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Die Herzogin-Mutter und der Abbé saßen mit ernsten Gesichtern beisammen und waren in die Nachrichten aus Frankreich vertieft, die sie teils durch Briefe empfangen hatten, teils aus französischen und deutschen Blättern ersahen. Die Herzogin-Mutter griff sich an den Kopf und fragte:
»Kann man sich das vorstellen, lieber Abbé. Ach, Seine Majestät ist zu gütig, zu nachgiebig. Wäre ich an seiner Stelle, ich würde diesem aufsässigen Volk gegenüber eine ganz andere Politik verfolgen. Ich ließe mir keine Vorschriften machen und mir nicht aufs neue Minister aufdrängen, die ich in Ungnade entlassen habe, wie diesen Herrn Necker. Und dieser Necker, dieser bürgerliche Bankier, wagt es auch noch Bedingungen für seine Rückkehr zu stellen. Und was für Bedingungen, – nein, ich verstehe Seine Majestät nicht, und beklage ihn von Herzen, daß er niemanden zur Seite hat, der ihm den Widerstand steift. Auch die arme Königin scheint nicht Macht genug gegen die Anmaßung des Volkes zu haben –«
Sie schwieg ein wenig und dachte, daß in Frankreich alles anders sein könnte, wenn es ihr vergönnt wäre, den König in diesen schweren Tagen zu beraten …
Auch der Abbé schwieg. Sein Gesicht hatte jeden Ausdruck von Spott verloren, war unruhig und sorgenvoll. Gewiß, Hoheit hatten wie immer Recht, wenn sie meinte, daß der König zu nachgiebig sei, aber der Abbé, der nicht nur ein fröhlicher und galanter, sondern auch ein gelehrter Herr war, kannte die Geschichte seines Landes genau und wußte, daß »wie Gott in Frankreich« nur bedingt Geltung hatte. Immerfort schwälte es bald hier, bald dort, und wie man sich auch mühte, Asche auf die Glut zu streuen, so züngelte doch immer wieder an allen Ecken und Enden eine Flamme hervor, die freilich schnell wieder erstickt wurde. Aber nur Toren, zu denen der Abbé nicht gehörte, konnten sich darüber täuschen, daß das lachende, fröhliche Frankreich das Lächeln nur auf den Lippen trug, und unterirdisch von Feuerströmen durchflossen war. Ehedem, da der Abbé über den Bezirk von Versailles und Marly nicht hinausgekommen war, hatte auch er an dies ewige Lächeln geglaubt, seitdem er aber in der Fremde lebte, hatte sich sein Gesichtsfeld geweitet, und eben, weil er nicht mehr so dicht neben den Dingen stand, wußte er, daß sie nicht so einfach zu benennen oder zu ersticken waren, wie die Herzogin-Mutter meinte. Diese sagte:
»Eine feste Hand ist alles. Hätte Seine Majestät eine feste Hand, so würde er niemals nachgegeben haben, weder dem Pöbel noch diesem Herrn Necker!«
Nun huschte doch wieder ein kleines Spottlächeln über das Vogelgesicht des Abbés.
»Gewiß, Hoheit, die feste Hand tut alles. Wie aber, wenn auch die Gegenpartei eine feste Hand hat?!«
Die Herzogin beantwortete diesen Einwurf nicht. Sie meinte:
»Seine Majestät wird also durch Herrn Necker die Reichsstände einberufen, was sicherlich zu nichts anderem führen wird, als zu neuem Zwist und neuen Mißhelligkeiten. Diese Einberufung der Reichsstände wird ein Unglück geben, denken Sie an mich, Abbé!«
Während man so in den Gemächern der Herzogin-Mutter voll Unruhe und Unmut war, jauchzte der Bibliothekar Melchior Thurnes.
»Necker zurückberufen, die Reichsstände vor der Einberufung, – es ist der erste Sieg des Volkes, aber welch ein Sieg! Es ist nur ein Übergang, ist die erste Brücke, die zur Freiheit führt, aber eine Brücke, die nicht einstürzen kann, denn ihre Stützpfeiler sind der Wille des souveränen Volkes!«
Verschiedenartig war also der Eindruck, den die Nachrichten aus Paris im Schlosse hervorriefen, aber an Stärke glichen sie sich, und beim letzten Ministerrat im alten Jahre hielt der junge Herzog, der sonst meist schweigsam dasaß, um der Meinung seiner Mutter höflich beizupflichten, eine kleine Ansprache, die Erstaunen hervorrief. Er sagte ungefähr: »So befriedigend auch die innerpolitischen und wirtschaftlichen Zustände unseres geliebten Landes sind, so dürfen wir doch nicht verfehlen, den Blick über seine Grenzen hinauszurichten, dürfen uns nicht verhehlen, daß in Frankreich sich vielleicht Dinge vorbereiten, die geeignet sind, die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf sich zu ziehen. Die möglichen politischen Folgen gehören natürlich nicht in den Kreis unserer Erwägungen, sondern bleiben der Weisheit des allergnädigsten Herrn, des Kaisers in Wien überlassen, aber dennoch dürfen wir uns nicht blind stellen, wenn vielleicht schon in Bälde Frankreichs große Schicksalsstunde schlägt, müssen Ohren und Herzen offen halten, damit wir den Glockenschlag nicht überhören und ihm so folgen, wie es Zeit und Menschlichkeit gebieten.«
Die Minister saßen mit erstarrten aber sehr ehrfurchtsvollen Mienen, verstanden nicht ganz, wo der junge Herzog eigentlich hinaus wollte. Die Herzogin-Mutter lächelte zuerst nachsichtig, als spräche ein Kind, allmählich aber wurde sie unruhig, obgleich sie es nicht merken ließ. Seit sie die letzten Nachrichten aus Frankreich gelesen hatte, war sie argwöhnisch, witterte überall Auflehnung und verhängnisvolle neue Ideen und verstand darum die Rede des Sohnes besser als die altbewährten Minister. Diese dachten nur: »Schwer ist es, einem jungen Herrn zu dienen, der unverständig daherredet und dem man doch nicht widersprechen darf.« Und als Adalbert seine Rede mit den Worten geschlossen hatte: »Wenn wir dann zu neuen, großen Aufgaben berufen sein sollten, dann vertraue ich auf Ihre Mithilfe, die Sie mir bis zur Stunde nie versagt haben, und mit Ihrer Hilfe hoffe ich die Aufgabe zu lösen, die mir die Vorsehung bestimmt hat, so wahr mir Gott helfe!«, gingen ihre Gedanken weiter: »Ja, ja, so wahr mir Gott helfe!« »Bei allem, was die hohen Herrn unternehmen, soll Gott herhalten, aber wenn die Karre im Dreck steckt, gibt man uns die Schuld.«
Unvermutet und schnell stand schwerere Sorge um das Schloß, als die französischen Angelegenheiten. Der Herzog hatte sich seit einigen Tagen unwohl gefühlt, viel gehustet und war dann plötzlich von heftigem Schüttelfrost und hohem Fieber befallen worden. Nun lag er bald bewußtlos, bald phantasierend zwischen Tod und Leben und gleich einem Gespenst ging die Erinnerung an seinen Vater, den schwindsüchtigen Erbprinzen um. Im ganzen Lande herrschte Bestürzung und Furcht, in allen Kirchen stiegen Fürbitten empor. Sogar Karl Leopolds Vater kam mit seinem Sohne angefahren, um sich mit betrübter Miene nach dem Befinden seines teuren Herrschers und Vetters zu erkundigen. Als sie auf der Heimfahrt wieder im Wagen saßen, sprachen sie zunächst kein Wort, sondern jeder blieb in seinen Gedanken versunken. Aus ihnen heraus meinte dann der Agnat bedächtig, als wäge er sorgsam jedes Wort:
»Ich denke, wir lassen nun die Equipagen frisch lackieren und das Wappen am Kutscherschlag neu aufmalen. Es sind Kleinigkeiten, aber den Einzug wollen wir in unseren eigenen Equipagen halten. Es sieht besser aus –«
Karl Leopold nickte und dachte an etwas anderes. Er dachte an tollkühne Nachtritte, die er machen, an verwegene, lustige Schliche, die er ersinnen mußte, um für ein paar Stunden heimlich die hübsche Comtesse in den Armen zu halten, die nicht nur allen mütterlichen Ohrfeigen, sondern auch Tod und Teufel getrotzt hatte, um an seinem Herzen zu liegen und zu hören, daß sie sein herzliebster Schatz sei …
Die Herzogin-Mutter wandte in diesen Tagen keinen einzigen Gedanken mehr an Frankreich und die Reichsstände. Sie beugte sich über den kranken Sohn, sah, wie das Fieber diesen zarten Körper zerfraß, fand Schmeichelworte, deren sie sich längst entwöhnt hatte, war in Verzweiflung, wenn sie bedachte, daß dies junge Leben vor ihr vielleicht schon morgen erloschen sein konnte. Liebe rang mit dem Tode und daneben Ehrgeiz und Haß gegen die lauernden Verwandten, denen sie von den scheinbar betrübten Gesichtern abgelesen hatte, was sich hinter ihnen barg. Aber sie hatten kein Glück, denn nach langen, bangen Tagen trat die Krise ein, von der Tod oder Leben abhing, und sie wandte sich der Sonnenseite zu, und der Hofmedikus durfte der tief erregten Mutter mitteilen, daß ihr Sohn gerettet war. Nun lag der Herzog fieberfrei in tiefem Schlaf und gesundem Schweiß und schlief in die Genesung hinein, die allerdings nur langsam voranschritt. Nach etlichen Wochen saß er dann blaß, abgemagert, still und ernst am Fenster, durch das die Sonne hereinschien, ließ ihre Strahlen auf seinen abgezehrten Händen spielen, spürte und dachte nichts weiter, als daß das Leben wunderschön sei. Seine Mutter kam, küßte ihn, fand, daß er heute besser aussähe als gestern, und er schmiegte sich an sie, wie er es nie zuvor getan. O es tat gut, sie zu fühlen, zu denken, daß es der Leib war, der ihn getragen, daß es ihr Blut war, das ihn, da er noch ungeboren, genährt hatte … Mutter und Kind, Erde und irdisches Geschöpf, – dies war doch der tiefe und letzte Sinn alles Lebens, und in dem Drang, sich an die Erde zu klammern, kam ihm jetzt die Sehnsucht nach einem Kinde, nach einem Sohn! In den langen Stunden der Genesung, da alles so weich und rührend und schön erschien, dachte er gern darüber nach, wie das wohl wäre, wenn er einen Sohn hätte, den er ganz nach den Grundsätzen des »Emile« erziehen wollte. Emile, – ach ja, wie eine Erinnerung aus weiter Ferne dämmerte dies Buch in ihm auf, verwob sich mit dem Sohne, von dem er träumte, wie ein großes Kind, das mit einem kleinen spielt …
Auch Friederike kam. Die Herzogin-Mutter hatte sie hergerufen. Die Erbfolge mußte endlich gesichert, dem Hof und dem Lande durften nicht immer wieder Sorge und Ängste zugemutet werden, wie diese letzten Monate sie gebracht hatten. Friederike kam, saß bei Adalbert, zog ihn mit ihrem unbefangenen, fröhlichen Wesen aus seiner vergrübelten Ernsthaftigkeit heraus, und eben weil er so ernsthaft war, wirkte sie neben ihm sonnig und übermütig wie immer, und niemand merkte, daß ihre Heiterkeit etwas Gezwungenes hatte und daß in ihrem frischen, hübschen Gesicht jetzt ein kleiner, schmerzlicher Zug stand, der früher nicht dagewesen war. In aller Stille, unter jauchzendem Glück und heimlichen Tränen hatte sie ihren Roman erlebt: sie hatte sich einer großen Leidenschaft hingegeben und war nur ein kleiner Zeitvertreib gewesen. Leichter noch als irgendeine andere konnte man solch arme, wohlbehütete Comtesse wegstoßen, die immerfort Contenance haben mußte, die keinem Menschen sagen durfte, was geschehen war, wenn sie nicht unverzüglich in die Trostlosigkeit eines Stiftes gesteckt werden sollte. Friederike hatte, so schwer es auch zuweilen gewesen, niemals die Contenance verloren; die Disziplin, zu der die strenge Mutter sie erzogen, hatte sich bewährt, so daß nichts von ihrem schmerzvollen Erlebnis Kunde gab als die leichte Verschleierung ihrer Fröhlichkeit, die der Mutter vernünftig und dem Herzog reizvoll erschien. In der Weichheit der Genesungsstimmung, in dem neu erwachten Drang nach Leben und in sehnsuchtsvoller Anklammerung an die Erde, gab er willig der Mutter nach, und der Oberst und seine Frau samt allen Kindern wurden herbeigerufen um die Verlobung Adalberts mit ihrer Tochter Friederike zu feiern. Wie vorher Sorge und Unruhe, so herrschte nun überall Freude und Beruhigung. Im ganzen Lande vernahm man mit Befriedigung, daß der junge Herrscher, der Erbfolge eingedenk, zu Heirat und Familiengründung schritt.
Adalbert war glücklich, wie nie zuvor in seinem Leben, Nun würde er nicht mehr ein Liebchen haben, sondern eine Frau, eine entzückende junge Frau, die ihm, ihm ganz allein gehörte, die er nach seinem Willen formen konnte, die er in seine innersten Gedanken einweihen wollte, bis sie die Gefährtin war, die er sich für die Zukunft wünschte. Der Zwang der Etikette verbot ihm jetzt jedes Alleinsein mit ihr, und so konnte er ihr nur immer flüchtig die Hand küssen, sie mit Blumen und kostbaren Geschenken überschütten, die das unsägliche Staunen ihrer Familie und bei der Braut eine Verwirrung hervorriefen, die ihm überaus reizend erschien. Weil er eben nie allein mit ihr war, fiel es ihm nicht auf, daß sie immer stiller und scheuer wurde, je näher der Hochzeitstag rückte, und wenn es ihm einmal scheinen wollte, daß die Friederike von heute dem übermütigen Mädchen früherer Tage nicht mehr glich, dann dachte er, daß wahre Mädchenhaftigkeit eben so beschaffen sein müsse, und ein kleines Herrengefühl des Stolzes und der Lust überkam ihn, daß er, gerade er, diese Blüte zum Leben und zur Liebe wachküssen sollte …
In diesen Tagen kam unvermutet der Bibliothekar Thurnes in großer Erregung zu ihm gestürzt und bat um seine sofortige Entlassung. Adalbert war betroffen.
»Entlassung? Fühlen Sie sich bei uns nicht mehr wohl oder haben Sie etwa einen Ruf nach auswärts bekommen?«
Ja, Thurnes hatte einen Ruf nach auswärts bekommen, wenn auch einen anderen, als der Herzog meinte. Thurnes hielt ihm aufgeregt ein Zeitungsblatt und einen enggeschriebenen Brief hin:
»Lesen Sie! Wenn Sie gelesen haben, werden Sie begreifen, daß ich nicht mehr bleiben kann, daß ich fort muß!«
In Paris war Großes geschehen. Da die Reichsstände trotz heftigen Widerstand des dritten Standes, der Bürgerlichen, bei der alten Ständeordnung beharren wollten, hatte sich kurze Zeit nach der Eröffnung der Reichsstände der dritte Stand von Adel und Geistlichkeit getrennt und sich als die Vertreter des französischen Volkes, als Nationalversammlung, konstituiert. Die Krone wollte ihnen mit Gewaltmitteln wehren, ließ den Saal sperren und ausräumen, in dem sie ihre Versammlung halten wollten, sie aber ließen sich nicht abschrecken, nicht zerstreuen, vereinten sich in der Halle eines Gebäudes, das ehedem dem Hof zum Ballspiel diente, und schwuren mit heiligem Eide, daß sie nicht auseinandergehen würde, ohne dem Lande eine Verfassung gegeben zu haben. Sie erklärten die Nationalversammlung und ihre Mitglieder für unverletzlich und schickten Botschaft an Adel und Geistlichkeit mit der Aufforderung, sich der Nationalversammlung anzuschließen. Bis hierher wäre alles nur Auflehnung eines einzelnen Standes gewesen, – nun aber kam das Unerwartete, das Aufrüttelnde. Der größte Teil der Geistlichkeit und ein großer Teil des Adels, an seiner Spitze des Königs Vetter, der Herzog von Orléans, schlossen sich dem dritten Stande an, und Frankreich, das gestern noch streng in Stände geschieden war und eigentlich nur Adel und Geistlichkeit als volle Menschen hatte anerkennen wollen, besaß mit einem Male eine wirkliche Volksvertretung, und der Bürger führte das Wort. Melchior Thurnes jauchzte.
»Habe ich es nicht immer gesagt, daß aus dem Westen das Licht kommt?! Es ist ja noch nicht das ganz große, noch nicht die Fackel Jean Jacques, die allen Völkern den Weg weist, aber es ist ein Anfang, ein Übergang! Nur ein Übergang, – das Reich Jean Jacques steht noch anders aus und wird noch kommen! Ich aber darf es nicht versäumen, wie ich ihn versäumt habe. Ich muß dabei sein, wenn es geboren wird, ich muß dabei sein, wenn dies Land, das bis zur Stunde ohnmächtig unter den Füßen eines Tyrannen lag, sich selbst Gesetze schreibt und sich selber Recht spricht! Es ist das erste Volk, das sich in Europa zur Freiheit erhebt, und ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich diese Erhebung nicht miterlebt hätte. Ich muß nach Paris. Ich muß, und wenn ich hier mit Stricken und Tauen festgebunden wäre. Mir brennt der Boden unter den Füßen. Jeder Augenblick, den ich noch hier bleibe, ist eine Einbuße an Glück, die ich nie mehr einholen kann!«
»Ich kann Sie natürlich nicht halten –«
»Halten?! O, Adalbert, wenn Sie in der Tat jemals ein Schüler Jean Jacques waren, wenn Sie jemals wahrhaftig und von Herzen an ihn geglaubt und geschworen haben, ihm Nachfolge zu leisten, dann kommen Sie jetzt mit mir! Lassen Sie all das Kleine hier hinter sich und fahren Sie mit mir dem Großen entgegen, das die Welt nur einmal sehen wird! Was wollen Sie hier in Ihrem kleinen Lande, das über kurz oder lang dem großen Beispiel folgen muß! Es bleibt Ihnen keine Zeit mehr, es nach Büchern und Lehren für die kommenden Ereignisse vorzubereiten, aber Sie können sehen, können durch Anschauung lernen, wie Völkerfreiheit und Völkerglück aussehen! Versäumen Sie die große Lernstunde nicht, kommen Sie mit mir und kehren Sie zurück als ein freier Mann, der über ein freies Volk nur dann herrschen will, wenn es ihn nach eigenem Willen über ihn gesetzt hat!«
Melchior Thurnes sprach so leidenschaftlich, daß die alten Träume, die in der Bräutigamsstimmung mehr und mehr verblaßt waren, nun wieder Farbe und Macht gewannen, so daß der Herzog wirklich für eine Weile meinte, auch er müsse bei der Geburtsstunde von Frankreichs Freiheit gegenwärtig sein. Doch diese Stimmung entschwand bald, und Melchior Thurnes rüstete sich seine Reise allein anzutreten und dachte bei sich:
»Sie sind alle gleich! Keiner von ihnen ist für die Freiheit geboren! Keiner von ihnen kann sich in Wahrheit über die Erde erheben. Irgend ein Weib tritt ihnen in den Weg, und alle Ideale sind vergessen!«
Er nahm sich kaum Zeit von seinem bestürzten Vater Abschied zu nehmen, dem er sein Reiseziel verschwieg. Er eilte, er flog seinem Ziele entgegen, denn ihn erwartete das schönste Weib der Welt, – die Freiheit!
Bald nach seiner Abreise wurde die Hochzeit des Herzogs gefeiert. Es gab Gepränge und Feste, wie man sie hierzuland noch nie gesehen hatte, und die entferntesten Verwandten der herzoglichen Familie kamen mit müßiger Dienerschaft und vielem Gepäck herbei, nur Karl Leopold blieb fern. Sein Vater läge todkrank, ließ er sagen, und da zieme es sich auch für den Sohn nicht, zu einem so frohen Feste, wie eine Hochzeit sei, zu kommen. Die Herzogin-Mutter lächelte spöttisch über die Absage hin.
In der vergoldeten, von acht Schimmeln gezogenen Brautkutsche fuhr der Herzog mit seiner jungen Frau aus der Kirche zum Schlosse zurück. Friederike trug über dem Schleier ein Krönlein aus Diamanten, war jetzt Herzogin und Hoheit, und die Mutter, die sie noch kürzlich geohrfeigt hatte, wich ehrfürchtig zur Seite, wenn die gekrönte Tochter an ihr vorüberschritt. Dann kam das große Festmahl mit unzähligen Schüsseln, köstlichen Weinen und Sekt und Trinksprüchen, die weniger köstlich waren und dann der Ball, den der Herzog mit seiner jungen Frau eröffnete, die immer stiller und blasser wurde, je weiter die Nacht voranschritt. Nun neigte sich auch die Tanzlust ihrem Ende zu, das Strumpfband der Braut wurde verteilt, die Pferde, die das Hochzeitspaar nach Monplaisir bringen sollten, scharrten schon ungeduldig mit den Hufen, und die Lichter im Schlosse wurden allmählich ausgeblasen. Die Herzogin-Mutter war hochbefriedigt. Wenn alles gut ging, konnten vielleicht, noch ehe ein Jahr um war, die Fürbitten für eine glückliche Entbindung der Herzogin beginnen. Umso größer und peinlicher war ihre Überraschung, als der Sohn ihr wenige Wochen nach der Hochzeit mitteilte, daß er sich, sobald die Winterkälte vorüber sei, auf eine Auslandsreise, die ihn vielleicht durch ganz Europa führen würde, begeben wolle. Die Herzogin-Mutter traute ihren Ohren nicht, da sie es vernahm.
»Wie, mein Sohn, jetzt wollen Sie verreisen? Jetzt, da sie eben verheiratet sind und sich ganz Ihrer Familie und Ihrem Lande widmen sollten?!«
Er lächelte ein wenig bitter.
»Mein Land hat mich bis jetzt so wenig benötigt, da es in Ihren Händen, Madame, so gut aufgehoben war. Jeder junge, begüterte Edelmann macht zum Mindesten eine Auslandsreise in seinem Leben, warum sollte ich hinter jungen Edelleuten zurückstehen?!«
»Gewiß, mein Sohn, Sie haben recht, aber es hätte ja keine so große Eile. Sie sind noch so jung. Ihre Flitterwochen sind noch nicht einmal zu Ende –«
»Pflichten gehen über Flitterwochen!«
Die Herzogin-Mutter schwieg und sah den Sohn an. Seine Miene war verschlossen, und in seinem Gesicht lag ein herber Zug, den sie früher nie an ihm bemerkt hatte. Sie begriff, daß in dieser jungen Ehe ein Mißklang war, nahm heimlich Friederike ins Gebet:
»Warum will Ihr Mann durchaus von Ihnen fort?! Warum drängt er jetzt nach dieser Auslandsreise, die ihm früher nie in den Sinn gekommen ist?«
Friederike sagte leise:
»Ich weiß es nicht. Er hat mir keine näheren Erklärungen gegeben.«
»Es ist Ihre Pflicht, ihn zurückzuhalten. Wenden Sie alle Mittel an, die Ihnen irgend zu Gebote stehen. Das Land braucht einen Erbprinzen. Ehe wir nicht diese Hoffnung haben, darf sich mein Sohn nicht für so lange Zeit von Ihnen trennen!«
»Ich habe keine Macht über ihn!«
Die Herzogin-Mutter sah die Schwiegertochter verächtlich an. Und in der herbstlichen Frau erwachte die Erinnerung an die unbegrenzte, geheimnisvolle Macht, die sie einst über ihren Erbprinzen gehabt hatte, und sie wiegte sich in Stolz und Überhebung vor diesem jungen, blühenden Geschöpf, von dem der Mann gleichgültig weglief, kaum daß er es im Arme gehalten hatte …
Friederike blieb in Tränen zurück. Sie fühlte sich elend und toteinsam. Sie hatte keinen Menschen, der wirklich Teil an ihr nahm, keinen, dem sie sich anvertrauen konnte, keinen, der vermittelnd zwischen sie und den jungen Gemahl trat, und der mit verständigem Wort die beiden Menschen zueinander hinführen konnte, die sich voneinander getrennt, kaum daß sie Monplaisir betreten hatten. Was damals vorgefallen war, erfuhr niemand, obgleich auf einen Hilferuf der Herzogin-Mutter die Frau Oberst erschrocken herbeigeeilt kam, die Tochter mit indiskreten Fragen bis aufs Blut peinigte, und den herzoglichen Schwiegersohn mit Bitten bestürmte, die allesamt erfolglos blieben. Denn unverrückbar, unlöschlich-brennend stand in Adalberts Gedächtnis der erste Abend seiner jungen Ehe, und selbst wenn er ganz allein war, wurde er rot vor Scham und Zorn, wenn er seiner gedachte …
Unter dem Tücherschwenken seiner Familie und den Hochrufen des herbeigeströmten Volkes war er damals mit seiner jungen Frau vom herzoglichen Schlosse nach Monplaisir zu den Flitterwochen gefahren. Als sie der Volksmenge entronnen waren und auf der einsamen Landstraße dahinrollten, ergriff Adalbert die Hand seiner jungen Frau, streifte ihr den Handschuh ab, den sie wieder übergezogen hatte, und küßte ihre Finger wieder und immer wieder, obwohl sie kühl und regungslos in seinen Händen lagen und nicht mit der kleinsten Bewegung seine Zärtlichkeit erwiderten. Er merkte es wohl, sah auch, daß Friederike immer blasser, immer verwirrter wurde, je mehr sie sich Monplaisir näherten, aber diese Verwirrung erschien ihm höchst anmutig, und er brannte vor Ungeduld, mit der jungen Frau allein zu sein. Endlich hatte man vor dem Portal gehalten, hatte alle Zeremonien überwunden, die auch hier auf die Neuvermählten warteten, war von Pagen, die Fackeln trugen, in das Gemach der jungen Herzogin geleitet worden, und in stürmischer Verliebtheit eilte Adalbert, die Türen zu verriegeln und sein Glück mit ausgebreiteten Armen an sich zu reißen. Kühl, unbeweglich wie vorhin ihre Finger gewesen, lag Friederike an seiner Brust und duldete es, daß er ihr Gesicht mit Küssen bedeckte, duldete es, aber erwiderte sie nicht. Doch als der verliebte Mann ihr mit zärtlichem Ungeschick die Haften und Bänder des Hochzeitskleides lösen wollte, fuhr sie mit einem Schrei aus seinen Armen auf und floh in eine Ecke des Zimmers zurück … Adalbert stand und starrte sie an. Das war nicht der Schrei mädchenhaften Stolzes gewesen und nicht bräutliche Scham war es, die sie von ihm wegjagte. Die Frau, die da zwischen Angst und Abwehr in die Ecke eines Zimmers gedrückt stand, war ein Weib, das wußte und das Ekel empfand vor der Liebe, mit der ein ihr aufgedrungener Gatte sie umarmen wollte. Einen brutaleren Mann hätte solche Erkenntnis vielleicht zu roher Mißhandlung, vielleicht auch zur Gewalt gereizt, aber Adalbert war nicht brutal, sondern zu gleicher Zeit scheu und stolz, und darum brannte die Demütigung, die er als Mann erlitten hatte, wie ein Backenstreich. Ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Frage zu tun, verließ er das Gemach, um es nie wieder zu betreten … –
An den kommenden Tagen grübelte er viel über das nach, was ihm an jenem Abend begegnet war. Er besaß genug Erfahrung in Liebesdingen, um hinter Friederikens Betragen den andern Mann zu wittern, wenngleich er ihn nicht hätte mit Namen nennen können. Er grübelte und übersah oder wollte die schüchternen Aufmerksamkeiten übersehen, mit denen seine Frau schon am nächsten Morgen sich ihm näherte, denn sie war tödlich erschrocken, daß sie sich von ihrem Gefühl hatte hinreißen lassen und hätte gar zu gern den Riß wieder geschlossen, der zwischen ihr und dem Gatten klaffte. Was sollte denn aus ihr werden, wenn alles blieb, wie es jetzt war?! Wohl ging sie allen Fragen der Mutter und Schwiegermutter aus dem Wege, spielte in stummem Einverständnis mit Adalbert die Komödie einer guten jungen Ehe, aber auf die Länge konnte sie ja doch nicht täuschen, und wenn sie keinen Erben zur Welt brachte, würde sie in aller Augen das nutzloseste Geschöpf von der Welt sein. Sie war verzweifelt über sich selber, doppelt verzweifelt, weil sie keine Seele hatte, der sie sich anvertrauen und bei der sie Rat holen konnte, und bald hörte sie auch auf, ihrem Manne leise entgegenzukommen, weil seine höfliche Gleichgültigkeit sie zurückstieß. Etliche Wochen nach der Hochzeit kam einmal die Herzogin-Mutter zu einer Teevisite, erzählte, daß man am Hofe von der bevorstehenden Vermählung Karl Leopolds mit einer Prinzessin von Bückeburg sprach, behängte ihren Bericht mit allerlei pikantem Klatsch und sah nicht, wie Friederike die Farbe wechselte und nur mühsam ihre Fassung behielt. Adalbert aber sah es und wußte nun, warum seine Frau damals mit dem Gesicht voll Widerwillen vor ihm geflohen war. Er blickte Friederike an, konnte ihr nachfühlen, was in diesem Augenblick in ihr vorging, und Mitleid wollte den Zorn in ihm verdrängen. Das ging aber schnell vorüber, und an Stelle des Mitleids trat eine leise Verächtlichkeit, die ihm den Mund zusammenzog, als hätte er etwas Bitteres verschluckt. Er hätte seine Frau nicht weniger geliebt, wenn sie mit der Erinnerung an eine echte, romantische Liebe in sein Haus gekommen wäre, aber daß ein vornehmes, reines Mädchen seine Blüte diesem brutalen Vetter hingegeben hatte, diesem Frauenjäger, der wahllos jedes Weib wie eine Beute aufgriff und beiseite warf, sobald er sich sattgeküßt hatte, – nein, das konnte er nicht verzeihen. Und über der kühlen Höflichkeit, mit der er bislang seiner Frau begegnet war, lag es jetzt wie der Widerschein jener Empfindung, die sich in Montplaisir an ihrem Hochzeitstage auf ihrem Antlitz gemalt hatte …
Der Winter verging ganz anders, als die Herzogin-Mutter gedacht hatte. Die junge Herzogin blieb fast all die Monate allein in Monplaisir, der Herzog zog ins Schloß, war fast immer einsam, und das Licht in seinen Gemächern brannte oft die ganze Nacht hindurch. Er schrieb und schrieb und ließ sich aus dem Geheimarchiv alle möglichen Schmöker über die Hausgesetze, das Landrecht und ähnliche unheimliche Gegenstände bringen. Dann, als das Frühjahr anhob, rief er einen Ministerrat ein und teilte ihm mit, daß er sich binnen vierzehn Tagen auf die große Reise begeben wollte, die ihn zunächst nach Frankreich führen sollte. Die Herzogin-Mutter, die bislang nicht die geringste Einzelheit über diese Reise vernommen hatte, horchte auf. Frankreich, – o, das war gar nicht so schlimm! Die politischen Nachrichten waren allerdings unerfreulich genug, aber Paris blieb Paris. Die Herzogin-Mutter versank in Hofdamenerinnerungen, sah den Sohn schon, wie er der Königin die Hand küßte und zu ihren intimen Abenden befohlen wurde … Sie erwachte erst wieder, als der Herzog ein großes, mit seinem Wappensiegel verschlossenes Schreiben auf den Tisch legte, das die Aufschrift trug: »An mein Volk.« Er sprach zu den Ministern: »Meine Herren, dies Schreiben vertraue ich meiner erlauchten Frau Mutter und Ihnen an. Es ist so etwas wie mein letzter Wille, und meine erlauchte Frau Mutter sowie Sie müssen mir versprechen, ihn treulich zu erfüllen, wenn ich von meiner Reise nicht mehr heimkehren sollte und Sie statt meiner die Nachricht meines Todes empfangen. Ich bitte Sie, meine Herrn, mir das Wort zu geben, daß Sie nach meinem Gebote handeln werden, und damit ich ganz ruhigen Herzens reisen kann, bitte ich Sie auch noch, Madame (er verneigte sich gegen seine Mutter), und Sie, meine Herren, gemeinsam mit mir zur Bekräftigung Ihres Versprechens das Abendmahl zu nehmen.«
Ein Schweigen entstand. Jeder war ernst und zugleich unruhig, denn jeder fühlte, daß es mit diesem versiegelten Schreiben eine besondere Bewandtnis haben müsse. Die schlanke Hand der Herzogin griff danach, der Herzog aber legte die seine darauf:
»Es wird im Geheimarchiv hinterlegt und erst eröffnet werden, wenn die Nachricht meines Todes eintrifft!«
Die Herzogin-Mutter verlor für einen Augenblick die Fassung:
»Mein Sohn …« stammelte sie, »mein Sohn, Sie sollen nicht von solchen Dingen sprechen!«
Ein kleines Lächeln ging über sein ernstes Gesicht.
»Warum sollen wir nicht von ihnen sprechen? Wir sind alle sterblich, und keiner weiß, wann der Ruf an ihn ergeht!«
Die Herzogin weinte. Adalbert küßte ihr die Hand. Der Ministerrat wurde aufgehoben. Kein Mensch hatte die Herzogin-Mutter jemals so fassungslos gesehen …
So nahmen sie dann gemeinsam zu stiller Stunde in der Schloßkirche das Abendmahl, worauf das versiegelte Blatt in das Geheimarchiv verbracht wurde. Hätten sie seinen Inhalt gekannt, so würden sie sich wohl geweigert haben, ihn durch die heilige Handlung zu bekräftigen, denn dies Blatt befahl: In meiner Abwesenheit führt meine allerdurchlauchtigste Frau Mutter, die einstige Herzogin-Regentin, die Regierung meines Landes. Drei Jahre lang hat mein Volk ihr zu gehorchen, denn sie wird nichts Unbilliges von ihm verlangen. Bin ich nach Ablauf von drei Jahren nicht zurückgekehrt, so ist die Regentschaft als beendet zu betrachten, und Maueranschläge in allen Orten des ganzen Landes sollen dem Volke verkünden, daß es nunmehr frei nach eigenem Ermessen seine Staatsform zu wählen und den Mann, den es für würdig befindet, sein Führer zu sein«.
Die Reisevorbereitungen gingen schnell von statten. Die Herzogin-Mutter wurde offiziell zur Regentin ernannt, Friederike ihrem Schutz übergeben und die Reisepässe auf einen »Herrn von Halmau« ausgestellt. Nur von einem Kammerdiener und einem Kurier begleitet reiste der Herzog über Straßburg nach Paris ab. –
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