eingefallen war, sich um äußere und innere Politik zu kümmern, die still ihrem Handwerk nachgegangen und von irgend einem Feind oder Geschäftsneider oder entlassenen Angestellten denunziert worden waren. Das gleiche Schicksal hatte sie hierher geführt, und der nahe Tod hätte eine tiefe Gemeinschaft schaffen können, wenn nicht das Leben mit seinen Kräften und Gewohnheiten sie vereitelt hätte. Denn hier teilten sich die Kasten und Meinungen strenger als draußen, wo alle der Parole »Gleichheit« oder »Verrat« hatten gehorchen müssen. Hier betonte man wieder, daß man durchaus nicht gleich war, und da man schon wegen Verrats im Kerker saß, brauchte man ja keine Anklage mehr zu fürchten … Der Adel sonderte sich streng von den andern ab, hielt, soweit es möglich war, an den zierlichen und feierlichen Gepflogenheiten verklungener Tage fest, ließ sich nie anders sehen als sorgfältig frisiert, machte sich gegenseitig zeremonielle Besuche mit denselben verbindlichen Redensarten, die man einst in Versailles getauscht hatte, lachte, medisierte, ergötzte sich an Bonmots und graziöser Selbstverspottung, als befände er sich immer noch im Oeil de Boeuf oder in den Appartements der Königin. Bei denen, die um der Gironde willen hierher gebracht worden waren, klang die Tonart ernster, pathetischer. Unablässig erzählten sie einander von dem schrecklichen Geschick der zweiundzwanzig Gerichteten und dem noch grausameren der flüchtigen Geächteten. Wie sie voll Größe zum Richtplatz gegangen waren … wie man Valazé, der sich unmittelbar nach Verkündung des Urteils erdolcht, noch als Leiche geköpft hatte … wie der flüchtige Roland sich erstach, als er den Tod seiner Frau vernahm, … wie man die Leichen Barbaroux' und Buzot's von Wölfen angefressen im Walde gefunden hatte. Verächtlich und herausfordernd auf gefangene Sansculotten blickend, erzählten sie, wie in der Conciergerie, wo die zweiundzwanzig eingekerkert gewesen, mit ihren verlassenen Lagerstätten ein wahrer Kult getrieben worden war, wie alle Gefangenen, auch solche, die nicht zur Gironde gehörten, sich vor diesen Lagern der Opfer ehrfürchtig geneigt hätten, wie man sich in früherer Zeit vor dem Sterbebett eines Königs neigte. Flüchen und rohem Hohn antworteten die Sansculotten …

Doch welcher Kaste und Partei sie auch angehören mochten, eines war in ihnen allen gleich stark, eines, das draußen in der Freiheit, am Verscheiden war. In ihnen allen war ein übermächtiger Drang zum Leben, der erschütternd wirkte, weil er im Schatten des Todes aufsprang. Sie alle sollten sterben, aber sie wollten leben, und weil ihr Lebensdrang so stark schlug, waren sie hier fröhlicher als draußen, wo die Ungewißheit, die ständig zitternde Angst alles in ihnen ertötet hatte, so daß sie nichts mehr konnten als fürchten und sich verbergen. Nun war die armselige Hetze zu Ende, nun war das Schrecklichste, die Ungewißheit, von ihnen genommen, nun wußten sie, daß der Tod auf sie wartete, und nun berauschten sie sich, wie Opiumesser an Mohnkörnern, an Heiterkeit, Sarkasmus, Frivolität, Pathos und Zorn, um im Rausch noch einmal zu genießen und dann den Sprung hinüber ins große Nichts zu tun … Neben Adalbert war ein junger Dichter aus Bordeaux gebettet, der sicherlich nie etwas Anderes als Verse oder Dramen verbrochen hatte. Er verging fast vor Sehnsucht nach seiner warmen, schönen Heimat, und er besang ihre Ernten, ihren Herbst und ihre Frauen in anmutig-gleitenden Versen, die ihm selber zuweilen Tränen entlockten. Hatte er aber genug gedichtet, dann spielte er voll Übermut mit andern jungen Leuten ein grotesk-ironisches Spiel, das sie sich ausgedacht hatten: sie spielten Tribunal und Hinrichtung. Die Bettlaken stellten Amtsroben dar, aus den Planken der Bettlade fertigte man eine sogenannte Guillotine, und Alle schrieen Bravo, wenn der Richter im Bettlaken wieder ein Todesurteil verkündet hatte. Adalbert sah ihnen mehr denn einmal zu und konnte nicht genug staunen über den harmlosen Frohsinn all dieser dem Tode geweihten Jugend. Eines Tages aber erlebte er bei ihnen eine höchst seltsame und bewegende Szene. Wieder war ein »Todesurteil« gefällt worden und der Delinquent stand vor der »Guillotine«. Stand und verneigte sich vor ihr mit dem absonderlichen steifen Kopfruck, den Adalbert vor langer Zeit an seinem Vetter gekannt und den damals alle jungen Herren am Hofe nachgeahmt hatten. Schier gespenstisch mutete ihn dieser Gruß in dieser Umgebung an, doch schon schlug eine Lachsalve durch das Gemach hin und all die jungen Leute klatschten in die Hände und riefen belustigt:

»Famos! Er macht das à la prussienne, als wäre er ein richtiger Preuße!«

Der junge Dichter wollte ihnen wehren:

»Wir dürfen nicht über einen lachen, der hier mit uns gefangen saß!«

Aber die anderen überschrieen ihn:

»Mit uns? Das war nur ein Zufall! Er gehörte nicht zu uns! Er war ein Jakobiner!«

»Ein Gottesleugner!«

»Ihm und seiner Rotte haben wir es zu danken, daß wir hier sitzen!«

»So wollen wir uns denn wenigstens über ihn amüsieren, so gut wir können!«

Und der »Verurteilte« mußte unzählige Male seinen Gruß à la prussienne wiederholen.

Adalbert starrte immerfort auf dies für ihn gespenstische Schauspiel, fragte schließlich schüchtern nach seinem Ursprung. Und lachend erklärten sie ihm:

»Cloots hat die Guillotine so gegrüßt und seitdem heißt diese Art à la prussienne!«

Woher sie das wußten? O sie wußten von den meisten ihrer Gefährten, wie sie gestorben waren. Einer der Fuhrknechte, der die Todeskarren geleitete und mitteilsamer Natur war, kam fast alltäglich, brachte letzte Grüße und Bestellungen und erzählte gerne, ohne allzu große Roheit von den letzten Minuten der Opfer … Und bei der Schilderung von Cloot's Abschiedsverbeugung hatte er seiner Heiterkeit gerne die Zügel schießen lassen und immer wieder den Kopf ruckweise gesenkt und sich dabei vor Lachen geschüttelt …

Cloots – ach ja! Adalbert erinnerte sich jetzt, daß der nun wirklich verstorbene Baron ihn damals, als sie sich kennen lernten, so gegrüßt hatte …

Er wandte sich ab. Er konnte die Heiterkeit der jungen Menschen nicht länger ertragen. Das Herz war ihm zusammengepreßt … Er sah Cloots den ewig-beweglichen, ewig-aufgeregten wieder vor sich. Dieser Mann hatte seine Heimat verlassen und geschmäht, hatte kaum etwas so sehr gehaßt wie preußisches Wesen, hatte ein Corps gegen Preußen ausgerüstet und hinterließ doch – welcher Hohn! – als letztes Andenken einen Gruß, der » à la prussienne« hieß. Immerfort hatte er Preußen und seinen Militärdrill verhöhnt, in der Todesstunde aber war, ihm selber unbewußt, die preußische Zucht wieder in ihm aufgesprungen, und er, der Anbeter Frankreichs, war als echter, militärisch-gedrillter Preuße gestorben …

Jeden Morgen fuhren die Karren zur Guillotine, aber so grauenvoll diese Morgen auch waren, so wurden sie noch übertroffen vom Grausen der Nacht, die ihnen voraufging. Denn nachts machten die Wächter die Runde und riefen die Namen aus, die morgen vor dem Tribunal erscheinen mußten. Da starrten Hunderte von Augen entsetzt ins Dunkel, und jede Lagerstätte erbebte unter jagenden Herzschlägen, die fragten: »Wird mein Name erschallen?« Es war wie die Aufregung eines gräßlichen Spiels, bei dem es den höchsten Einsatz, das Leben, galt. »Wird meine Kugel auf rot oder schwarz rollen?« Minuten, die eine Ewigkeit scheinen, bis der Wärter seine Liste zu Ende gerufen hat und verschwindet, um im nächsten Zimmer dasselbe entsetzliche Spiel zu bereiten. Rollte die Kugel auf schwarz, dann war alles zu Ende. Die Rechtssprechung des Tribunals war ja nur eine Komödie, und der Rest dieser entsetzlichen Nacht mochte verwendet werden, um nach außen hin die Fassung zu bewahren, mit der man heiter oder pathetisch die Treppe zum Tribunal und später den Karren bestieg. War aber die Kugel auf rot gerollt, dann war man wieder einmal gerettet, dann hatte man wieder zwölf- oder vierundzwanzig Stunden Frist! Vierundzwanzig Stunden – eine Unendlichkeit. Was kann sich in vierundzwanzig Stunden nicht alles ereignen?! Ein neuer immer wachsender Rausch umfing diese Glücklichen, bis die vierundzwanzig Stunden schnell verflogen waren und das erregende Spiel der Nacht aufs neue begann … Wer eine Weile gespielt hatte, wurde allmählich abgestumpft und von einem gewissen Fatalismus erfaßt: »Mich trifft es nie!« Und dies alles wäre unbegreiflich leichtfertig, zynisch erschienen, wenn nicht immerfort draußen der Tod gewartet hätte. Doch diese fieberige Leichtfertigkeit, diese rauschige Gefaßtheit waren jammervoller anzusehen als laute Verzweiflung.

Wenn in den Mittagspausen das gegenüberliegende Frauengefängnis sich öffnete, drängen alle Männer ans Fenster, um ihre Leidensgefährtinnen zu erspähen. Man nannte sich gegenseitig ihre Namen, kannte diese und jene, erzählte flüsternd irgendeine rührende oder pikante Geschichte. Keine aber wurde so eifrig und begehrend beguckt wie die Marquise Fontenay, deren Mann, von dem sie getrennt war, zu den Emigranten gehörte, während sie selber der Revolution anhing. Spanierin von Geburt und ein vollendeter Typ spanischer Frauenschönheit, kannte man sie eigentlich nur noch unter ihrem Vatersnamen Cabarus, nannte sie nur »Die schöne Therese« oder häufiger noch »Die schönste Frau von Paris«. Hatte man sich an ihr sattgesehen, wandelten die Blicke zu dem Mansardenstübchen eines der Häuser, die in den Gefängnishof sahen, und Alle lächelten mitleidig oder schadenfroh. Am Fenster jenes Mansardenstübchens, das er nur um dieser Mittagsstunde willen gemietet hatte, stand mit sehnsüchtigem und verstörten Gesicht der Deputierte Tallien, der Liebhaber der schönen Therese, der sie von hier aus sah, geheime Zeichen machte und empfing und doch nicht wagte, sich offenkundig um ihre Rettung zu bemühen, weil er und sie sonst unfehlbar verloren gewesen wären … Und alle, die ihn oben sahen, nickten einander zu und sprachen, je nachdem die Empfindung es ihnen eingab:

»Schade um sie!« … »Warum soll es um sie mehr schade sein als um tausend andere?« … »Armer Tallien!« … »Das ist die Strafe für den Bluthund, der die Hinrichtung des Königs ohne Aufschub und Appell an das Volksbegehren durchgesetzt und in Bordeaux wie ein Wüterich gehaust hat!« … »In Bordeaux hat er sie kennengelernt und damals gerettet!« … »Ein zweites Mal wird es ihm nicht gelingen. Sie hat für die Girondisten gesprochen, und das vergißt Robespierre ihr nicht!« … »Nun mag Tallien sehen, wie es tut, wenn einem das Liebste abgeschlachtet wird. Er hat es selber oft genug über andere verhängt!« …

An allem, was diese buntgemischte Welt verband oder trennte, nahm Adalbert keinen Anteil. Erst jetzt merkte er, wie verschieden er von all diesen Menschen war, in deren Mitte er seit Jahren gelebt und in deren Ideen und Wesen er hatte aufgehen wollen. Einsam saß er, sann unablässig über sein Schicksal nach, und als er es zu Ende gedacht und erfaßt hatte, ergriff ihn grimmige Verzweiflung. Doch nicht über seinen Tod war er verzweifelt, sondern über die Vergeudung, die er mit sich und seinem Leben getrieben hatte. Er betrachtete sich und die dahingegangenen Jahre, als wäre er ein Fremder und als hätte er fremdes Schicksal zu beurteilen, und alles, was ihm früher natürlich und begehrenswert erschienen war, kam ihm jetzt unnatürlich vor. Was hatte er, ein deutscher Fürst, im fremden Lande zu tun gehabt? Was brauchte er, dem ein kleines, aber gutes und starkes Volk zur Obhut gegeben gewesen, Jean Jacques' Reich zu erträumen und um seinetwillen den anvertrauten Schatz im Stich zu lassen? Was hatte ihn, den regierenden Herrn, getrieben, sich mit Demagogen und falschen Propheten zu verbrüdern und an die Souveränität des Volkes zu glauben?! Verblendung – Narretei! Von dem Platz, auf den das Schicksal ihn gestellt hatte, und den er nie hätte verlassen sollen, war er wie ein dummer Junge davongelaufen um einer Chimäre nachzujagen. Neue erfaßte ihn, nicht in demütiger Selbstanklage, sondern in ungeheurem Zorn über das eigene Tun und in der Erkenntnis schwerer Versündigung. Gesündigt hatte er an sich, gesündigt au Allen, von denen er herkam, gesündigt an seiner Heimat, an seinem Volke, gesündigt auch – jetzt erst fiel es ihm ein! – an seiner Frau. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit dachte er an Friederike, und wiederum begriff er die eigene Schwächlichkeit nicht. Diese kleine Friederike war ein liebes, gutes Geschöpf, das er sich mit ein bißchen Männlichkeit, mit ein bißchen gutem Willen und Draufgängerei leicht zu eigen hätte machen können, – statt dessen hatte er einen Prinzen Rührmichnichtan gespielt und sich in seelische Tüfteleien hineingeredet, die ihm jetzt so abgeschmackt vorkamen, daß er sich selber »Zierbengel« schalt. O, er hatte doch nicht umsonst jahrelang in einem revolutionierten Lande gelebt, war nicht umsonst Théroigne's Geliebter gewesen, um nicht zu begreifen, daß der Wert eines Menschen nicht immer nach denselben überkommenen Begriffen abgemessen werden kann, und daß die kleine Friederike immer noch ein Schatz für einen Gatten sein konnte, auch wenn ein anderer sie schon vor ihm geküßt hatte und die Erinnerung an ihn noch über den Kuß hinaus lebendig geblieben war. Théroigne wäre nach den Begriffen seiner Heimat sicher eine Verlorene gewesen, und doch stand sie, trotz ihre Exaltation, noch heute so hoch in seinen Gedanken, daß ihm all die kleinen, unbescholtenen Fräuleins seines Hofes neben ihr nichtig erschienen. Denn sie hatte Mut und Charakter und war immer bereit, sich für eine Idee zu opfern, und darauf, so schien es ihm, kam es vor allem an, gleichviel ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Théroigne – die Erinnerung an sie fiel ihm schwer aufs Herz. Was war wohl seit seiner Verhaftung aus ihr geworden? Hatte man auch sie festgenommen, da man wußte, daß sie ihm nahe stand? Sehr wahrscheinlich, ja beinahe gewiß! Oder war es ihr gelungen, sich rechtzeitig der Verfolgung zu entziehen, sich irgendwo zu verstecken? Er glaubte es nicht. Dazu war sie zu unvorsichtig, zu tollkühn und zu herausfordernd. Es war zehn gegen eins zu wetten, daß sie jetzt erst recht laut Schmähungen gegen Robespierre ausstieß ohne zu bedenken, welches Unheil sie auf sich herbeischwor. Er versuchte, von neuankommenden Gefangenen irgendetwas über sie zu erfahren, aber keiner wußte von ihr. Da versank er denn wieder in seine Grübeleien, dachte heimwärts und fragte sich bangend, wie daheim wohl alles stünde. Die Frist für seine Rückkehr war abgelaufen. Hatten Regentin und Ministerrat nach seinem Gebot getan und dem Volke die Freiheit gegeben, seine Regierungsform nach eigenem Ermessen zu wählen? Sicher hatten sie es getan, denn sie waren ja durch Eide und Abendmahl gebunden, – aber wie hatte das Volk gewählt? Vielleicht, nein, sicherlich hatte es sich für die Republik entschieden, denn der Freiheitsgedanke rumorte in allen Köpfen, und Adalbert wußte, daß Frankreich eine ausgedehnte Geheimpropaganda betrieb. Aber wie war wohl diese kleine Republik geworden, und wie hatten sich seine Mutter und die Nebenlinie mit der Neuordnung der Dinge abgefunden? Vielleicht zerfleischte Bürgerkrieg das Land. Vielleicht herrschten dort ähnliche Zustände wie hier … Er wußte ja gar nichts mehr von daheim. Seit Frankreich in europäische Kriege verstrickt lag, hatte jegliche Korrespondenz aufgehört, und auch aus Zeitungen hatte er nichts mehr über seine Heimat erfahren. Nicht einmal ob sie mit in den Krieg hineingezogen worden war. Beunruhigend schien ihm jetzt eines, dessen er bislang kaum geachtet hatte; er war der einzige Ausländer geblieben, den Robespierres Mißtrauen nicht aus dem Jakobinerklub hatte ausstoßen lassen. Er hatte auf diese Bevorzugung kaum geachtet, hatte sie auf Rechnung seiner Freundschaft mit Robespierre gesetzt, mm aber fiel ihm ein, daß man ihn vielleicht geschont hatte, weil er Angehöriger einer Schwesternrepublik war. Und weiter fiel ihm ein, daß er aus Robespierres Hand »Die Räuber« empfangen hatte … Da überkam ihm eine brennende Angst, die ihn nicht mehr loslassen wollte. Wie, wenn der Verfasser dieses Buches daheim, in Deutschland, ähnlich gewirkt hätte, wie Jean Jacques in Frankreich?! Ging er doch auf den Spuren des Gegners, atmete doch sein Stück denselben umstürzlerischen Geist, der sich gegen alles erhob, was je gegolten hatte! O, nicht daß Adalbert nun mit einem Male ein Reaktionär geworden wäre, wie etwa die Emigranten oder der törichte Graf Artois, der jüngste Bruder des enthaupteten Königs, der meinte, die Revolution sei nichts als ein häßliches Fieber, nach dessen Ablauf alles wieder ins alte Geleise zurückkomme! Adalbert begriff wohl, daß eine neue Zeit angebrochen war, aber nicht diese Zeit, o Gott, nicht diese! Was sollte aus der Menschheit werden, wenn Rechtlosigkeit und Mord die Herrn des Tages waren?! Was sollte dann aus seiner Heimat werden?! Die Heimat – – an sie dachte er zuerst und mußte immerfort an sie denken, und neben ihrem Schicksal erschien ihm die Menschheit im allgemeinen nicht mehr so wichtig wie einstens, seiner Fürsorge und Hilfe nicht mehr gar so bedürftig. Die Heimat – – wie erging es ihr wohl in all den Jahren, da er von ihr abgesperrt geblieben? Und wieder und immer stärker die nagende Angst, daß auch daheim ein Buch verhängnisvolle Wirkung getan haben könnte. Er wußte aus Erfahrung, wie süß und sanft die Lehre von der Gleichheit und Freiheit klingt, wie sie gerade auf die Besten, Edelsten faszinierend wirkt … und wie sie schließlich in Blut und Jammer ertrinken muß, ja, muß, weil sie nicht mit dem lebendigen Leben und nicht mit lebenden Menschen rechnet … Wenn die Jugend daheim »Die Räuber« mit derselben Gier verschlang wie die französische Jugend Jean Jacques verschlungen hatte und wenn sie dieselben Folgerungen daraus zog?! Wenn es diesem leidenschaftlichen Anwalt des Verbrechens gelang, auch in Deutschland das große Feuer anzuzünden, das hier Menschen und Staat verzehrte?« Er preßte die Hände an die Ohren, als hörte er schon das Prasseln der Feuersbrunst. Dieser Schiller war ein Dichter, ein fortreißender Dichter, dem ganz andere Worte und Töne zu Gebote standen als im »Contrat social« oder im »Emile« zu lesen waren! Wenn schon Jean Jacques ein ganzes Volk entflammen und verderben konnte, um wieviel mehr dieser Mann, der ganz Glut und Aufruhr war!

Er stöhnte in Reue. O, daß sein Leben noch einmal ihm gehörte, daß er es formen dürfte in Demut und Erfahrung! Und daß er über die Vogesen hin dem Dichter der »Räuber« zuschreien könnte: »Halte ein! Du weißt nicht, was du tust und heraufbeschwörst! Ich aber weiß es, denn ich habe das Tiergesicht gesehen, das ihr, Dichter und Philosophen, für ein göttliches Antlitz haltet und ausgeben wollt!«

Vergebener Wunsch! Für ihn war alles zu Ende. Er selber hatte sein Schicksal in eben der Stunde besiegelt, da er auf seinen Knieen von Robespierre die Rettung der Menschlichkeit erfleht hatte … –

Doch diese Selbstdemütigung reute ihn nicht. Und wenn es ihm beschieden wäre, ein Greis und ein Menschenverächter zu werden, wie sein Großvater war, – diese Stunde würde er nie schmähen, in der er für die Menschlichkeit gesprochen hatte, die ihm zuerst in Trenck's Gestalt geschändet erschienen war … –

Trenck – stieg die ganze Vergangenheit vor ihm herauf? Gingen hier Gespenster aus alten Tagen um? Eines Tages wurde auch Trenck als Gefangener eingeliefert, und schon wenige Tage später hingerichtet, da er in Verdacht stand, ein Emissär der feindlichen Regierungen zu sein … Und dann klapperte ein Stelzfuß über den Boden und ein einäugiger Krüppel stand vor Adalbert und streckte ihm mit grimmigem Lachen die Hand entgegen.

»Ein schönes Stelldichein, das uns der neue Prophet, die frömmelnde Kanaille, da veranstaltet hat! Aber«, tröstete er sich gleich wieder, »man muß die Sache nicht gar zu tragisch nehmen, es ist nur ein Übergang.«

»Aber ein peinlicher!« sagte Adalbert mit bitterem Humor. Sie wechselten noch ein paar Worte über Thurnes' Verhaftung, die auf Grund seiner früheren Beziehungen zu Adalbert erfolgt war, dann fragte Adalbert, ob Thurnes nichts von Théroigne wußte. Ja, er wußte, und es war schrecklich anzuhören. Wie sichs Adalbert gedacht, hatte sie sich in lauten Schmähungen gegen Robespierre ergangen und ihn »Mörder der Freiheit« genannt. Da war sie auf der Straße von einer Rotte Weiber überfallen und mit Ruten blutig gepeitscht wurden. Bewußtlos, in ihrer Bewußtlosigkeit wild um sich schlagend und Fieberworte stammelnd, hatte man sie nach Hause gebracht. Wie es ihr jetzt ging, wußte Thurnes nicht … Adalbert barg das Gesicht in den Händen, und Schmerz und Scham zerrissen ihm das Herz. Gab es Schrecklicheres für einen Mann, als untätig sitzen zu müssen, während die geliebte Frau beschimpft, gepeinigt wird, ohne daß er einen Finger rühren konnte, um ihr beizustehen oder sie zu trösten. Wenn er sich dies schöne, stolze Geschöpf in den schmutzigen Händen der Megären dachte, hätte er alles um sich her Niederschlagen mögen vor Wut und Weh …

Thurnes war völlig ungebrochen, optimistisch wie immer, nicht was sein eigenes Schicksal betraf, über das er sich keinen Illusionen hingab, aber in Bezug auf die Freiheit. Nach wie vor war er ein fanatischer Anhänger des toten Marat, der, wie er sagte, das einzige Genie Frankreichs und der Welt gewesen sei. Robespierre nannte er nie anders als »die frömmelnde Kanaille« oder »die Giftkröte« fügte aber stets hinzu:

»Er ist nur ein Übergang! Die Freiheit siegt, auch wenn zehn solcher Kanaillen aufständen, um sie zu erdrosseln!«

Freilich fehlten auch ihm trübe Momente nicht. Er war in Sorge um seine Familie und in noch größerer um sein Drama »Cinna«, das bei der Haussuchung beschlagnahmt worden war.

»Wenn sie es ruinieren, wenn sie etwa auf den Gedanken kämen, es mir zu stehlen, um es später als ihr eigenes aufführen zu lassen! Weiß der Teufel, was solchen Hunden nicht für Gemeinheiten einfallen! Ich kann nachts nicht schlafen, wenn ich mir vorstelle, was meinem Manuskript alles zustoßen kann!«

Jedes Gespräch, das er mit Adalbert führte, begann und endete mit »Cinna«, und diese Sorge, die beinahe zu einer fixen Idee wurde, schwand nur zu einer bestimmten Nachmittagsstunde, in der Angelika draußen, vor der Gefängnismauer mit dem Kinde erschien und den kleinen Horace Jean Paul auf ihren Armen hoch emporhob, damit er dem Vater Kußhände zuwerfen konnte. Jeden Tag kam sie, so schwer ihr in ihrem Zustand der Gang auch wurde, und obgleich sie arm war und kaum eine Handvoll Assignaten an Bestechungen wenden konnte, fand sie doch immer wieder Mittel und Wege, um dem Manne ein Zettelchen, eine Blume oder einen kleinen Leckerbissen zukommen zu lassen. Eines Tage aber blieb sie aus und auch am zweiten und dritten, und nun vergaß Thurnes sogar seinen »Cinna«, wanderte wie ein ruheloser Geist von Angst und quälenden Vorstellungen befallen hin und her. Endlich, am vierten Tage, erhielt er Nachricht, daß sie abermals mit einem Knaben niedergekommen war, und daß es ihr und dem Kinde gut gehe. An diesem Tage sah Adalbert zum ersten Mal eine Träne in Thurnes' Augen …

Wie in alten Tagen sprachen sie jetzt oft stundenlang von all den großen Dingen, die sie bewegt, und die jetzt ihr Geschick entschieden hatten. Sprachen davon und merkten, wie weit sie sich voneinander entfernt hatten. Thurnes schüttelte den Kopf über Adalberts Enttäuschung und innere Wandlung und dachte bei sich: »Fürstenpack bleibt immer das gleiche! Ich habe ihm wohl den Weg zeigen können, er aber war nicht fähig ihn bis zu Ende zu gehen. Armseliger Mensch, der einmal der Freiheit ins Angesicht gesehen hat und sich wieder von ihr abwenden kann!«

Da ihm sein Anklageakt noch immer nicht zugestellt war und seine Sorge um das Drama wuchs, begann er, es aus dem Kopfe neu zu entwerfen und war nun so beschäftigt, daß er keine Muße mehr hatte, um mit Adalbert Gespräche zu führen, und er merkte nicht einmal, wie die Zeit entschwand. Mitten in die Arbeit hinein kam aber dann sein Prozeß und seine Verurteilung. Adalbert war tief erschüttert, er aber verlor seines Ruhe und seine Zuversicht nicht.

»Beklage mich nicht, ich war ein glücklicher Mensch, ich habe Geburtshelfer der Freiheit sein dürfen! Erstürmer der Bastille – das wird über das Massengrab hinleuchten, in das sie mich morgen werfen! Die Freiheit wird siegen, denn sie ist unsterblich. Alles andere ist nur ein Übergang!«

Dann wurde sein Gesicht traurig, und seine Stimme zitterte ein wenig:

»Wenn du wieder hinauskommen solltest, dann sieh dich um die Meinen um. Die arme Angelika! Den Kleinen, den ich nie gesehen habe, soll sie nach mir Brutus nennen! Und sie soll die Kinder in meinem Sinne erziehen. Kämpfer für die Freiheit und gegen die Verdummung durch Tyrannen und Pfaffen! Und vor allem forsche nach, was mit meinem Drama geworden ist! Wahrhaftig, jetzt bedaure ich, daß ich an kein Jenseits glaube, aus dem abgeschiedene Geister wiederkehren können, sonst käme ich aus Hölle oder Himmel zurück, um es den Kanaillen zu entreißen!«

Er bestieg den Karren, als ginge es zu einer Spazierfahrt, rief Adalbert noch einmal zu: »Denke an Angelika und die Kinder und vergiß ja meinen »Cinna« nicht!« Als der Karren vom Gefängnishof auf die Straße rollte, rief Thurnes mit lauter Stimme: »Es lebe die Republik! Es lebe die Freiheit!« Adalbert weinte fassungslos – –

Immer tiefer schritt das Jahr in den Blütenmonat hinein, und Gefangene, die neu ankamen, brachten Wunderberichte vom »Fest des höchsten Wesens«, das an einem strahlenden Junitage stattgefunden hatte. Gleich einem Meer war eine unabsehbare Menschenmenge um Robespierre hergeströmt, der mit lauter, aber vor Ergriffenheit bebender Stimme die Festrede gehalten und mit der Fackel der Wahrheit die Statue des Atheismus verbrannt hatte, aus der alsbald die Bildsäule der Weisheit hervorgestiegen war, die mit der rechten Hand zum Himmel empor wies. Es war ein Triumphtag gewesen, wie er ihn nie zu träumen gewagt und während die Menge dankbar und jubelnd um ihn her wogte, während Jüngerinnen Théot's vor ihm niederknieen wie von einem Heiligenbilde und seine Hände küßten, hielt er den symbolischen Strauß aus Blüten, Ähren und Früchten, den nach seinem Wunsch Eleonore für ihn gebunden hatte. Als er ihr wenige Tage vor dem Feste diesen Wunsch anvertraut und gesagt hatte, daß er seinen Feststrauß nur aus der Hand einer guten Patriotin empfangen wollte, war sie tief errötet und kaum imstande gewesen, ihre Bewegung zu verbergen. Nun war es ja offenbar, daß auch er an sie dachte, wie sie an ihn, nun würde endlich die Stunde kommen, in der er das Wort sprach, auf das sie schon so lange wartete. Nun mußte ja seine große Sendung bald erfüllt sein und dann das stille Leben kommen, von dem er so oft geträumt und gesprochen hatte, das Leben auf dem Lande, an der Seite einer geliebten Frau, die ihm viele und blühende Kinder gebar. Und diese Frau würde Eleonore heißen – Da sie den Strauß wand, streichelte sie jede Ähre, küßte jede Blume, als wäre sie der Mund, nach dem sie verlangte, und gläubig wartete sie auf den Tag, der für sie noch schöner sein sollte, als das Fest des höchsten Wesens.

Tagelang wurde in den Gefängnissen immer wieder von diesen Fest und dem für alle unbegreiflichen Triumph des neuen Propheten gesprochen, dann aber kamen wiederum neue Gefangene, und sie brachten neue, andere Berichte. Die Stadt begann wieder einmal zu gähren. Gerüchte liefen um von einer weitverzweigten Verschwörung, und Robespierre dachte schon an eine »Reinigung«, die an Opfer und Schrecken alle vorhergegangenen übertreffen mußte. Der halbe Konvent, hieß es, sei stark kompromittiert, und auf der Liste der Verschworenen stünden Namen, die bislang als unverletzlich gegolten hätten. Eine lange, eine unabsehbar-lange Liste würde der Unbestechlichkeit dem Revolutionstribunal vorlegen – – Doch die Tage gingen hin und nichts regte sich. Abermals drangen Gerüchte von draußen herein, die anders, dafür aber absonderlich genug lauteten. Robespierre ging nicht mehr in den Konvent. Robespierre war nur noch auf einsamen Wegen zu sehen, starrte mit trübem Gesicht und stechendem Blick jeden Vorübergehenden an, lief wie gehetzt weiter, wenn einer den Mut fand, diesen Blick zu erwidern. Was war mit ihm? Warum mied er Wohlfahrtsausschuß und Konvent? Plante er so Schreckliches, daß er die große Einsamkeit bedurfte, um es auszudenken?! Oder hatte ihm die Nähe der Gottheit den Sinn verwirrt, daß er die Gemeinschaft der Menschen nicht mehr ertrug – –?

Niemand wußte Antwort. Die Karren aber fuhren zum Richtplatz heute wie gestern und morgen, und die Stadt lag still wie eine Sterbende, überstrahlt von der heißen Junisonne und dem Abglanz des großen Festes.

*


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